Fall Mollath - BGH verwirft Revision

von Prof. Dr. Henning Ernst Müller, veröffentlicht am 09.12.2015

Mit seiner heute bekannt gemachten Entscheidung hat der 1. Senat des BGH die von Gustl Mollath gegen das Urteil des LG Regensburg vom 14. August 2014 eingelegte Revision verworfen, Pressemitteilung.

Die Entscheidung wurde sogleich mit Begründung im Wortlaut veröffentlicht.

Die Ausführlichkeit der Begründung und deren sofortige Veröffentlichung stehen im erstaunlichen Kontrast zur erstmaligen Revision des BGH im Fall Mollath, bei der ein außerordentlich fehlerhaftes und problematisches Urteil des LG Nürnberg-Fürth vom selben Senat einfach ohne nähere Begründung zur Rechtskraft „durchgewunken“ wurde. Immerhin scheint auch der BGH insofern aus dem Fall Mollath „gelernt“ zu haben. Zunächst nur ein kurzer Kommentar, den ich je nach Diskussionsverlauf möglicherweise in den nächsten Tagen ggf. noch ergänzen werde:

Wie ich schon zuvor verschiedentlich geäußert haben, war tatsächlich kaum damit zu rechnen, dass der BGH seine grundsätzliche Linie, der Tenor eines Urteils selbst müsse eine Beschwer enthalten, damit zulässig Revision eingelegt werden kann, gerade bei diesem Fall ändert. Dennoch gab es natürlich auch bei mir die leise Hoffnung, der BGH werde sich mit den sachlichen Einwänden gegen das Urteil, die auch ich noch hatte, auseinandersetzen.

Immerhin kann man den Beschluss angesichts der ausführlichen Begründung nun auch juristisch nachvollziehen, selbst wenn man ihm im Ergebnis nicht zustimmt. Es findet insbesondere auch eine Auseinandersetzung mit dem auch hier im Beck-Blog diskutierten vom EGMR entschiedenen Fall Cleve ./. Deutschland statt: Dort war der EGMR von der Tenorbeschwer abgewichen. Der BGH meint nun, das Urteil im Fall Mollath sei mit Cleve ./. Deutschland nicht vergleichbar, weil im Mollath-Urteil anders als im Cleve-Fall kein direkter Widerspruch zwischen Tenor und  Begründung festzustellen sei.

Enttäuscht bin ich vom letzten Satz der Begründung des Beschlusses, der konstatiert, die Revision sei ohnehin unbegründet gewesen. Dieser Satz ist völlig verzichtbar und gibt dem Leser Steine statt Brot.

Abgesehen von der  Kritik am Urteil des LG Regensburg möchte ich aber noch einmal darauf hinweisen: Der gesamte Fall in seiner Entwicklung und Dynamik ist ein aus Sicht des Dezember 2012 riesiger persönlicher Erfolg für Herrn Mollath und ist auch in seiner langfristigen Wirkung auf die (bayerische) Justiz und den Maßregelvollzug nicht zu unterschätzen.. Das sollte man – bei aller Enttäuschung über die heutige Entscheidung des BGH – nicht vergessen.

Update (14.12.2015): Eine eingehendere sehr kritische Analyse hat nun Oliver Garcia im delegibus-Blog veröffentlicht.

Update 3.3.2016: Die Kommentarspalte ist nach mehr als tausend Beiträgen geschlossen.

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1041 Kommentare

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Nachstehend die allgemeinen, grundsätzlichen gleichwohl sehr bedeutsamen Aussagen von Prof. Nedopil zu forensisch-psychiatrischen Begutachtungen, die er nach der  zwangsmäßigen Beobachtung während des WA-Verfahrens dem WA-Gericht vorgetragen hat:

"Üblicherweise ist bei Unsicherheit, Zweifel und/oder Unwissen die eigene Untersuchung ausschlaggebend, um eine Diagnose und differential-diagnostische Überlegungen zu reflektieren. Wenn Zweifel

verbleiben, gibt es im klinischen, im forensisch-psychiatrischen und im juristischen Bereich unterschiedliche Regeln, wie mit solchen Zweifeln umzugehen ist. Im klinischen Bereich ist die Annahme einer Krankheit meist bis zum Beweis des Gegenteils gerechtfertigt, weil es meist schlimmer ist, eine Krankheit übersehen zu haben, als eine fälschlicherweise eine Krankheit zu vermuten. Eine Verdachtsdiagnose bleibt solange aufrecht zu erhalten, bis sie belegt werden kann oder bis sie widerlegt wird. Stellen Sie sich vor, Sie haben eine Blinddarmentzündung und sie wird übersehen".

Auch im forensisch-psychiatrischen Bereich, bei einer Prognose, ist diese Herangehensweise vom Gesetz vorgesehen. Man kann Patienten nur entlassen, wenn kein Verdacht mehr besteht. Auch hier eine Vorschrift wie ist Zweifeln umzugehen ist. ......... Im Strafrecht gelten für den Umgang mit Zweifeln und Unsicherheiten andere Grundsätze, z.B. „in dubio pro reo“, auf die hier nicht weiter eingegangen werden muss, die aber natürlich von der juristischen Seite her von Bedeutung sein könnten. Es ist aber für alle Beteiligten wichtig, dass sie auch das medizinische Denken kennen, wie mit Verdachtsfällen umzugehen ist.

Im der forensischen Psychiatrie gilt hingegen der Grundsatz, dass Zweifel nicht aufgelöst werden, sondern gegebenenfalls zu Alternativhypothesen und Alternativbeurteilungen führen: Zweifel sind vom forensischen Psychiater offen zu legen. Die Schlussfolgerungen aus den verschiedenen Alternativen, die sich

aufgrund der Zweifel ergeben, sind dem Gericht zu unterbreiten, und Gericht muss aufgrund seiner Kompetenz entscheiden, von welchen Anknüpfungstatsachen es ausgeht und welchen Schlussfolgerungen es dementsprechend folgt. Das gilt allerdings nur begrenzt für Zweifel bzgl. einer Diagnose. Diesbezüglich kann der psychiatrische Fachmann nicht die Entscheidung an den psychiatrischen Laien, also das Gericht, abgeben, da das Gericht ihn gerade wegen der Diagnose als Fachmann beauftragt hat und

 kann der psychiatrische Fachmann es mit seiner Ethik nicht vereinbaren, dass er von einer Begutachtung zurücktritt.

Allerdings hat der Psychiater dann die Anknüpfungs- und Befundtatsachen zu benennen, aufgrund derer er zu der einen Diagnose kommt, und jene, aufgrund welcher er zu seiner Differentialdiagnose kommt oder aufgrund derer er eineDiagnose ausschließt. Das Gericht hat dann zu prüfen, von welchen Anknüpfungstatsachen es selber ausgeht und dann aufgrund dieser Vorüberlegungen eigenständig aufgrund der Vorgaben des Psychiaters eine

Diagnose zu begründen oder zu entkräften.

Die für den konkreten Fall relevante Frage ist aus Sicht des Unterzeichners die große Frage: wer trägt die Last dafür, wenn Zweifel nicht geklärt werden können und der Sachverständige nicht die Möglichkeit hat, mit jenen Methoden, für die er kompetent ist, diese Zweifel aufzuklären, d.h. wenn sich der Betroffene der

Untersuchung entzieht oder sich verweigert.

Aufgrund des Vorgesagten wird erkennbar, dass für den klinisch tätigen Arzt eine sinnvoll begründet Verdachtsdiagnose so lange bestehen kann, bis das Gegenteil bewiesen ist und dass der gutachterlich tätige Arzt seine Zweifel offenlegen und gegebenenfalls Alternativdiagnosen offen legen muss.

"Um diese Überlegungen für den konkreten Fall des Herrn Mollath plastisch darzulegen, kann auf die Aussage der Frau Dr. Krach in ihrer ärztlichenStellungnahme vom 18.09.03 hingewiesen werden. Es ist  aus klinischer Sicht nachvollziehbar, wenn sie den Verdacht einer ernst zu nehmenden psychiatrischen Erkrankung äußert.".............

Kommentar: Zu diesen profunden Ausführungen stellen sich einige Fragen und Bewertungen.

Hat Herr Prof. Nedopil tatsächlich angemessen und überzeugend seine Zweifel o f f e n   gelegt, wie er dies einfordert?

Hätten diese grundlegenden Zweifel nicht dazu führen können oder sogar müssen, dass Prof. Nedopil sich trotz seiner hohen fachlichen Kompetenz  eingestehen muss, dass er retrospektiv nach zwölf Jahren keine verantwortungsvolle psychiatrische Aussage treffen kann? Dies wäre ein eindeutiger, mutiger und auch konsequenter Standpunkt gewesen, der mit seinem Anspruch an ethischer Grundhaltung m.E. notwendig gewesen wäre. Stattdessen, hat er dem LG die Vorlage geliefert für das "nicht ausschließbar". Wie an seinem Vortrag zu erkennen ist, war  sich Prof. Nedopil dieser Problematik aufgrund seiner großen Erfahrung voll bewußt, was es voraussichtlich bedeuten wird, wenn seine Aussage lautet: Kann sein, kann aber auch nicht sein.... und dann strafrechtlich in dubio pro reo angewandt wird, G.M. mit der Verdachtsdiagnose einer anderweitigen seelischen Abartigkeit existenziell schwer belastet und für unzurechnungsfähig gehalten wird. 

Herr Prof. Nedopil gibt vor:

"Im klinischen Bereich ist die Annahme einer Krankheit meist bis zum Beweis des Gegenteils gerechtfertigt, weil es meist schlimmer ist, eine Krankheit übersehen zu haben, als eine fälschlicherweise eine Krankheit zu vermuten. Eine Verdachtsdiagnose bleibt solange aufrecht zu erhalten, bis sie belegt werden kann oder bis sie widerlegt wird."

Es besteht der nachhaltige Eindruck, dass Prof. Nedopil diesen klinischen Grundsatz gleichwohl auch im Psychiatrisch-Forensischen angewandt hat.

Prof. Nedopil rechtfertigt, das unprofessionelle und auch beanstandete Fehlverhalten von Frau Dr. K. eine Verdachtsdiagnose und ein Attest ausgeschrieben zu haben für G.M., den sie weder persönlich  kannte noch untersucht hat. Zudem hatte die Nebenklägerin diese Ärztin eines öffentlich-rechtlichen Krankenhauses in Geldgeschäften beraten.

Die wenig lebensnahe, eher künstliche Unterscheidung zwischen einer klinisch-psychiatrischen Beurteilung und einer forensisch-psychiatrischen Unterscheidung  wird m.E. besonders deutlich, dass die Psychiatrisierung und Unterbringung von G.M. fatalerweise aufgrund dieses unseriösen, anmaßenden "klinischen" Attestes von Frau Dr. K. seinen Anfang genommen hat.

 

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Herr Prof. Nedopil gibt vor:

"Im klinischen Bereich ist die Annahme einer Krankheit meist bis zum Beweis des Gegenteils gerechtfertigt, weil es meist schlimmer ist, eine Krankheit übersehen zu haben, als eine fälschlicherweise eine Krankheit zu vermuten. Eine Verdachtsdiagnose bleibt solange aufrecht zu erhalten, bis sie belegt werden kann oder bis sie widerlegt wird."

Woher haben Sie dieses Zitat? Belege? Warum keine Belege? Kommt mir nicht sonderlich echt vor.

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Die Zitate aus meinem Kommentar kann 'Gast" in der Strate-Doku über den Gerichtstag nachlesen, an dem Herr Prof. Nedopil seine Begutachtung erklärte.

Das Wort "okkult" wurde sicherlich nicht für die Rechtsprechung verwendet, sondern bezieht sich auf fragwürdige psychiatrische-forensische Praktiken !

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Menschenrechtler schrieb:

Die Zitate aus meinem Kommentar kann 'Gast" in der Strate-Doku über den Gerichtstag nachlesen, an dem Herr Prof. Nedopil seine Begutachtung erklärte.

Das Wort "okkult" wurde sicherlich nicht für die Rechtsprechung verwendet, sondern bezieht sich auf fragwürdige psychiatrische-forensische Praktiken !

# Gast: Sie können doch die Aussagen von Prof.N. in der Strate-Doku selbst lesen und sich davon überzeugen......

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Randnotiz - Ein Treppenwitz der Rechtsbegriffe

Menschenrechtler schrieb:

Das Wort "okkult" wurde sicherlich nicht für die Rechtsprechung verwendet, sondern bezieht sich auf fragwürdige psychiatrische-forensische Praktiken !

Im Beck'schen Rechts-Lexikon der Rechtsbegriffe, 2. A. (1996) - ja, so steht es explizit im Titel - gibt es keinen Eintrag "Rechtsbe­griff", der erläutert was einen Begriff zum Rechtsbegriff macht. Ein Schelm, der Böses dabei denkt ....

   Man könnte den Eindruck gewinnen, hier handelt es sich um eine Geheimwissenschaft. Damit ergäbe sich eine interessante Nähe zur okkulten forensischen Psychiatrie, also jener, die ohne zu explorieren und zu untersuchen weiß und damit offenbar über okkulte Erkenntnisquellen verfügt.

Ich meine, das ist auch die Definition für Diagnose aus der Pschyrembel. 

Die Zitate aus meinem Kommentar kann 'Gast" in der Strate-Doku über den Gerichtstag nachlesen, an dem Herr Prof. Nedopil seine Begutachtung erklärte.

Das würde ich gerne mit genauer Fundstelle und Seiten- und/oder Kapitelangabe belegt sehen.

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Wer mit den Fakten und Quellen nicht vertraut ist, muss ja nicht mitreden

Gast schrieb:

Die Zitate aus meinem Kommentar kann 'Gast" in der Strate-Doku über den Gerichtstag nachlesen, an dem Herr Prof. Nedopil seine Begutachtung erklärte.

Das würde ich gerne mit genauer Fundstelle und Seiten- und/oder Kapitelangabe belegt sehen.

Hier sollten Sie alles finden, was Ihnen fehlt:

http://www.sgipt.org/forpsy/Mollath/ipgipt/wa/Ne.htm

 

Im Zusammenhang mit dem Begriff "Begriff" oder "Rechtsbegriff" gibt es überhaupt nichts "okkultes" und auch keine Geheimwissenschaft. Man braucht nur, wie immer, die richtigen Informationen, bzw. die richtigen Kenntnisse. Bis dahin ist und bleibt natürlich jede Wissenschaft für jeden Laien ein Arkanum, ein "Treppenwitz", "geheim" und für Anhänger der Parapsychologie sogar "okkult" und wartet nur auf intensive Beschäftigung damit, bzw. sogar ein Studium.

Rechtsbegriff ist ein zur Darstellung einer
rechtlichen Sollensanordnung verwendeter Begriff
Er kann überwiegend Begriff der besonderen
Rechtssprache oder überwiegend Begriff der
Allgemeinsprache sein. Er kann sehr abstrakt oder
sehr konkret sein.
Innerhalb der R. unterscheidet man vor allem
->deskriptive (beschreibende) und ->normative
(wertungsbedürftige) Tatbestandsmerkmale. Außerdem
stehen neben den bestimmten R. die unbestimmten
R., welche zu ihrer Anwendung einer näheren, durch
->Auslegung zu gewinnenden Bestimmung bedürfen (zB
Gemeinwohl, öffentliche Sicherheit und Ordnung,
öffentliches Interesse), wobei im Falle von
wertungsbedürftigen unbestimmten R. nicht nur ein
Ergebnis gefunden werden kann, sondern wegen des
notwendigerweise mit ihnen verbundenen
Beurteilungsspielraums mehrere verschiedene
Ergebnisse möglich sind (zB Eignung eines Kindes
für höhere Schule), was wiederum eine
Einschränkung des Umfangs der gerichtlichen
überprüfung nach sich zieht.

Aus: Deutsches Rechtslexikon, 3. A., Beck, 2001

Wenn man genaueres wissen will, ziehe man theoretische Literatur oder Ausbildungsliteratur zu Rate. Lesenswert z. B. Rüthers u. a., Rechtstheorie, insbes. § 5 "Recht und Sprache". Der berühmteste Satz lautet wohl:
"Der Begriff des Staates setzt den Begriff des Politischen voraus" (Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen)

Erkenntnungsmerkmal eines Rechtsbegriffs

Das Sie anscheinend so gut Bescheid wissen, wird es Ihnen sicher möglich sein, anzugeben, woran man den Rechtsbegriff im Unterschied zu anderen erkennt und auch eine oder mehrere Quellen der Definitionen von Rechtsbegriffen angeben können. Interessant ist dabei auch, wie Lücken ausgewiesen und behandelt werden, vielleicht sogar am Beispiel "nicht ausschließbar".

Dr. Rübenach schrieb:

Im Zusammenhang mit dem Begriff "Begriff" oder "Rechtsbegriff" gibt es überhaupt nichts "okkultes" und auch keine Geheimwissenschaft. Man braucht nur, wie immer, die richtigen Informationen, bzw. die richtigen Kenntnisse. Bis dahin ist und bleibt natürlich jede Wissenschaft für jeden Laien ein Arkanum, ein "Treppenwitz", "geheim" und für Anhänger der Parapsychologie sogar "okkult" und wartet nur auf intensive Beschäftigung damit, bzw. sogar ein Studium.

Rechtsbegriff ist ein zur Darstellung einer
rechtlichen Sollensanordnung verwendeter Begriff
Er kann überwiegend Begriff der besonderen
Rechtssprache oder überwiegend Begriff der
Allgemeinsprache sein. Er kann sehr abstrakt oder
sehr konkret sein.
Innerhalb der R. unterscheidet man vor allem
->deskriptive (beschreibende) und ->normative
(wertungsbedürftige) Tatbestandsmerkmale. Außerdem
stehen neben den bestimmten R. die unbestimmten
R., welche zu ihrer Anwendung einer näheren, durch
->Auslegung zu gewinnenden Bestimmung bedürfen (zB
Gemeinwohl, öffentliche Sicherheit und Ordnung,
öffentliches Interesse), wobei im Falle von
wertungsbedürftigen unbestimmten R. nicht nur ein
Ergebnis gefunden werden kann, sondern wegen des
notwendigerweise mit ihnen verbundenen
Beurteilungsspielraums mehrere verschiedene
Ergebnisse möglich sind (zB Eignung eines Kindes
für höhere Schule), was wiederum eine
Einschränkung des Umfangs der gerichtlichen
überprüfung nach sich zieht.

Aus: Deutsches Rechtslexikon, 3. A., Beck, 2001

Schön, dass Sie in einer der zahlreichen Beck-Bücher eine Auflage gefunden haben, in der auch etwas zum Rechtsbegriff steht (2001). Das bereichert meine Sammlung der Vieflfalt. Allerdings handelt es sich um eine sehr allgemeine und wenig präzise Umschreibung. Aber immerhin. Es ist ein Anfang.

Quote:

Wenn man genaueres wissen will, ziehe man theoretische Literatur oder Ausbildungsliteratur zu Rate. Lesenswert z. B. Rüthers u. a., Rechtstheorie, insbes. § 5 "Recht und Sprache". Der berühmteste Satz lautet wohl:
"Der Begriff des Staates setzt den Begriff des Politischen voraus" (Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen)

Dieser Satz trägt zur methodologischen Klärung zwar gar nichts bei. Aber Rüthers ist eine gute Adresse. Ich werde die aktuelle Ausgabe mal zum Rechtsbegriff durchsehen und dann wieder berichten.

 

 

 

 

 

 

Nachtrag: Hier kann man Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen finden und nachlesen.

Ich hatte nicht vor, mit Ihnen ein Webinar zur Rechtsphilosophie und Rechtstheorie zu veranstalten. Das könnte ich auch gar nicht, weil meine Kenntnisse nicht ausreichen. Sie können, wenn Sie wollen, in so ziemlich allen Büchern zur Rechtsphilosophie und Rechtstheorie nachlesen, und sich vertiefen, u. a. bei Larenz, Zippelius, bei Heinrich Henkel und wo immer sie dazu lernen wollen, wenn Sie wollen...

Noch immer unbeantwortet: woran erkennt man einen Rechtsbegriff?

Dr. Rübenach schrieb:

Ich hatte nicht vor, mit Ihnen ein Webinar zur Rechtsphilosophie und Rechtstheorie zu veranstalten. Das könnte ich auch gar nicht, weil meine Kenntnisse nicht ausreichen. Sie können, wenn Sie wollen, in so ziemlich allen Büchern zur Rechtsphilosophie und Rechtstheorie nachlesen, und sich vertiefen, u. a. bei Larenz, Zippelius, bei Heinrich Henkel und wo immer sie dazu lernen wollen, wenn Sie wollen...

Webinar? Ich wollte von einem promovierten Juristen nur wissen (#9), woran man einen Rechtsbegriff im Unterschied zu anderen erkennt? Das war das eine: Das andere betraf eine oder mehrere Quellen zur Definition von Rechtsbegriffen, worauf Sie ein paar globale Schrotflintenhinweise gaben, allerdings auch einen guten (Rüthers). Und das dritte war die Anwendung auf den Rechtsbegriff "Nicht ausschließbar" unter besonderer Berücksichtigung von Lücken, ihrem Ausweis und ihrer Behandlung. Sie selber wissen es demnach nicht.

Ich stelle fest, hier ist bislang niemand willens oder in der Lage, zu erklären, welche Worte einen Rechtsbegriff bedeuten und welche nicht und woran man dies erkennen kann. Also noch einmal: was macht einen Begriff zu einem Rechtsbegriff und woran erkennt man, dass ein Wort einen Rechtsbegriff zur Bedeutung hat?

Ich ahne eine neue Dimension, was Dr. Strate S. 21 seine Mollath-Buches mit seiner Wertung der Strafrechtswissenschaft gemeint hat.

Meine Meinung: "Nicht ausschließbar" ist kein Rechtsbegriff, weil es beim Gutachtenstil Teil der Subsumtion ist und nicht Teil der Definition.

"Fraglich ist, welche der beiden Sachverhaltsvarianten, A oder B, zu unterstellen ist." (Obersatz)

"Der Grundsatz in dubio pro reo besagt, dass bei nach der Beweiswürdigung verbleibenden tatsächlichen Zweifeln zugunsten des Angeklagten zu entscheiden ist." (Definition)

"Es konnte nicht geklärt werden, ob Sachverhaltsvariante A oder Sachverhaltsvariante B vorliegt. Es ist nicht ausschließbar, dass zum Tatzeitpunkt Sachverhaltsvariante B vorlag. Sachverhaltsvariante B ist für den Angeklagten günstiger, weil sie zu einem Freispruch führt. Bei Unterstellung von Sachverhaltsvariante A hingegen wäre der Angeklagte zu verurteilen. Deshalb ist Sachverhaltsvariante B nach dem Grundsatz in dubio pro reo zu unterstellen." (Subsumtion)

Ich glaube auch nicht, dass sich aus den von Dr. Sponsel zitierten Fundstellen bei Foerster ergibt, dass es sich bei "nicht ausschließbar" um einen Rechtsbegriff handelt. Der Satz "Kommt der Richter in seiner Würdigung aller Beweise zum Ergebnis, dass er - aus juristischer Sicht und in juristischer Kompetenz - das Vorliegen einer erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit nicht ausschließen könne, so ist dies eine juristische Wertung, aber keine empirisch begründete Feststellung des psychiatrischen Sachverständigen." scheint das zwar zu implizieren. Dort wird aber nur der oben dargestellte Definitions/Subsumtionsvorgang bei der Anwendung von in dubio pro reo heruntergedampft auf den Subsumtionsbestandteil "nicht ausschließen".

"Nicht ausschließbar/ausschließen" wird dadurch nicht zum Rechtsbegriff, weil es keine gegenüber dem allgemeinen Sprachgebrauch abweichende juristische Bedeutung erhält.

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A ist kein A_§ weil A_§ und A_a,b keinen Bedeutungsunterschied aufweisen?

Gast schrieb:

"... Nicht ausschließbar/ausschließen" wird dadurch nicht zum Rechtsbegriff, weil es keine gegenüber dem allgemeinen Sprachgebrauch abweichende juristische Bedeutung erhält.

Ich entnehmen Ihrem Vorschlag, dass die Unterschiedserkennung über die Bedeutungsanalyse erfolgt.

Lautet Ihr Vorschlag dann: A ist kein A_§ weil A_§ und A_a,b keinen Bedeutungsunterschied aufweisen?

Diese Situation führt mich wieder zur Ursprungsfrage zurück: was macht einen Begriff zu einem Rechtsbegriff und woran erkennt man, ob ein Wort einen Rechtsbegriff bedeutet oder nicht? Sollte solchen einfachen, aber doch wichtigen und grundlegenden Fragen nicht von Rechtswissenschaft einfach und grundlegend beantwortet werden können?

 

 

Die Wendung "zugunsten des Angeklagten" ist für sich selbst vollkommen undefiniert. Sie lebt von Implikationen, die man sich auf der META-Ebene bewusst machen muss. Ohne eine solche Klärung, kann man das sogenannte Lügner-Paradoxon gar nicht vermeiden. Das Problem in Pinnochios Aussage: "Meine Nase wächst gerade!" wird gar nicht erst erkannt. 

Verdächtigungen und Feststellungen der Polizei, StA und des Strafgerichts zu Verhalten und Taten eines Bürgers belasten den Verdächtigten bereits ohne Feststellung der Rechtswidrigkeit einer Tat. Wer ohne triftigen Grund das Verhalten eines Bürgers erforscht und öffentlich feststellt, verletzt dessen Privatsphäre. Das beschwert den Verdächtigten oder Erforschten. Es braucht vor der Erforschung einen hinreichenden Verdacht zur Rechtswidrigkeit der Tat, so dass das Recht des Verdächtigten auf Privatsphäre dem Recht auf staatliche Strafverfolgung unterliegt. War der Anlass der Verdächtigung hinreichend für die Erforschung und eventuelle Eingriffe in das Privatleben? Eine Beschwer, die zu prüfen ist. 

Die Feststellung einer rechtswidrigen Tat beschwert den Beschuldigten, unabhängig davon, ob die Feststellung tatsächlich zutrifft oder nicht. 

Verfahrensfehler, wie z.B. die falsche Beweiswürdigung beschweren den Beschuldigten in seinem Recht auf ein rechtsstaatliches Verfahren. Wie soll der Beschuldigte erkennen, dass die falsche Beweiswürdigung nicht absichtlich erfolgte, um seine Rechte zu beschneiden und das Urteil zu manipulieren? Ein Rechtsstaat hat das zu überprüfen und zu korrigieren. 

Die öffentliche Untersuchung und Feststellungen zur rechtswidrigen Tat und Täterschaft beschweren den Beschuldigten also bereits in mehrfacher Hinsicht, unabhängig davon, ob die Feststellungen tatsächlich zutreffen. Denn das wäre erst in der Prüfung der Begründetheit eines erhobenen Rechtsmittels oder Rechtsbehelfes festzustellen.

Der strafrechtliche Normalfall ist die Schuldfähigkeit des Bürgers. Dies ist auch Ausdruck seiner Selbstbestimmung und Handlungsfreiheit. Die Verdächtigung oder Feststellung gegenüber dem Beschuldigten, dass dieser (möglicherweise) nicht in der Lage sei, seine Handlungen verantworten zu können, beschwert den "Normalfall-Bürger". Diese Beschwer entfällt nicht etwa durch einen Verzicht auf Strafe. Denn der "Normalfall-Bürger" wird trotz aller Schwierigkeiten für seine Handlungen einstehen. Erst die Übernahme der Verantwortung entlastet den "Normalfall-Bürger" später von der rechtswidrigen Tat. Den "Normalfall-Bürger" beschwert eine angenommene Schuldunfähigkeit daher unabhängig vom Strafverzicht. Nur der "Ausnahme-Bürger" kann im Ausnahmefall nicht für seine Tat einstehen, weil ihm Einsichts- und Steuerungsfähigkeit zeitweise oder sogar dauernd fehlt. Den "Ausnahme-Bürger" beschwert die Schuldzuweisung und Strafe, weil er gar nicht verantwortungsfähig war und möglicherweise ganz andere Hilfsmaßnahmen als die Tatfeststellung und Strafe benötigt.  

Was hier wie selbstverständlich als "zugunsten des Angeklagten" propagiert wird, zeigt sich offensichtlich als erkenntnisarme und definitionslose Dogmatik. "Zugunsten des Angeklagten" ist demnach ALLES was Strafe oder Maßregel abwendet. Strafe wird somit zum einzigen (implizierten) Zweck des Vorgehens gegen die Privatsphäre und Selbstbestimmung eines Verdächtigten und seinem Recht auf ein rechtsstaatliches Verfahren. Wenn Strafe aber wie hier von vornherein ausgeschlossen war, ist jedoch das gesamte Vorgehen nicht nur zwecklos, sondern sogar rechtswidrig. Dieses Paradoxon wird wegen der fehlenden Struktur und Klarheit im Denken gar nicht erkannt oder soll übergangen werden.

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Verstehe ich Sie richtig, dass Sie es als besser erachten, wegen einer schweren Körperverletzung schuldig gesprochen zu werden, als von dem Vorwurf einer schweren Körperverletzung wegen nicht ausschließbarer Schuldunfähigkeit freigesprochen zu werden? Meinen Sie wirklich, ein erwiesen schuldfähiger verurteilter Mörder sei ehrenhafter (also beschwerärmer) als ein schuldunfähig freigesprochener Mörder (ohne Berücksichtigung der Fälle des § 63 StGB)? Das kann nicht Ihr Ernst sein!

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Gast schrieb:
Verstehe ich Sie richtig, dass Sie es als besser erachten, wegen einer schweren Körperverletzung schuldig gesprochen zu werden, als von dem Vorwurf einer schweren Körperverletzung wegen nicht ausschließbarer Schuldunfähigkeit freigesprochen zu werden? Meinen Sie wirklich, ein erwiesen schuldfähiger verurteilter Mörder sei ehrenhafter (also beschwerärmer) als ein schuldunfähig freigesprochener Mörder (ohne Berücksichtigung der Fälle des § 63 StGB)? Das kann nicht Ihr Ernst sein!

GM hatte durch die zu Unrecht erfolgte Zwangsunterbringung ein besonderes Interesse daran, seine Schuldfähigkeit bescheinigt zu bekommen. Die Gefahr eines Strafausspruch für ihn bestand aber nicht.

Folge: Für GM wäre eine Verurteilung "weniger belastend" gewesen, als der Freispruch wegen Schuldunfähigkeit. Denn Tatbestandserfüllung wäre in beiden Fällen festgestellt worden, seine Schuldunfähigkeit nur beim Freispruch.

 

Wenn man aus so einer absolute Ausnahmesituation, die in einem verschwindend geringen Anteil der Strafverfahren überhaupt nur auftreten kann, irgendwelche allgemeingültigen Ideen ableiten will, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass das Ergebnis nicht sehr überzeugend wird.

 

I.S. schrieb:

Gast schrieb:
Verstehe ich Sie richtig, dass Sie es als besser erachten, wegen einer schweren Körperverletzung schuldig gesprochen zu werden, als von dem Vorwurf einer schweren Körperverletzung wegen nicht ausschließbarer Schuldunfähigkeit freigesprochen zu werden? Meinen Sie wirklich, ein erwiesen schuldfähiger verurteilter Mörder sei ehrenhafter (also beschwerärmer) als ein schuldunfähig freigesprochener Mörder (ohne Berücksichtigung der Fälle des § 63 StGB)? Das kann nicht Ihr Ernst sein!

GM hatte durch die zu Unrecht erfolgte Zwangsunterbringung ein besonderes Interesse daran, seine Schuldfähigkeit bescheinigt zu bekommen. Die Gefahr eines Strafausspruch für ihn bestand aber nicht.

Folge: Für GM wäre eine Verurteilung "weniger belastend" gewesen, als der Freispruch wegen Schuldunfähigkeit. Denn Tatbestandserfüllung wäre in beiden Fällen festgestellt worden, seine Schuldunfähigkeit nur beim Freispruch.

Zur Frage der Schuldfähigkeit gebe ich Ihnen vollkommen recht. Allerdings betraf das auch den Tatvorwurf. Solange GM sich öffentlich äußerte, beharrte er sowohl auf die Verantwortlichkeit für sein Handeln, als auch die Feststellung, dass er keine strafbare Tat begangen hätte. Ein rechtsstaatliches Verfahren hätte das spätestens im RM-Verfahren zu klären vermocht. Eine erneute "Begutachtung" hätte es in der Revision nicht geben können. GM wusste nun auch, wie Juristen Tatsachen und Beweise erkennen und werten. Darauf hätte er sich nun fokussieren müssen und wäre kaum nochmals als schuldunfähiger Täter deklariert worden. Entweder war er (vermindert) schuldfähiger Täter oder eben Nichttäter.       

I.S. schrieb:

Wenn man aus so einer absolute Ausnahmesituation, die in einem verschwindend geringen Anteil der Strafverfahren überhaupt nur auftreten kann, irgendwelche allgemeingültigen Ideen ableiten will, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass das Ergebnis nicht sehr überzeugend wird.

Allgemeingültigkeit leitet sich nicht aus einer "Mittellage" oder dem Normalfall ab. Allgemeingültigkeit und Normalfall korrelieren zwar miteinander, sind aber weder synonym, noch besteht zwischen ihnen ein Kausalzusammenhang. Wissenschaftlich ist es sogar regelmäßig so, dass sich Allgemeingültigkeit gerade an den Extremen beweisen muss. Ausnahmen von der Regel müssen in allgemeingültigen Regeln explizit benannt werden. Allgemeingültigkeit besitzt jeweils die Regel, die gar keine oder nur minimale und zugleich klar definierte Ausnahmen erfordern, die somit Teil der Regel werden. Mir ist bewusst, dass Sie dem widersprechen werden und dafür "Mittellage"-Gründe vorbringen, aber genau das ist das Problem. Der Ansatz "Wir sind einfach anders als andere, weil das im Normalfall schon besser so ist und wir das auch besser wissen als alle andern" überzeugt mich nicht. Dafür fehlt schon die objektive Begründung.    

2

Lutz Lippke schrieb:

Allgemeingültigkeit besitzt jeweils die Regel, die gar keine oder nur minimale und zugleich klar definierte Ausnahmen erfordern, die somit Teil der Regel werden.

Ach so, dann ist die Tenorbeschwer wohl das gelbe vom Ei, weil sie nur die minimale Ausnahme der § 20 StGB Fälle braucht, während die Vertreter der Urteilsbeschwer im weit überwiegenden Teil aller Fälle doch auch nur auf den Tenor gucken werden.

Quote:

Mir ist bewusst, dass Sie dem widersprechen werden und dafür "Mittellage"-Gründe vorbringen, aber genau das ist das Problem. Der Ansatz "Wir sind einfach anders als andere, weil das im Normalfall schon besser so ist und wir das auch besser wissen als alle andern" überzeugt mich nicht. Dafür fehlt schon die objektive Begründung.   

Ach so sie wissen schon wie man Ihnen antworten wird? Und dazu noch dass die Antwort nicht objektiv sein wird? Meinen Respekt.

2

Gast schrieb:

<span>Lutz Lippke schrieb:

Allgemeingültigkeit besitzt jeweils die Regel, die gar keine oder nur minimale und zugleich klar definierte Ausnahmen erfordern, die somit Teil der Regel werden.

Ach so, dann ist die Tenorbeschwer wohl das gelbe vom Ei, weil sie nur die minimale Ausnahme der § 20 StGB Fälle braucht, während die Vertreter der Urteilsbeschwer im weit überwiegenden Teil aller Fälle doch auch nur auf den Tenor gucken werden.

 

 

Sie argumentieren mit Gewohnheiten und verkennen das Prinzip.

Die Normalfall-Annahme der Schuldfähigkeit im Strafrecht und die Ausnahmen §§ 20, 21 StGB bilden ein Normalfall-Ausnahme-Zusammenhang in einer allgemeingültigen Schuldfähigkeitsregel. Man muss das nicht so, wie vermutlich hier, nach der Subjektmenge oder einer an Strafe orientierten Soll-Ethik konstruieren. Genauso könnte man definieren, dass Schuldunfähigkeit i.d.p.r. angenommen wird und die Schuldfähigkeit zu beweisen ist. Undenkbar wäre das jedenfalls nicht. Psychologisch vielleicht auch besser zu begründen, als die Ausnahme nach "i.d.p.r" nicht ausschließbar eine Abartigkeit zu attestieren und dies dann als Vorteil zu deklarieren. So wie die Meisten nicht Straftäter und auch nicht ausschließbar Straftäter sein wollen, wollen die Meisten nicht abartig oder nicht ausschließbar abartig sein. Warum sollten nun Straftäter lieber nicht ausschließbar abartig sein?       

Die Tenorbeschwer und § 20 StGB korrelieren zwar in gewisser Weise miteinander, stehen aber nicht in einem Kausalzusammenhang. Dies ist offensichtlich. Daraus lässt sich gar keine allgemeingültige Regel bilden. 

Ich erkenne die Tenorbeschwer als eine formalisierten Unterfall der Beschwer. Die Beschwer wiederum ist an das unklare "zugunsten" gekoppelt. Ich verwechsle also nicht Beschwer mit i.d.p.r., sondern erfasse ihren Zusammenhang über "zugunsten". Beschwer soll ja bedeuten, dass ein Rechtsmittel nur Sinn hat, wenn es noch ein "zugunsten" des Beschuldigten geben kann und i.d.p.r. ist die Regel zur Auflösung des Zweifels "zugunsten" des Beschuldigten. Ein Problem habe ich tatsächlich nur mit dem unklaren "zugunsten", nämlich wenn "zugunsten" wie bei der Beschwer oder dem § 20 StGB nur aus Sicht des Strafens vermutet wird. Die Tenorbeschwer ist letztlich nur das Folge-Vehikel, mit dem sich RM-Gerichte auf dieser Basis ungeliebte Arbeit und rechtsstaatliche Klärung fernhalten.

Gast schrieb:

<span>Lutz Lippke schrieb:

Mir ist bewusst, dass Sie dem widersprechen werden und dafür "Mittellage"-Gründe vorbringen, aber genau das ist das Problem. Der Ansatz "Wir sind einfach anders als andere, weil das im Normalfall schon besser so ist und wir das auch besser wissen als alle andern" überzeugt mich nicht. Dafür fehlt schon die objektive Begründung.   

Ach so sie wissen schon wie man Ihnen antworten wird? Und dazu noch dass die Antwort nicht objektiv sein wird? Meinen Respekt.

Das folgt nur daraus, dass es schon Diskussionen mit I.S. dazu gab. Eine Begründung, warum nun gerade die Rechtswissenschaften, die sich mit einem Regelsystem (~ Systemtechnologie), deren Anwendbarkeit (~Systemtechnik) und produktive Nutzung (~Systemkonfiguration) befasst, ganz spezielle Grundlagen und Methoden beansprucht, wäre eben nach meiner Auffassung noch zu klären. Das Wort System können Sie auch durch Struktur ersetzen, um es nicht nur als maschinell-technisch, sondern auch menschlich-organisatorisch zu erkennen.  

3

Lutz Lippke]</p> <p><span>[quote=Gast schrieb:

<span>Lutz Lippke schrieb:

Allgemeingültigkeit besitzt jeweils die Regel, die gar keine oder nur minimale und zugleich klar definierte Ausnahmen erfordern, die somit Teil der Regel werden.

Ach so, dann ist die Tenorbeschwer wohl das gelbe vom Ei, weil sie nur die minimale Ausnahme der § 20 StGB Fälle braucht, während die Vertreter der Urteilsbeschwer im weit überwiegenden Teil aller Fälle doch auch nur auf den Tenor gucken werden.

 

 

....... Psychologisch vielleicht auch besser zu begründen, als die Ausnahme nach "i.d.p.r" nicht ausschließbar eine Abartigkeit zu attestieren und dies dann als Vorteil zu deklarieren. So wie die Meisten nicht Straftäter und auch nicht ausschließbar Straftäter sein wollen, wollen die Meisten nicht abartig oder nicht ausschließbar abartig sein. Warum sollten nun Straftäter lieber nicht ausschließbar abartig sein?  .... 

Gast]</span></p> <p>[quote=<span>Lutz Lippke schrieb:

Um den mitmenschlichen, empathischen Bezug zu dem existenziell betroffenen Herrn Gustl Mollath herzustellen möchte ich einbringen, dass sich G.M. eindeutig und vorrangig durch die psychiatrisierende gerichtliche Feststellung einer nicht ausschließbaren seelischen Abartigkeit schwerwiegend und für sein ganzes Leben beschwert fühlt und dies nachvollziehbar und auch zu Recht. Dies hat G.M. in dem Dokumentationsfilm "Und plötzlich bist Du verrückt"

erklärt.

 

4

Lutz Lippke schrieb:

I.S. schrieb:
GM hatte durch die zu Unrecht erfolgte Zwangsunterbringung ein besonderes Interesse daran, seine Schuldfähigkeit bescheinigt zu bekommen. Die Gefahr eines Strafausspruch für ihn bestand aber nicht.

Folge: Für GM wäre eine Verurteilung "weniger belastend" gewesen, als der Freispruch wegen Schuldunfähigkeit. Denn Tatbestandserfüllung wäre in beiden Fällen festgestellt worden, seine Schuldunfähigkeit nur beim Freispruch.

Zur Frage der Schuldfähigkeit gebe ich Ihnen vollkommen recht. Allerdings betraf das auch den Tatvorwurf. Solange GM sich öffentlich äußerte, beharrte er sowohl auf die Verantwortlichkeit für sein Handeln, als auch die Feststellung, dass er keine strafbare Tat begangen hätte. Ein rechtsstaatliches Verfahren hätte das spätestens im RM-Verfahren zu klären vermocht. Eine erneute "Begutachtung" hätte es in der Revision nicht geben können. GM wusste nun auch, wie Juristen Tatsachen und Beweise erkennen und werten. Darauf hätte er sich nun fokussieren müssen und wäre kaum nochmals als schuldunfähiger Täter deklariert worden. Entweder war er (vermindert) schuldfähiger Täter oder eben Nichttäter.


Meines Wissens gibt es in der Revision keine neue Beweisaufnahme.

Deshalb hilft es GM aber jetzt auch sehr wenig, zu wissen, wie Juristen Tatsachen und Beweise erkennen, selbst wenn er über BverfG oder EuGH die Tenorbeschwertheorie kippen würde. Da hätte er vorher mal auf seinen Anwalt hören sollen. Dann hätte er zum Beispiel die Notwehrlage vernünftig schildern können, wenn er schon erwähnt, dass er eine gab.

Das Gericht hätte auch in Hinblick auf den Tatbestand das nutzen müssen, was schon festgestellt wurde. Es hat die Hinweise von GM, dass es zu körperlichen Auseinandersetzungen kam, Beschreibungen zu Verletzungen der P3M (nicht nur durch ärztlichen Befund, auch durch eine Zeugin) und die etwas zweifelhafte Autosturz-Geschichte, die jedenfalls für Würgemale absolut nicht als Erklärung in Frage kommt. Zumindest an einer einfachen Körperverletzung muss man (und auch das RM-Gericht) nicht unbedingt zweifeln.

Eine neue Begutachtung hätte es in der Tat nicht gegeben, aber alles was im Verfahren schon eingebracht wurde, hätte auch das Revisionsgericht nutzen und bewerten dürfen. Und auch da ist nicht unwahrscheinlich, dass es bei genauer Prüfung die Bewertung der "nicht ausschließbaren Schuldunfähigkeit vor xx Jahren" nicht sogar aufrecht erhalten würde.

 

Auch wenn GM es persönlich anders sehen mag: Allgemein gilt im Strafrecht, dass es "zugunsten" des Angeklagten ist, wenn festgestellt wird, dass er die Tat nicht schuldhaft begangen hat. Und deshalb würde auch das Revisionsgericht feststellen können, dass es nach den vorliegenden Unterlagen vor xx Jahren eine relevante Einschränkung der Steuerungsfähigkeit des GM gab, die (idpr) zur Anwendung des §20 führt. Immerhin geht es um GMs Zustand zu einem schon länger zurückliegenden Zeitpunkt. Da kann ein Gericht nur irgendwelche Anhaltspunkte aus der damaligen Zeit heranziehen, was natürlich mehr Raum für relevante Zweifel läßt, als wenn man den potentiellen Täter zeitnah kennenlernt.

Die Frage der Schuld steht auch nicht zur Disposition des Angeklagten. Auch ein Angeklagter, der darauf besteht, schuldig zu sein, darf für unschuldig erklärt werden (bzw. muss es, wenn das Gericht ausreichend Zweifel an seiner Schuld hat).
 

Die Vermutung "wäre kaum nochmal als schuldunfähiger Täter deklariert worden" teile ich daher nicht. Ich halte es im Gegenteil für durchaus wahrscheinlich, dass das Revisionsgericht zur gleichen Einschätzung gekommen wäre, wie die vorherige Instanz.

 

Lutz Lippke schrieb:
Ausnahmen von der Regel müssen in allgemeingültigen Regeln explizit benannt werden. Allgemeingültigkeit besitzt jeweils die Regel, die gar keine oder nur minimale und zugleich klar definierte Ausnahmen erfordern, die somit Teil der Regel werden. Mir ist bewusst, dass Sie dem widersprechen werden und dafür "Mittellage"-Gründe vorbringen, aber genau das ist das Problem.

Nein, warum sollte ich da widersprechen. Nur: wenn Sie ein praxistaugliches Ergebnis haben wollen, sollten Sie die Regel aus dem Normalfall bilden und dann schaun, ob man für bestimmte Konstellationen Ausnahmen braucht, nicht andersrum.

Ein Ansatz, der darauf fußt, dass für GM die Ehre wichtiger ist als die Nichtverurteilung, ist völlig untauglich, weil er auf praktisch keinen anderen Fall übertragbar ist.

 

Geht man vom Normalfall aus und schaut dann, wo Abweichungen sinnvoll sind, fallen mir spontan zwei Varianten ein:

Grundsätzlich wird die Theorie der Tenorbeschwer angewandt. Wenn sich allerdings objektive rechtliche Nachteile aus dem Gesamturteil ergeben (z.B. Eintragung in BZR), dann liegt auch darin eine Beschwer, die mit Rechtsmittel angegriffen werden kann.

Oder, wenn man an der "Tenorbeschwer" nicht festhalten will, sondern die Rechtsmittelmöglichkeiten ausweiten will, kommt man sogar ohne eine Ausnahme aus:

Eine Beschwer liegt vor, wenn das Urteil die Begehung einer rechtswidrigen Tat feststellt, unabhängig davon, ob es zu einer Verurteilung kommt.

 

Beide Vorschläge würden die bisherige Situation beibehalten, dass das Beanstanden lediglich einzelner Formulierungen der Urteilsbegründung nicht zur Zulässigkeit der Revision führt. Aus Gründen der Prozessökonomie und Rechtssicherheit halte ich das für erforderlich und hinnehmbar.

I.S. schrieb:

Lutz Lippke schrieb:

[....]

... dass er keine strafbare Tat begangen hätte. Ein rechtsstaatliches Verfahren hätte das spätestens im RM-Verfahren zu klären vermocht. Eine erneute "Begutachtung" hätte es in der Revision nicht geben können. GM wusste nun auch, wie Juristen Tatsachen und Beweise erkennen und werten. Darauf hätte er sich nun fokussieren müssen und wäre kaum nochmals als schuldunfähiger Täter deklariert worden. Entweder war er (vermindert) schuldfähiger Täter oder eben Nichttäter.


Meines Wissens gibt es in der Revision keine neue Beweisaufnahme.

Da haben Sie mich in der Tat erwischt. Ich habe mich ungeschickt ausgedrückt. Ich meinte, dass eine umfassende Prüfung der Begründetheit der Revision die Urteilsmängel (Wertungen) hätte aufgedecken müssen.

I.S. schrieb:

Eine neue Begutachtung hätte es in der Tat nicht gegeben, aber alles was im Verfahren schon eingebracht wurde, hätte auch das Revisionsgericht nutzen und bewerten dürfen. Und auch da ist nicht unwahrscheinlich, dass es bei genauer Prüfung die Bewertung der "nicht ausschließbaren Schuldunfähigkeit vor xx Jahren" nicht sogar aufrecht erhalten würde.

Das betrifft die Diskussion zur Rechtsfrage Schuldunfähigkeit. Das Gericht schloss sich im Urteil explizit der Wertung des SV zu dieser Rechtsfrage an. Das ist wohl ein grundsätzlicher Fehler, unabhängig davon, ob der SV eine solche Wertung überhaupt abgegeben hat.

I.S. schrieb:
 

Die Vermutung "wäre kaum nochmal als schuldunfähiger Täter deklariert worden" teile ich daher nicht. Ich halte es im Gegenteil für durchaus wahrscheinlich, dass das Revisionsgericht zur gleichen Einschätzung gekommen wäre, wie die vorherige Instanz.

Zunächst ist anzumerken, dass auch der BGH wegen "keine Strafe/Maßregel möglich" und gerade auch dem präferierten Eigeninteresse "Prozessökonomie" die Einstellung des Verfahrens mit Zustimmung des Beschuldigten erwägen müsste. Die Kaffeesatzleserei zu historischer und sekundär überlieferter Biss- und Würgevorgängen mit Hilfe von "ich bin mir ganz sicher, erinnere mich aber kaum oder wars vielleicht auch anders?"-Zeugen, u.a. viele Juristen, hätte sehr wohl zur Aufhebung des Urteils und Erklärung des Unvermögens einer so späten Prüfung führen können. Daran war GM wohl nicht verantwortlich beteiligt. Warum soll er also die schlampige und übergriffige Suppe für die Justiz auslöffeln? Wenn GM in der Sache mehr als die Feststellung eines unlösbaren Justizversagens wollte, müsste er seine Einlassung einer anderen Bewertung zuführen. Das könnte bei einer Aufhebung und Zurückverweisung doch wieder möglich sein. Die nachweisbar falsche Beweiswürdigung und andere Mängel wären dafür ein Anlass.

[/quote]

I.S. schrieb:

Lutz Lippke schrieb:
Ausnahmen von der Regel müssen in allgemeingültigen Regeln explizit benannt werden. Allgemeingültigkeit besitzt jeweils die Regel, die gar keine oder nur minimale und zugleich klar definierte Ausnahmen erfordern, die somit Teil der Regel werden. Mir ist bewusst, dass Sie dem widersprechen werden und dafür "Mittellage"-Gründe vorbringen, aber genau das ist das Problem.

Nein, warum sollte ich da widersprechen. Nur: wenn Sie ein praxistaugliches Ergebnis haben wollen, sollten Sie die Regel aus dem Normalfall bilden und dann schaun, ob man für bestimmte Konstellationen Ausnahmen braucht, nicht andersrum.

Es gibt sicher mehrere taugliche Ansätze. Das Problem ist praktisch das "dann schaun" im Sinne von sporadischer Textauslegung im Fall des Falles und vor allem schon theoretisch der Allgemeinheitsgrundsatz vs. der Allgemeingültigkeit. Sie beziehen sich letztlich doch auf den Allgemeinheitsgrundsatz (Jura), beanspruchen aber eine Gleichheit oder Gleichwertigkeit mit der Allgemeingültigkeit (Wissenschaft). Es gibt sie aber nicht. Machen Sie den Kartenspieltest.

I.S. schrieb:
 

Ein Ansatz, der darauf fußt, dass für GM die Ehre wichtiger ist als die Nichtverurteilung, ist völlig untauglich, weil er auf praktisch keinen anderen Fall übertragbar ist.

Das ist eine mit ungenannter Wertung aufgeladene Vermutung, für die es schwerlich einen Nachweis gibt. Eine Übertragung auf einen anderen Fall verlangt ja eine allgemeingültige Abstraktionsmethode, derer man sich bedienen kann. Der Allgemeinheitsgrundsatz liefert diese nicht. Da hat Dr. Sponsel schon seinen Zeigefinger drauf. Psychologen wissen auch warum, denn ihr heldenhafter Kampf um Reliabilität und Validität der Erkenntnisse ist berühmt und faktisch immer fortwährend.  

I.S. schrieb:
 

Geht man vom Normalfall aus und schaut dann, wo Abweichungen sinnvoll sind, fallen mir spontan zwei Varianten ein:

Grundsätzlich wird die Theorie der Tenorbeschwer angewandt. Wenn sich allerdings objektive rechtliche Nachteile aus dem Gesamturteil ergeben (z.B. Eintragung in BZR), dann liegt auch darin eine Beschwer, die mit Rechtsmittel angegriffen werden kann.

Oder, wenn man an der "Tenorbeschwer" nicht festhalten will, sondern die Rechtsmittelmöglichkeiten ausweiten will, kommt man sogar ohne eine Ausnahme aus:

Eine Beschwer liegt vor, wenn das Urteil die Begehung einer rechtswidrigen Tat feststellt, unabhängig davon, ob es zu einer Verurteilung kommt.

Beide Vorschläge würden die bisherige Situation beibehalten, dass das Beanstanden lediglich einzelner Formulierungen der Urteilsbegründung nicht zur Zulässigkeit der Revision führt. Aus Gründen der Prozessökonomie und Rechtssicherheit halte ich das für erforderlich und hinnehmbar.

Abgesehen davon, dass ich eine Theorie der Tenorbeschwer gar nicht erkennen kann, wäre das ein pragmatisches Herangehen. Allerdings fehlt die Einsicht des BGH und Gast argumentiert in #34 auch dagegen und wirft die Sache wieder auf die Auslegungspraxis zurück. Welcher Methodologie folgt die Ableitung der Beschwer aus § 296 StPO und weitergehend die Tenorbeschwer? Darauf werden wir wohl wegen des inkompatiblen Verständnisses von wissenschaftlich fundierter Methode und damit beabsichtigten Ausschluss von Manipulation und Willkür keine gemeinsame Antwort finden.

Es gibt ja eine Rechtsinformatik, soweit ich informiert bin, aber leider nicht zu theoretischen Fragen des Rechtssystems. Ein paar gute theoretische Informatiker (Netzwerktheorie, Logik, Algorithmen) und dazu juristischer Sachverstand würden neue Erkenntnisse und Herangehensweisen bringen, die nicht übergangen werden können. Da bin ich mir sicher. Ich kann das leider nicht leisten und hier nur auf die bildhafte Idee einer Transformation auf Kartenspiele verweisen. Was meinen Sie wie eine Kartenspiel-Software im Prinzip funktioniert?

3

Lutz Lippke schrieb:

Zunächst ist anzumerken, dass auch der BGH wegen "keine Strafe/Maßregel möglich" und gerade auch dem präferierten Eigeninteresse "Prozessökonomie" die Einstellung des Verfahrens mit Zustimmung des Beschuldigten erwägen müsste.

Sie schrieben selber, wieso die Idee der Einstellung keinen Raum hatte:

Lutz Lippke schrieb:
Allerdings betraf das auch den Tatvorwurf. Solange GM sich öffentlich äußerte, beharrte er sowohl auf die Verantwortlichkeit für sein Handeln, als auch die Feststellung, dass er keine strafbare Tat begangen hätte. Ein rechtsstaatliches Verfahren hätte das spätestens im RM-Verfahren zu klären vermocht.

Eine Einstellung hätte GM die Möglichkeit der Klärung genommen.

 

Siehe dazu auch mein Beitrag 12 auf Seite 12.

Lutz Lippke schrieb:
Die Kaffeesatzleserei zu historischer und sekundär überlieferter Biss- und Würgevorgängen mit Hilfe von "ich bin mir ganz sicher, erinnere mich aber kaum oder wars vielleicht auch anders?"-Zeugen, u.a. viele Juristen, hätte sehr wohl zur Aufhebung des Urteils und Erklärung des Unvermögens einer so späten Prüfung führen können.

"Können" ist das Schlüsselwort. Es ist weder sicher, dass das Urteil aufgehoben worden wäre, noch dass es Bestand gehabt hätte. Der (überflüssige) Satz des BGH zur Begründetheit spricht allerdings dafür, dass auch die Revision die Zeugen und anderen Indizien nicht wesentlich anders bewertet hätte als die Vorinstanz.

 

Lutz Lippke schrieb:
I.S. schrieb:

Nein, warum sollte ich da widersprechen. Nur: wenn Sie ein praxistaugliches Ergebnis haben wollen, sollten Sie die Regel aus dem Normalfall bilden und dann schaun, ob man für bestimmte Konstellationen Ausnahmen braucht, nicht andersrum.

 

 

Es gibt sicher mehrere taugliche Ansätze. Das Problem ist praktisch das "dann schaun" im Sinne von sporadischer Textauslegung im Fall des Falles und vor allem schon theoretisch der Allgemeinheitsgrundsatz vs. der Allgemeingültigkeit.

Zum einen bezieht sich das "mal schaun" bereits auf vorab erkennbare Sonderfälle, für die man dann beim Aufstellen der Regel eine Ausnahme formuliert (oder gerade nicht). Zum anderen wird es in der Praxis gar nicht zu vermeiden sein, Regeln später auf Sonderfälle anzupassen. Es gibt immer Konstellationen, die man beim Entwickeln der Regel nicht vorhersieht oder vorhersehen kann.

Ich kann keine allgemeingültigen Kartenspielregeln schreiben, wenn ich nicht verbieten kann, dass die Leute eigene Karten mitbringen, die nicht vorgesehen sind.

 

Lutz Lippke schrieb:
I.S. schrieb:
 

 

Ein Ansatz, der darauf fußt, dass für GM die Ehre wichtiger ist als die Nichtverurteilung, ist völlig untauglich, weil er auf praktisch keinen anderen Fall übertragbar ist.

Das ist eine mit ungenannter Wertung aufgeladene Vermutung, für die es schwerlich einen Nachweis gibt. Eine Übertragung auf einen anderen Fall verlangt ja eine allgemeingültige Abstraktionsmethode, derer man sich bedienen kann.

Ich kenne keinen Straftäter, der lieber im Knast gelandet wäre, anstatt sich für "zum Tatzeitpunkt möglicherweise nicht ganz bei Sinnen" erklären zu lassen und nach Hause zu gehen. Die meisten Angeklagten würden sich eher ne Meise andichten lassen, als verurteilen - zumindest wenn eine ernsthafte Strafe im Raum steht.
Die Wertung kann ich auch ganz deutlich formulieren: Ein paar Sätze in einem Urteil dazu, dass man irgendwann nicht für sein Tun verantwortlich zu machen war, also Sätze die im Normalfall kein Arbeitgeber, kein zukünftiger Partner oder sonstwer außer dem eigenen Anwalt je zu lesen bekommt, sind nicht schlimmer als Knast. Wer schonmal in einem Gefängnis mehr als den Besucherraum sehen durfte (viele Juristen haben im Rahmen ihrer Ausbildung diese Möglichkeit), der weiss auch, wovon er da redet.

 

Im strafrechtlichen Alltag hat der Angeklagte eben nicht das Sicherungsnetz des Verschlechterungsverbots, welches GM erlaubt hat, risikolos darauf zu bestehen, dass er schuldfähig ist.

 

 

Gast schrieb:

@ I.S.

Grundsätzlich wird die Theorie der Tenorbeschwer angewandt. Wenn sich allerdings objektive rechtliche Nachteile aus dem Gesamturteil ergeben (z.B. Eintragung in BZR), dann liegt auch darin eine Beschwer, die mit Rechtsmittel angegriffen werden kann.

Mit dieser Frage hat sich der BGH in RN 13 auseinandergesetzt und verweist zutreffend auf einschlägige Kommentare, denen Sie für einen solchen Vorschlag zunächst inhaltlich entgegentreten müßten.

Vollkommen richtig - allerdings hatte ich auch nicht vor, hier einen wissenschaftlichen Aufsatz zu erstellen. Es ging mir nur darum, LL zu zeigen, wie man von Normalfall aus diese Auslegungstheorien entwickeln könnte.

Dass zur Rechtswissenschaft auch noch dazugehört, eine entwickelte Theorie mit anderen vertretenen Theorien zu vergleichen und zu argumentieren, welche Vorteile oder Nachteile die eigene Ansicht hat, ist mir durchaus bewusst.

 

Quote:

Eine Beschwer liegt vor, wenn das Urteil die Begehung einer rechtswidrigen Tat feststellt, unabhängig davon, ob es zu einer Verurteilung kommt.

Dieser Vorschlag würde also alle Freisprüche der Fälle § 17 ff. betreffen. Das hieße jedoch, daß man das Grundprinzip des Strafrechts, nämlich die "Dreieinigkeit" (Tatbestand, Rechtswidrigkeit, Schuld) auseinanderreißen würde, in diesen Fällen sogar ausdrücklich dem Schuldprinzip widersprechen würde.
Gänzlich absurd wäre eine solche Definition sogar in den meisten dieser Fälle, bei denen sich nämlich ein Angeklagter selbst auf Irrtum oder Schuldunfähigkeit beruft.

Dann stellt sich aber schon die Frage, ob der Angeklagte überhaupt gegen das Urteil vorgehen wird. Ich brauche keine Ausnahme für etwas formulieren, was in der Praxis nicht vorkommt.

 

Quote:
Und: Warum sollte diese Regel nicht auch bei Rechtfertigungsgründen greifen? Dem Angeklagten wird aufgrund von Zeugenaussagen Notwehr zugestanden, der aber sagt, das alles habe gar nicht stattgefunden, er fühle sich durch diese ehrabschneidende Behauptung, er habe irgendjemand verprügelt, beschwert. Ist der dann aus Ihrer Sicht weniger beschwert als der, dem Irrtum oder Schuldunfähigkeit zugestanden wird, den Tatbestand aber ebenso bestreitet?

Zunächst kann man sich fragen, ob es noch eine Ehrverletzung ist, wenn da steht, er habe jemanden in Notwehr verprügelt. Rechtfertigungsgründe rechtfertigen die Tat, wie der Name schon sagt. Überspitzt gesagt: Was auch immer derjenige gemacht hat - er durfte es.

Fehlende Schuld bedeutet vor allem, dass es nicht vorgeworfen werden kann. Und dabei kann es zu Wertungen kommen, die dafür sorgen, dass die Gründe für die fehlende Schuld einen negativen Eindruck machen, die dann zu einem berechtigten Interesse führen können, diese "Ehrverletzung" überprüfen zu lassen.

Quote:
Was ist bei Verjährung oder anderen fehlenden Strafbarkeitsvoraussetzungen? Auch da träfe Ihre Regel zu.

Würde man aus dem gleichen Grund hinnehmen müssen, aus dem man auch die Wiederaufnahme erlaubt, obwohl eine Bestrafung ausscheidet. Gelegentlich hat so eine "Überprüfung" im Strafverfahren eben auch das Ziel, die Ehre des Angeklagten wiederherzustellen.

Gast schrieb:

Verstehe ich Sie richtig, dass Sie es als besser erachten, wegen einer schweren Körperverletzung schuldig gesprochen zu werden, als von dem Vorwurf einer schweren Körperverletzung wegen nicht ausschließbarer Schuldunfähigkeit freigesprochen zu werden? Meinen Sie wirklich, ein erwiesen schuldfähiger verurteilter Mörder sei ehrenhafter (also beschwerärmer) als ein schuldunfähig freigesprochener Mörder (ohne Berücksichtigung der Fälle des § 63 StGB)? Das kann nicht Ihr Ernst sein!

Jetzt definieren Sie "zugunsten" als besser und/oder ehrenhafter. Sind das Synonyme für "zugunsten"?

Ihre Fragen sind m.E. nach eher subjektiv beantwortbar. Einer objektiven und willkürfreien Prüfung und Beantwortung sind sie gar nicht so ohne Weiteres zugänglich. Das Beste ist keine Straftaten zu begehen und auch nicht einer Straftat verdächtigt zu werden. Bei einem Verdacht auf Straftaten ist es sicher besser, wenn dieser Verdacht, die Umstände, die Verantwortung für eine mögliche Tat und die Eingriffe in die Rechte des Verdächtigten tatsächlich und rechtsstaatlich geklärt werden. Gegebenenfalls im ordentlichen Rechtsmittelverfahren, zumindest wenn beschwerende Erforschungen stattfinden oder Feststellungen getroffen werden. Alles Andere ist grundsätzlich schlecht und geht am Zweck einer objektiven Prüfung vorbei. Es bedarf daher zur Beschwer gar keine Feststellungen zur etwaigen Begünstigung. Denn dafür müsste man wiederum den jeweiligen Standpunkt, den Entscheidungshorizont und Bezugsrahmen erforschen oder subjektiv definieren. Ihr "zugunsten" hängt unmittelbar am staatlichen Strafanspruch und der Annahme, dass der vermeintliche, mit falscher Beweiswürdigung festgestellte oder auch tatsächliche Täter unter allen Umständen eine Strafe vermeiden will. Die Feststellung einer Straftat und die Vermutung einer Abartigkeit oder fehlenden Selbstwirksamkeit wäre dem Betroffenen daher faktisch egal, wenn er der Strafe damit entgeht. Das Problem ist offensichtlich. Sie gehen bei der Beurteilung eigentlich von den Interessen des BGH aus, versuchen aber die Begründung in der Interessenlage des Betroffenen zu finden. Das Problem ist demnach, dass Sie regellos zwischen verschiedenen Ebenen, Bezugsrahmen, Sichtweisen und Bedeutungen springen, um damit oberflächlich eine Schlüssigkeit darzustellen, die so gar nicht existiert. 

@ Dr. Sponsel

Es gibt ja umgangssprachlich die Zuweisungen "Küchenpsychologie" oder "Stammtisch-Gerede" für die Kennzeichnung von semistrukturiertem, oft sehr reflexionsarmen Befinden über komplexe Sachverhalte im Psychologischen und Politischen. Das Phänomen beschränkt sich ja nicht nur auf Laien, sondern ist oft auch Mittel zum Zweck im Geschäftsgebaren (Forensik?) und der Propaganda (innere Sicherheit?). Fällt Ihnen ein treffender Spezialbegriff oder auch ein allgemeiner Oberbegriff ein, der das Phänomen der offensichtlichen Unklarheit im Umgang mit Rechtsbegriffen, Rechtsdefinitionen und Rechtsregeln in ähnlicher Weise griffig benennt?    

3

Lutz Lippke schrieb:

Das Problem ist demnach, dass Sie regellos zwischen verschiedenen Ebenen, Bezugsrahmen, Sichtweisen und Bedeutungen springen,

Das tun Sie, indem Sie nicht zwischen Beschwer und i.d.p.r. unterscheiden.

0

Methodologische Anarchie scheint es mir am besten zu beschreiben.

Lutz Lippke schrieb:

@ Dr. Sponsel

Es gibt ja umgangssprachlich die Zuweisungen "Küchenpsychologie" oder "Stammtisch-Gerede" für die Kennzeichnung von semistrukturiertem, oft sehr reflexionsarmen Befinden über komplexe Sachverhalte im Psychologischen und Politischen. Das Phänomen beschränkt sich ja nicht nur auf Laien, sondern ist oft auch Mittel zum Zweck im Geschäftsgebaren (Forensik?) und der Propaganda (innere Sicherheit?). Fällt Ihnen ein treffender Spezialbegriff oder auch ein allgemeiner Oberbegriff ein, der das Phänomen der offensichtlichen Unklarheit im Umgang mit Rechtsbegriffen, Rechtsdefinitionen und Rechtsregeln in ähnlicher Weise griffig benennt?    

 

Rudolf Sponsel schrieb

Webinar? Ich wollte von einem promovierten Juristen nur wissen (#9), woran man einen Rechtsbegriff im Unterschied zu anderen erkennt? Das war das eine: Das andere betraf eine oder mehrere Quellen zur Definition von Rechtsbegriffen, worauf Sie ein paar globale Schrotflintenhinweise gaben, allerdings auch einen guten (Rüthers). Und das dritte war die Anwendung auf den Rechtsbegriff "Nicht ausschließbar" unter besonderer Berücksichtigung von Lücken, ihrem Ausweis und ihrer Behandlung. Sie selber wissen es demnach nicht.

Ich stelle fest, hier ist bislang niemand willens oder in der Lage, zu erklären, welche Worte einen Rechtsbegriff bedeuten und welche nicht und woran man dies erkennen kann. Also noch einmal: was macht einen Begriff zu einem Rechtsbegriff und woran erkennt man, dass ein Wort einen Rechtsbegriff zur Bedeutung hat?

Ich hoffe für Sie, dass ihre derzeitigen dyslektischen Anwandlungen vorübergehender Natur sind. Haben Sie oben nicht gelesen, was ich aus dem Rechtslexikon eigens für Sie wörtlich zitiert habe?

Er kann überwiegend Begriff der besonderen Rechtssprache oder überwiegend Begriff der Allgemeinsprache sein. Er kann sehr abstrakt oder sehr konkret sein.

Einen "Rechtsbegriff" erkennt man im Unterschied zu einem anderen daran, dass er (auch, überwiegend oder ausschließlich) im Zusammenhang mit Recht Verwendung findet und dadurch rechtlich aufgeladen wird. Ein Osterhase in einer europäischen Richtlinie ist also etwas anderes als ein Hase neben Ihnen auf dem Hotelkopfkissen. Wenn "nicht ausschließbar" im Recht Verwendung findet, ist es ein Rechtsbegriff; wenn Sie zu Ihrer Frau sagen, es werde demnächst "nicht ausschließbar" regnen und sie solle einen Schirm zum Spaziergang mit dem Hund Rudi mitnehmen, dann ist es kein Rechtsbegriff. Hiermit sollte dieser Blödsinn, wenn es geht, in Ihrem eigenen Interesse hoffentlich erledigt sein.

Dr. Rübenach schrieb:

Wenn "nicht ausschließbar" im Recht Verwendung findet, ist es ein Rechtsbegriff;

Das halte ich, mit Verlaub, für Quatsch. Welche "rechtliche Aufladung" soll "nicht ausschließbar" im Zusammenhang mit dem Recht haben? Es handelt sich schlicht um deutsche Begriffe, die in einem rechtlichen Zusammenhang verwendet werden. Ihre Bedeutung ändert sich dadurch aber nicht. Im Gegensatz etwa zu in dubio pro reo, was eine sehr spezifische rechtliche Bedeutung hat. Es mag eine allgemeinsprachliche Vorstellung geben, dass jeder irgendwie geartete Zweifel einen Freispruch nach sich zieht. Das ist rechtlich aber eben nicht der Fall, weil in dubio pro reo eine sehr spezifische prozessrechtliche Situation voraussetzt - nämlich das nach Überzeugung des Gerichts ein Zweifel verbleibt, ob Sachverhaltsvariante A oder B vorliegt.

5

Wenn "nicht ausschließbar" im Recht Verwendung findet, ist es ein Rechtsbegriff

Das hat aber lange gedauert, bis Sie nun endlich dieses Kriterium formuliert haben. Aber immerhin: besser lange als nie. Für den Anfang ein brauchbarer Ansatz.

Dr. Rübenach schrieb:

Haben Sie oben nicht gelesen, was ich aus dem Rechtslexikon eigens für Sie wörtlich zitiert habe?

Er kann überwiegend Begriff der besonderen Rechtssprache oder überwiegend Begriff der Allgemeinsprache sein. Er kann sehr abstrakt oder sehr konkret sein.

Ihre Definition aus dem dem Deutschen Rechts Lexikon ist unzulänglich. Denn dort wird nicht erklärt, woran man einen Rechtsbegriff erkennt und was einen Rechtsbegriff zu einem solchen macht. Vielleicht gönnen Sie sich mal einen Grundkurs in Methodologie.

Das ist ein brauchbarer Anfang ...

Dr. Rübenach schrieb:

Einen "Rechtsbegriff" erkennt man im Unterschied zu einem anderen daran, dass er (auch, überwiegend oder ausschließlich) im Zusammenhang mit Recht Verwendung findet und dadurch rechtlich aufgeladen wird. Ein Osterhase in einer europäischen Richtlinie ist also etwas anderes als ein Hase neben Ihnen auf dem Hotelkopfkissen. Wenn "nicht ausschließbar" im Recht Verwendung findet, ist es ein Rechtsbegriff; wenn Sie zu Ihrer Frau sagen, es werde demnächst "nicht ausschließbar" regnen und sie solle einen Schirm zum Spaziergang mit dem Hund Rudi mitnehmen, dann ist es kein Rechtsbegriff. Hiermit sollte dieser Blödsinn, wenn es geht, in Ihrem eigenen Interesse hoffentlich erledigt sein.

... wenn auch noch nicht hinreichend konkret und operational. Und deshalb ist die Dikussion noch nicht erledigt. Also: Sie sind immer noch gefordert.

 

 

 

@I.S. #12

Ja, so ist das auch richtig.

Wenn man aber Anhänger der Tenorbeschwer ist - ausnahmsweise nur der isolierten Beschwer, man den Zweck des Strafverfahrens zum Hauptargument macht, Strafe im konkreten Verfahren aber ausgeschlossen ist und Maßregel kaum in Betracht kommt, dann muss man sich doch konsequent auch fragen, wozu dann die Mühe mit Zeugenvernehmung, dazu noch solcher von Hörensagen, wozu das 100-seitige "Theater" zu Tat- und Unrechtsfeststellung. Man könnte den Sachverständigen zuerst anhören. Sein Gutachtenauftrag ist ja auf die hypothetische Tatbegehung gerichtet. Wenn er dann auf Nachfrage des Gerichts das Vorliegen der Schuldunfähigkeit nicht ausschließen kann, dann ist das Strafverfahren damit schon erledigt. Denn dann ist auch die Maßregelanordnung ausgeschlossen. Also: Freispruch bei offener Tat und nicht ausschließbarer Schuldunfähigkeit. Ist zwar bedenklich, aber offensichtlich zweckdienlich. Freispruch ist Freispruch. Keine Beschwer. Wird der Angeklagte wegen nicht ausschließbarer Schuldunfähigkeit freigesprochen, dann ist immer noch besser für ihn, die Tat bleibt offen, als dass sie festgestellt wird. 

Freispruch (statt Einstellung) bei offener Tat klingt m.E. schon etwas irre. Aber auch so etwas gibt es. Die Tenorbeschwer macht das möglich.

Quote:
und dies dann als Vorteil zu deklarieren
Es wird nicht als Vorteil deklariert, sondern nach BGH ist es ein nicht ausreichender Nachteil. Ein gewaltiger Unterschied.

Quote:
Die Beschwer wiederum ist an das unklare "zugunsten" gekoppelt.
Das "zugunsten" in § 296 StPO ist vollkommen klar. Was reden Sie da? Die STA darf immer Revision einlegen, sie muss im Gegensatz zum Angeklagten nicht beschwert sein.

Quote:
Die Tenorbeschwer ist letztlich nur das Folge-Vehikel, mit dem sich RM-Gerichte auf dieser Basis ungeliebte Arbeit und rechtsstaatliche Klärung fernhalten.

Das ist Ihre Behauptung. Die Tenorbeschwer lässt sich durch Auslegung aus dem Gesetz herleiten, ob Ihnen das nun gefällt oder nicht.

Was die Grundlagen und Methoden der Rechtswissenschaft angeht, Grundlage ist das Gesetz, weil das in der Verfassung steht. Innerhalb des Gesetzes gibt es anerkannte Auslegungsmethoden um Unklarheiten zu kären: die nach Wortlaut, historische Auslegung, systematische Auslegung und teleologische Auslegung. Das Auslegungsergebnis muss man dann noch am höherrangigen Recht überprüfen, z.B. verfassungskonforme Auslegung. Innerhalb dieser Grenzen kann jeder Für und Wider abwägen, wie er es für richtig hält. Das ist der Spielraum, den der Gesetzgeber dem Rechtsanwender gibt. Wenn dem Gesetzgeber nicht gefällt, was der Rechtsanwender da auslegt, kann er jederzeit das Gesetz ändern.

5

Um den mitmenschlichen, empathischen Bezug zu dem existenziell betroffenen Herrn Gustl Mollath herzustellen möchte ich einbringen, dass sich G.M. eindeutig und vorrangig durch die psychiatrisierende gerichtliche Feststellung einer nicht ausschließbaren seelischen Abartigkeit schwerwiegend und für sein ganzes Leben beschwert fühlt und dies nachvollziehbar und auch zu Recht.

Ack, Menschenrechtler! So konkreten Dinge, gar auf den Fall Mollath bezogen! Die Herren befinden sich in zutiefst pseudowissenschaftlichen begrifflichen Findungsphasen!

Mitmenschlich! Empathisch! Hier geht es um

Regelsystem (~ Systemtechnologie), deren Anwendbarkeit (~Systemtechnik) und produktive Nutzung (~Systemkonfiguration)

Das verstehen Sie nicht?

Das Wort System können Sie auch durch Struktur ersetzen, um es nicht nur als maschinell-technisch, sondern auch menschlich-organisatorisch zu erkennen.  

Alles klar?  ;-)

 

Spaß beiseite:

Ich finde es ganz bemerkenswert, wie Sie, Herr Lippke, sich bemühen, sich das Rechtswesen von Ihrer "Welt" her kommend zu erschließen - ich meine das wirklich nicht ironisch!

Verdächtigungen und Feststellungen der Polizei, StA und des Strafgerichts zu Verhalten und Taten eines Bürgers belasten den Verdächtigten bereits ohne Feststellung der Rechtswidrigkeit einer Tat. Wer ohne triftigen Grund das Verhalten eines Bürgers erforscht und öffentlich feststellt, verletzt dessen Privatsphäre. Das beschwert den Verdächtigten oder Erforschten. Es braucht vor der Erforschung einen hinreichenden Verdacht zur Rechtswidrigkeit der Tat, so dass das Recht des Verdächtigten auf Privatsphäre dem Recht auf staatliche Strafverfolgung unterliegt. War der Anlass der Verdächtigung hinreichend für die Erforschung und eventuelle Eingriffe in das Privatleben? Eine Beschwer, die zu prüfen ist.

Hiermit haben Sie - so hoffe ich - verstanden, daß eine Einstellung des (wiederaufgenommenen - also auf den Stand vor dem 6.8.2006 zurückgeworfenen) Verfahrens nicht nur dem Rehabilitationsinteresse Mollaths widersprochen hätte, sondern auch gegen Art. 19 Abs. 4 GG verstoßen hätte.

Die Rechtmäßigkeit der Vorermittlungen, Ermittlungen und der Anklageerhebung wurden bereits durch das Amtsgericht geprüft und mit dem Eröffnungsbeschluß für Recht befunden. Schnee von gestern, denn das Verfahren wurde wegen der Möglichkeit der Maßregel der Sicherung und Besserung an das Landgericht abgegeben.

An diesem Punkt setzte also das Wiederaufnahmeverfahren neu an..
Nun gab es eine neue Hauptverhandlung mit Entscheidung (hier: Freispruch), damit also eine Beschwer nach Art. 19 Abs. 4 GG nicht mehr.
Möglicherweise gibt es aber eine andere Beschwer, die die Verteidigung suchte, aber aus Sicht des BGH nicht fand. Nicht im Tenor und auch nicht in Ausnahmen, die das Gesetz und seine bisherige Auslegung (Literatur, Rechtsprechung) kennen.

Game over, sollte man sagen.

Möchte man eine Beschwer - Voraussetzung für die Zulässigkeit einer Revision - finden, muß man dies nicht aus Sicht des Sich-beschwert-Fühlenden begründen können, sondern aus Sicht einer "Allgemeingültigkeit", die möglichst allen Aspekten eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens gerecht (!) wird, das haben Sie mit Hilfe von I.S. insoweit gut erarbeitet, denke ich.

Eine gute Definition gibt es hier (2 BvR 2628/10,  RN 56):

Aufgabe des Strafprozesses ist es, den Strafanspruch des Staates um des Schutzes der Rechtsgüter Einzelner und der Allgemeinheit willen in einem justizförmigen Verfahren durchzusetzen und dem mit Strafe Bedrohten eine wirksame Sicherung seiner Grundrechte zu gewährleisten. Der Strafprozess hat das aus der Würde des Menschen als eigenverantwortlich handelnder Person und dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Prinzip, dass keine Strafe ohne Schuld verhängt werden darf, zu sichern und entsprechende verfahrensrechtliche Vorkehrungen bereitzustellen. Zentrales Anliegen des Strafprozesses ist die Ermittlung des wahren Sachverhalts, ohne den sich das materielle Schuldprinzip nicht verwirklichen lässt. Dem Täter müssen Tat und Schuld prozessordnungsgemäß nachgewiesen werden. Bis zum Nachweis der Schuld wird seine Unschuld vermutet.

http://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/rs20130319_2bvr262...

Darin steckt viel:

Ermittlung des wahren Sachverhalts
keine Strafe ohne Schuld
Nachweis der Schuld
Strafanspruch des Staates
Schutz der Rechtsgüter Einzelner und der Allgemeinheit
...

 

Ihr Argument in #19

Sie gehen bei der Beurteilung eigentlich von den Interessen des BGH aus, versuchen aber die Begründung in der Interessenlage des Betroffenen zu finden.

geht also schon gedanklich fehl, indem Sie ein "Interesse des BGH" unterstellen - außer Sie unterstellten a priori eine Nicht-Rechtstaatlichkeit des BGH oder des Urteils.

Ich verstehe Ihr Problem here:

Ein Problem habe ich tatsächlich nur mit dem unklaren "zugunsten", nämlich wenn "zugunsten" wie bei der Beschwer oder dem § 20 StGB nur aus Sicht des Strafens vermutet wird.

Auf der einen Seite ist es nicht korrekt zu sagen, daß eine Beschwer "nur aus Sicht des Strafens vermutet wird", das beweist gerade die ausführliche Begründung des BGH, auf der anderen Seite ist es aber möglich, daß der BGH eine Beschwer anderer Art nicht gefunden haben könnte, weil er nicht darauf hingewiesen wurde.

Nach dieser Beschwer, vor allem aber nach einer vielleicht vorhandenen weiteren Möglichkeit für Mollath, wird doch hier in der Diskussion gesucht, soweit ich verstehe?

 

Ich hatte hier zwei Anregungen gegeben, die bisher nicht wirklich diskutiert wurden - vielleicht sind sie inzwischen für Sie verständlicher?

http://blog.beck.de/2015/12/09/fall-mollath-bgh-verwirft-revision?page=8...

http://blog.beck.de/2015/12/09/fall-mollath-bgh-verwirft-revision?page=9...

 

 

5

@ Zuhörer #30

Die Differenzen oder Missverständnisse zwischen Menschenrechtler und mir, wie Sie sie andeuten, sehe ich bisher nicht. Der Fokus der Herangehensweise ist verschieden, aber nicht gegensätzlich. Während Menschenrechtler vom Einzelfall ausgehend grundlegende und praktische Fragen an das Strafrecht stellt, fokussiere ich Fragen zu den (wissenschaftlich-) rechtlichen Grundlagen des Strafrechts, um den Einzelfall zu erfassen. Beides hat seine Berechtigung und stört sich in einer sachlichen Diskussion nicht wesentlich.

Der Rechtsstaat ist ein Regelsystem oder eine Regelstruktur, je nachdem ob man eher das Sachenrecht (Gesetze und Auslegungsregeln) oder das Prozessrecht (Instanzen, Beteiligte) fokussiert und mit welchen Methoden man analysiert. In der Wissenschaft und deren Anwendungspraxis gibt es ausgereifte Methoden, aus denen für jede Art solcher Systeme und Strukturen nützliche Analysen gewonnen werden können. Eine reine Textwissenschaft mit Begrenzung auf Textauslegung kenne ich nicht und bezweifle die Begründetheit einer solchen Beschränkung.

Um das anschaulich am Einzelfall zu skizzieren, stellen Sie sich den Fall GM als Kartenspiel vor. Es wäre ja wohl nicht das erste Kartenspiel, in dem es um sehr viel geht. Für den allgemeinen Typ Kartenspiel gibt es Grundsätze/Technologien, damit ein spielbares Kartenspiel überhaupt entwickelt oder die Spielbarkeit eines vorhandenen Kartenspiels analysiert werden kann. Nennen wir das die Kartenspieltheorie (Technologie). Ein bestimmtes Kartenspiel stellt ein konkretes Regelsystem dar, wie mit den Karten allgemeingültig umzugehen ist, also welche Zwänge und Optionen bestehen und welche Ergebnisse erzielt werden können (Kartenregelsystem). Der Fall GM wäre demnach die konkrete Anwendung dieses Kartenregelsystems, das nach der Kartenspieltheorie entwickelt wurde und / oder mit dieser analysierbar ist.

Wenn Sie nun z.B. den wesentlichen Unterschied zwischen der Theorie des Allgemeinheitsgrundsatzes (Jura) und der Allgemeingültigkeit (Wissenschaft) als Problem in die Kartenspieltheorie übertragen und daraus Folgerungen für das konkrete Kartenspiel ziehen, werden Sie erhebliche Auswirkungen feststellen können. Ob man zuerst die Probleme wahrnimmt und dann über das Regelsystem zu Fragen in der Theorie kommt oder bereits aus der Theorie Widersprüche und praktische Probleme erarbeitet, ist daher keine grundsätzliche Frage. Vielmehr kommt es darauf an, solche Analysen nicht grundsätzlich zu verweigern. Es geht dabei also nicht um "meine Welt".

Eine Einstellung des Verfahrens mit Zustimmung des Beschuldigten hätte keinen Verstoß gegen das Rehabilitationsinteresse des Beschuldigten dargestellt und ist grundsätzlich in jeder Verfahrenslage möglich. Wie Sie erneut verkennen, betrifft diese Argumentation aber nicht eine praktische Forderung nach Einstellung, sondern der Argumentation und Konsequenz gem. WR Kolos in #22. Das wurde ausgiebig diskutiert und wird leider immer noch verkannt.

Sie setzen das WAV am Eröffnungsbeschluss des AG an und erklären Vorheriges als erledigt. Das ist falsch. Das Gericht kann auch nach der Eröffnung feststellen, dass alles Mumpitz ist und das Verfahren dann auf verschiedenen Wegen einstellen, den Angeklagten rehabilitieren und (leider karg) entschädigen. Außerhalb des Strafverfahren kann es sogar zu zivilrechtlichem und strafrechtlichem Vorgehen gegen Anzeigende und theoretisch auch gegen Ermittelnde kommen (siehe Fall Arnold).

Hier war in der WAV ein Strafanspruch ausgeschlossen, Maßregel zumindest sehr unwahrscheinlich. Es ging also um Aufklärung und Rehabilitation und nicht um die Prüfung und Durchsetzung eines Strafanspruchs. Genau das verleugnet der BGH mit seiner formalen Beschränkung auf die Tenorbeschwer, die allein am Zweck des Verfahren "Strafanspruch" hängt. Der BGH nennt sein Eigeninteresse "Prozessökonomie". Die ausführliche Begründung des BGH repetiert dieses Eigeninteresse nur so oft mit sich selbst, das man den Eindruck einer Selbstverständlichkeit gewinnen kann. So funktioniert auch Werbung. Heute schon Red-Bull-mäßig Flügel bekommen oder schlicht übersüßtes Bonbonwasser getrunken? Wollen wir das erneut alles durchforsten?

In der Frage Beschwer trennt uns Grundsätzliches. Ihre verlinkten Anregungen sind natürlich trotzdem bedenkenswert und hatte ich auch zeitgerecht erfasst. Nur bin ich nicht Verteidiger und auf den sichersten Weg im konkreten Verfahren beschränkt. Deshalb darf ich wohl durchaus Grundsätzlicher hinterfragen und Ihre kleinere Lösung für mich hintenanstellen.    

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Lutz Lippke schrieb:

Eine Einstellung des Verfahrens mit Zustimmung des Beschuldigten hätte keinen Verstoß gegen das Rehabilitationsinteresse des Beschuldigten dargestellt

Schon deswegen, weil die Einstellung nur mit Zustimmung erfolgen kann.

Quote:

Hier war in der WAV ein Strafanspruch ausgeschlossen, Maßregel zumindest sehr unwahrscheinlich. Es ging also um Aufklärung und Rehabilitation und nicht um die Prüfung und Durchsetzung eines Strafanspruchs. Genau das verleugnet der BGH mit seiner formalen Beschränkung auf die Tenorbeschwer,

Das lässt sich hören (auch juristisch gesprochen).

Quote:

die allein am Zweck des Verfahren "Strafanspruch" hängt.

Das wiederum nicht, weil für die Tenorbeschwer die §§ 203, 244 StPO sprechen. § 203 StPO wird auch im Mollath Beschluss genannt.

Quote:
Der BGH nennt sein Eigeninteresse "Prozessökonomie".

Wäre mir beim lesen nicht aufgefallen, dass der BGH das so nennt.

Noch ein Gedanke: Eine Zulässigkeitsvoraussetung hat immer eine irgendwie geartete Filterfunktion. Z.B. die Frist zur Einlegung der Revision. Alle, die sich nicht schnell genug entscheiden, sind außen vor. Da kann das Urteil noch so falsch sein. Wenn es eine Beschwer gibt, dann muss die auch irgendeine Filterfunktion erfüllen. Die Tenorbeschwer tut das. Die Urteilsbeschwer im Sinne von Hr. Kolos auch, weil der die Beschwer auf grundrechtsrelevante Eingriffe beschränkt. Welche Filterfunktion hat die Beschwer noch, wenn man sie sogar auf den Dieb ausweitet - wenn ich sie richtig verstanden habe befürworten sie das -, bei dem kein Unrecht (Definition: Tatbestandserfüllung + Rechtswidrigkeit) festgestellt wurde? Dann ist man bei einem allgemeinen Überprüfungsanspruch, der sich aber nicht mit der vom Gesetz vorausgesetzten Beschwer, die beim Angeklagten vorhanden sein muss, in Einklang bringen lässt. Denn dann macht es keinen Sinn, warum der Gesetzgeber in das Gesetz schreibt, dass die STA ohne Beschwer rechtsmittelberechtigt ist.

Wenn man an dem Punkt angelangt ist, kann man sich überlegen, ob man die Tenorbeschwer mit Ausnahmen (§ 20 StGB, isolierte Beschwer) will oder die Unrechtsbeschwer in irgendeiner Form mit geeigneten Kriterien wieder einschränkt. Solange die Ausnahmen von der Tenorbeschwer sich an einer Hand abzählen lassen kann man der Tenorbeschwer jedenfalls nicht vorwerfen sie sei unsystematischer als die Urteilsbeschwer. Denn die Urteilsbeschwer muss erstmal begründen, warum sich aus dem gesamten Urteil eine Beschwer ergeben kann, dann aber irgendwie doch wieder nicht jeder Nachteil zählt sondern z.B. nach Hr. Kolos nur die Grundrechte.

Dem Angeklagten dürfte das alles jedenfalls herzlich egal sein, solange er seine Revision kriegt.

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@ Dr. Sponsel #33

Ich verweise auf

Gast schrieb:

Dr. Rübenach schrieb:

Wenn "nicht ausschließbar" im Recht Verwendung findet, ist es ein Rechtsbegriff;

Das halte ich, mit Verlaub, für Quatsch. Welche "rechtliche Aufladung" soll "nicht ausschließbar" im Zusammenhang mit dem Recht haben? Es handelt sich schlicht um deutsche Begriffe, die in einem rechtlichen Zusammenhang verwendet werden. Ihre Bedeutung ändert sich dadurch aber nicht. Im Gegensatz etwa zu in dubio pro reo, was eine sehr spezifische rechtliche Bedeutung hat. Es mag eine allgemeinsprachliche Vorstellung geben, dass jeder irgendwie geartete Zweifel einen Freispruch nach sich zieht. Das ist rechtlich aber eben nicht der Fall, weil in dubio pro reo eine sehr spezifische prozessrechtliche Situation voraussetzt - nämlich das nach Überzeugung des Gerichts ein Zweifel verbleibt, ob Sachverhaltsvariante A oder B vorliegt.

Nach der Definition von Dr. Rübenach wäre auch "ist" ein Rechtsbegriff, weil er im Recht verwendet wird.

Ich sehe den Vergleich zur Sprache als einem historisch entstandenen und sich entwickelnden System von Zeichen und Regeln, das einer Sprachgemeinschaft als Verständigungsmittel dient. Genauso dient die Rechtssprache, auf die der Duden bei seiner Definition von Rechtsbegriff übrigens Bezug nimmt, der Verständigung von Juristen.

Daraus folgt, dass es sich um einen Rechtsbegriff handelt, wenn es eine juristische Definition gibt. Gibt es keine, handelt es sich schlicht um deutsche Begriffe.

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Woran erkennt man eine juristische Definition?

Gast schrieb:

@ Dr. Sponsel #33

Daraus folgt, dass es sich um einen Rechtsbegriff handelt, wenn es eine juristische Definition gibt. Gibt es keine, handelt es sich schlicht um deutsche Begriffe.

Ihr Vorschlag lautet, wenn ich Sie richtig verstanden habe: Ein Rechtsbegriff liegt vor, wenn es zu seinem Inhalt eine - (mindestens einzge?, hM?) - juristische Definition gibt. Das führt sofort zur nächsten Frage: woran kann man eine juristische Definition erkennen? Muss sie "richtig" definiert sein? Woran erkennt man "richtig definierte" juristische Definitionen?

Gibt es denn beispielsweise zu "nicht ausschließbar" eine juristische Definition?

 

RSponsel schrieb:

Woran erkennt man eine juristische Definition?

Gast schrieb:

@ Dr. Sponsel #33

Daraus folgt, dass es sich um einen Rechtsbegriff handelt, wenn es eine juristische Definition gibt. Gibt es keine, handelt es sich schlicht um deutsche Begriffe.

Ihr Vorschlag lautet, wenn ich Sie richtig verstanden habe: Ein Rechtsbegriff liegt vor, wenn es zu seinem Inhalt eine - (mindestens einzge?, hM?) - juristische Definition gibt. Das führt sofort zur nächsten Frage: woran kann man eine juristische Definition erkennen? Muss sie "richtig" definiert sein? Woran erkennt man "richtig definierte" juristische Definitionen?

Gibt es denn beispielsweise zu "nicht ausschließbar" eine juristische Definition?

Eine juristische Definition von "nicht ausschließbar" ist mir nicht bekannt. In § 323a StGB handelt es sich bei dem "nicht auszuschließen" (übrigens nicht ganz dasselbe wie "nicht ausschließbar" ;) ) nicht um einen Rechtsbgegriff. Der Gesetzgeber verwendet dort mit "nicht auszuschließen" einen Teil der juristischen Definition von in dubio pro reo, um i.d.p.r. zu umschreiben. Alternativ hätte der Gesetzgeber schreiben können "weil er infolge des Rausches schuldunfähig war oder weil dies vom Gericht im Zweifel für den Angeklagten zu unterstellen war", was aber m.E. wesentlich unhandlicher und unverständlicher ist.

Eine Definition reicht m.M.n. Es muss nicht h.M. sein.

Woran man eine juristische Definition erkennen kann, kann man genauso wenig abstrakt definieren wie "Rechtsbegriff". Ein guter Anhaltspunkt ist, ob es in einem Rechtslexikon steht. Aber ein Rechtsbegriff kann unter Juristen üblich sein, bevor er ins Lexikon aufgenommen wurde. Das erwähnte IT-Grundrecht wurde nach der dazugehörigen BVerfG Entscheidung sicherlich in Juristenkreisen als Rechtsbegriff gebraucht, bevor es Einzug in die Rechtslexika finden konnte. Die Fachsprache ist da nicht anders als die Allgemeinsprache, wie bereits ausgeführt.

Ersetzen Sie in Ihren Fragen juristisch einmal durch deutsch: Woran kann man eine deutsche Definition erkennen? Muss sie "richtig" definiert sein? Woran erkennt man "richtig definierte" deutsche Definition? Wenn Sie darauf eine andere Antwort haben als "der Duden gilt", könnte man auf der Basis vielleicht eine Definition des Rechtsbegriffs entwickeln.

Alternativ fragen Sie einen Mediziner, woran man den Medizinbegriff erkennt. Eine andere Antwort als ein mehr oder weniger wortreicher Verweis auf den Pschyrembel würde mich wundern.

Oder vielleicht kann uns Herr Lippke abstrakt den Informatikbegriff definieren.

Falls das nicht möglich sein sollte, zieht sich entweder die methodische Anarchie durch sämtliche Wissenschaften. Oder Sie stellen die falschen Fragen.

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Nicht ausschließen können und nicht ausschließbar

Gast schrieb:

RSponsel schrieb:

Woran erkennt man eine juristische Definition?

Eine juristische Definition von "nicht ausschließbar" ist mir nicht bekannt. In § 323a StGB handelt es sich bei dem "nicht auszuschließen" (übrigens nicht ganz dasselbe wie "nicht ausschließbar" ;) ) ... 

Wenn Sie das unterscheiden, können Sie sicher erklären, wie Sie das machen und worin der Unterschied Ihrer Meinung nach besteht ;))

Ganz einfach: Sie müssen das Wort, das Rechtsbegriff sein soll, nur mit "_§" indizieren und ihm, dem sog. Definiendum mit "=def" das Definiens, also den Inhalt, wodurch es definiert wird, zuweisen

Gast schrieb:

Woran man eine juristische Definition erkennen kann, kann man genauso wenig abstrakt definieren wie "Rechtsbegriff".

Nein, ganz einfach: Sie müssen das Wort, das Rechtsbegriff sein soll, nur mit "_§" indizieren und ihm, dem sog. Definiendum mit "=def" das Definiens, also den Inhalt, wodurch es definiert wird, zuweisen; es geht aber natürlich auch mit Umschreibungen, wenn auch viel umständlicher.

Beispiel: Nicht ausschließbar_§ =def ein Sachverhalt, der möglich, wenn auch nicht wahrscheinlich ist; er könnte der Fall sein. In diesem Fall gilt wahrscheinlich:

Nicht ausschließbar_§ = Nicht ausschließbar [ohne Index bedeutet unklarer Begriffsbezug] = Nicht ausschließbar_? ["?" bedeutet explizit unklarer Begriffsbezug]= Nicht ausschließbar_a = Nicht ausschließbar_b = Nicht ausschließbar_physik = Nicht ausschließbar_mathe = Nicht ausschließbar_wiss = Nicht ausschließbar_fpsy = Nicht ausschließbar_psychiat = Nicht ausschließbar_psy = ...

 

Anmerkung: Schwieriger wird es mit den unbestimmten Rechtsbegriffen/ Generalklauseln.- Aber dieses Fass möchte ich im Moment lieber nicht aufmachen, obwohl es natürlich besonders spannend ist.

 

Gast #35 schrieb
"Daraus folgt, dass es sich um einen Rechtsbegriff handelt, wenn es eine juristische Definition gibt. Gibt es keine, handelt es sich schlicht um deutsche Begriffe."

Was sie meinen, ist eine "Legaldefinition". Legaldefinierte Rechtsbegriffe sind jedoch nur eine Teilmenge aller Rechtsbegriffe. Es gibt auch Rechtsbegriffe, die nicht legal definiert sind, wie z. B. "Rechtsstaat" etc.

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Gast schrieb:

Gast #35 schrieb
"Daraus folgt, dass es sich um einen Rechtsbegriff handelt, wenn es eine juristische Definition gibt. Gibt es keine, handelt es sich schlicht um deutsche Begriffe."

Was sie meinen, ist eine "Legaldefinition". Legaldefinierte Rechtsbegriffe sind jedoch nur eine Teilmenge aller Rechtsbegriffe. Es gibt auch Rechtsbegriffe, die nicht legal definiert sind, wie z. B. "Rechtsstaat" etc.

Eine Legaldefinition ist eine Definition im Gesetz. In dubio pro reo z.B. ist nicht im Gesetz definiert, trotzdem hat es eine definierte juristische Bedeutung.

Rechtsstaat hat auch eine juristische Bedeutung, natürlich eine wesentlich konturlosere. Es würde mich aber wundern, wenn man Rechtsstaat nicht in einem Rechtslexikon finden würde.

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@ Lutz Lippke

Das liest sich ja alles ganz gut, nur eine praktische Handlungsalternative über ein "da müsste man mal irgendwie forschen" hinaus zeigen Sie nicht auf. Möglich, dass uns die Informatiker in 50 Jahren erklären, wie wir Juristen jahrzehntelang alles falsch gelesen haben. Bis dahin versuchen wir mit unserem Verstand den Gesetzestext auszulegen so gut uns das möglich ist.

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Gast #37 schrieb
Rechtsstaat hat auch eine juristische Bedeutung, natürlich eine wesentlich konturlosere. Es würde mich aber wundern, wenn man Rechtsstaat nicht in einem Rechtslexikon finden würde.

Aha. Sie meinen also, dass ein Begriff dann ein Rechtsbegriff ist, wenn er in einem Rechtslexikon auftaucht. Eine recht willkürliche Vorstellung, weil von Verlag zu Verlag und von Buch zu Buch unterschiedlich. Der Begriff "Rechtsbegriff" wäre hiernach kein Rechtsbegriff, weil er in Sponsels Rechtslexikon (s. o. #6) nicht auftaucht. Habe ich Ihren Gedanken wirklich richtig verstanden und wiedergegeben?

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Gast schrieb:

Gast #37 schrieb
Rechtsstaat hat auch eine juristische Bedeutung, natürlich eine wesentlich konturlosere. Es würde mich aber wundern, wenn man Rechtsstaat nicht in einem Rechtslexikon finden würde.

Aha. Sie meinen also, dass ein Begriff dann ein Rechtsbegriff ist, wenn er in einem Rechtslexikon auftaucht. Eine recht willkürliche Vorstellung, weil von Verlag zu Verlag und von Buch zu Buch unterschiedlich. Der Begriff "Rechtsbegriff" wäre hiernach kein Rechtsbegriff, weil er in Sponsels Rechtslexikon (s. o. #6) nicht auftaucht. Habe ich Ihren Gedanken wirklich richtig verstanden und wiedergegeben?

Nein.

Wenn der Begriff sich im Rechtslexikon findet, besteht Grund zu der Annahme, dass es sich um einen Rechtsbegriff handelt. Das bedeutet aber nicht zwingend, dass ein Begriff, der sich nicht dort findet, kein Rechtsbegriff ist.

Vergleichen Sie es mit dem Duden. Wenn ein Begriff im Duden steht, besteht Grund zu der Annahme, dass es sich um einen deutschen Begriff handelt. Wenn er nicht im Duden steht, heisst das aber nicht, dass es kein deutscher Begriff ist. Oder war Recycling vor der Aufnahme in den Duden 1980 kein im deutschen üblicher Begriff? Ich vermute man kann mehr Beispiele finden, wenn man will.

Genauso war das "Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme" ein Rechtsbegriff, hat also eine juristische Definition erfahren, bevor es in die Rechtslexika aufgenommen werden konnte.

Man kann den Rechtsbegriff m.E. genausowenig exakt definieren wie man einen "Deutschbegriff" definieren kann. Das eine ist Sprache, das andere ist Fachsprache. Beides unterliegt dem Wandel, ohne das man genau abstrakte Kriterien finden könnte, die die Zuordnung eines Begriffs zu einer Sprache ermöglichen. Der Wortschatz ergibt sich schlicht aus dem praktischen Gebrauch.

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Sehr geehrter Herr Sponsel,

ich dachte, das Thema wäre schon abgehakt. Auch wenn ich eine nur kleine Hoffnung habe, Sie zufrieden zu stellen, ich versuche es trotzdem, anknüpfend an den oben zitierten Ansatz: 

Rechtsbegriff ist ein Rechts(quellen)begriff oder ein mittels Auslegung gefundener Rechts(quellenunter)begriff mit abstrakt-genereller Bedeutung, der in juristischer Subsumtion im Obersatz Verwendung findet. Je nach Gebrauch kann z.B. "Tatsache" ein Rechtsbegriff sein (§ 263 StBG), aber auch ein Begriff mit konkreter Bedeutung, der einen konkreten Lebenssachverhalt beschreibt und allenfalls im Untersatz geprüft wird.

 

"Nicht-ausschließbar" ist mir bisher in den Strafrechtsnormen weder als Begriff, noch als Unterbegriff begegnet. Im konkreten Fall wird "Nicht-ausschließbar" im Urteil des LG Regensburg zur Beschreibung eines konkreten Lebenssachverhalts gebraucht - als Ergebnis der Beweisaufnahme.

Urteil des LG Regensburg (S. 69):

Die [...] getroffenen Feststellungen, insbesondere zum
nicht ausschließbaren Vorliegen einer [Tatsache] beruhen auf einer Gesamtschau des Ergebnisses der Beweisaufnahme, [...]

Es ist für die Kammer nachvollziehbar, wenn der Sachverständige von einem nicht ausschließbaren Vorliegen einer [Tatsache] ausgeht

 

WR Kolos schrieb:

"Nicht-ausschließbar" ist mir bisher in den Strafrechtsnormen weder als Begriff, noch als Unterbegriff begegnet.

Sehr geehrter Herr Kolos,

falls Sie § 323a StGB als Strafrechtsnorm anerkennen können, sollten Sie sich revidieren (fett-kursiv RS).

(1) Wer sich vorsätzlich oder fahrlässig durch alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel in einen Rausch versetzt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wenn er in diesem Zustand eine rechtswidrige Tat begeht und ihretwegen nicht bestraft werden kann, weil er infolge des Rausches schuldunfähig war oder weil dies nicht auszuschließen ist.

 

@ I.S.

Grundsätzlich wird die Theorie der Tenorbeschwer angewandt. Wenn sich allerdings objektive rechtliche Nachteile aus dem Gesamturteil ergeben (z.B. Eintragung in BZR), dann liegt auch darin eine Beschwer, die mit Rechtsmittel angegriffen werden kann.

Mit dieser Frage hat sich der BGH in RN 13 auseinandergesetzt und verweist zutreffend auf einschlägige Kommentare, denen Sie für einen solchen Vorschlag zunächst inhaltlich entgegentreten müßten.

Eine Beschwer liegt vor, wenn das Urteil die Begehung einer rechtswidrigen Tat feststellt, unabhängig davon, ob es zu einer Verurteilung kommt.

Dieser Vorschlag würde also alle Freisprüche der Fälle § 17 ff. betreffen. Das hieße jedoch, daß man das Grundprinzip des Strafrechts, nämlich die "Dreieinigkeit" (Tatbestand, Rechtswidrigkeit, Schuld) auseinanderreißen würde, in diesen Fällen sogar ausdrücklich dem Schuldprinzip widersprechen würde.
Gänzlich absurd wäre eine solche Definition sogar in den meisten dieser Fälle, bei denen sich nämlich ein Angeklagter selbst auf Irrtum oder Schuldunfähigkeit beruft.

Und: Warum sollte diese Regel nicht auch bei Rechtfertigungsgründen greifen? Dem Angeklagten wird aufgrund von Zeugenaussagen Notwehr zugestanden, der aber sagt, das alles habe gar nicht stattgefunden, er fühle sich durch diese ehrabschneidende Behauptung, er habe irgendjemand verprügelt, beschwert. Ist der dann aus Ihrer Sicht weniger beschwert als der, dem Irrtum oder Schuldunfähigkeit zugestanden wird, den Tatbestand aber ebenso bestreitet? Was ist bei Verjährung oder anderen fehlenden Strafbarkeitsvoraussetzungen? Auch da träfe Ihre Regel zu.

Das Problem entsteht im Grunde realistischerweise nur dann, wenn der Angeklagte sich nicht selbst auf Rechtfertigungsgründe oder Schuldausschließungsgründe beruft, weswegen ich den Hinweis von "Zuhörer" auf das englische Recht sehr interessant fand, das ich aber nicht kenne.

 

@ Lippke

Das Leben ist nicht nur kein Ponyhof, sondern auch kein Kartenspiel: Täglich bekommt die Justiz eine neue, vorher nicht existierende Karte ausgeteilt. Man kann darum nicht täglich die Regeln (Gesetze) ändern, sondern muß die Regeln und ihre Auslegung viel offener als bei einem Kartenspiel handhaben, dabei aber versuchen, das Grundprinzip des Kartenspiels nicht zu verletzen. Dazu muß man die Regeln und die der Auslegung zugrundeliegenden Prinzipien verstanden haben. Darum sollten Sie sich bemühen, bevor Sie sich ans Programmieren machen. ;-)

 

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