Kein "landesverfassungsrechtliches Fortsetzungsfeststellungsinteresse" nach aufgehobener vorläufige Fahrerlaubnisentziehung

von Carsten Krumm, veröffentlicht am 12.04.2023
Rechtsgebiete: Verkehrsrecht1|1251 Aufrufe

D. Leser*in ahnt es: So richtig sattelfest bin ich verfassungsrechtlich nicht. Vor allem nicht, wenn es um bayerisches Verfassungsrecht geht. Der Beschuldigte wehrte sich gegen eine vorläufige Fahrerlaubnisentziehung. Er tat dies auch vor dem BayVerfGH. Noch vor einer Entscheidung dort wurde die vorläufige Fahrerlaubnisentziehung aufgehoben. Ein weiteres Feststellungsinteresse bezüglich der Verfassungswidrigkeit der vorläufigen Entziehung vermochte der BayVerfGH nicht zu erkennen:

 

Mit der Aufhebung der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis hat sich die angegriffene Maßnahme erledigt. Für die Weiterführung des Verfahrens über die Verfassungsbeschwerde fehlt es an einem fortbestehenden Rechtsschutzinteresse.

 a) Nach ständiger verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung kann der Betroffene nach Erledigung einer gegen ihn gerichteten hoheitlichen Maßnahme deren Rechtmäßigkeit gerichtlich nur dann überprüfen lassen, wenn er ein noch im Zeitpunkt der Entscheidung des Verfassungsgerichts fortbestehendes Rechtsschutzinteresse geltend machen kann (vgl. BVerfG vom 17.5.2022 – 2 BvR 661/22 – juris Rn. 30). Wird der angegriffene Hoheitsakt zurückgenommen und ist der Beschwerdeführer im Zeitpunkt der Entscheidung nicht mehr unmittelbar verletzt, fehlt in der Regel das Rechtsschutzbedürfnis (vgl. VerfGH vom 29.6.1978 VerfGHE 31, 149/156; Müller in Meder/Brechmann, Die Verfassung des Freistaates Bayern, 6. Aufl. 2020, Art. 120 Rn. 56; Wolff in Lindner/Möstl/Wolff, Verfassung des Freistaates Bayern, 2. Aufl. 2017, Art. 120 Rn. 90). Lediglich ausnahmsweise kann in Einzelfällen dennoch ein Rechtsschutzbedürfnis zu bejahen sein (vgl. VerfGH vom 12.1.2022 – Vf. 55-VI-21 – juris Rn. 22; BVerfG vom 26.2.2003 NVwZ-RR 2003, 465; vom 3.11.2015 – 2 BvR 2019/09 – juris Rn. 23; vom 18.11.2018 – 1 BvR 1481/18 – juris Rn. 3 f.). Dieses kann sich aus einer Wiederholungsgefahr, einer fortwirkenden Diskriminierung oder im Zusammenhang mit der Verfolgung von Schadensersatzansprüchen ergeben. Es wird aber auch bei tiefgreifenden Grundrechtseingriffen angenommen, wenn die direkte Belastung sich auf eine Zeitspanne beschränkt, in welcher der Betroffene die gerichtliche Entscheidung in der von der Prozessordnung gegebenen Instanz kaum erlangen kann (VerfGH vom 28.2.2011 – Vf. 84-VI-10 – juris Rn. 39; vgl. auch BVerfG vom 17.5.2022 – 2 BvR 661/22 – juris Rn. 30; C. Grünewald in BeckOK BVerfGG, § 90 Abs. 1 Rn. 116 ff.).

 b) Ein fortbestehendes Rechtsschutzbedürfnis für die verfassungsrechtliche Prüfung der angefochtenen Beschlüsse lässt sich aus keinem der vorbezeichneten Gesichtspunkte herleiten.

 Nach dem Vorbringen in der Verfassungsbeschwerde kommt allenfalls eine fortwirkende Diskriminierung oder ein tiefgreifender, besonders schwerer Grundrechtseingriff in Betracht.

 aa) Konkrete Anhaltspunkte für eine fortwirkende Diskriminierung durch die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis sind nicht dargetan.

 (1) Die Beschwerdeführerin behauptet lediglich pauschal eine „erhebliche Herabsetzung“ und eine „fortdauernd diskriminierende Wirkung“, erklärt aber nicht konkret, worin diese liegen soll. Inwiefern das Ansehen der Beschwerdeführerin in der Öffentlichkeit durch den vorläufigen Fahrerlaubnisentzug herabgesetzt worden sein könnte, ist auch sonst nicht ersichtlich. Der Beschluss nach § 111 a StPO und die nachfolgenden Entscheidungen des Landgerichts wurden der Staatsanwaltschaft, der Polizei, der Fahrerlaubnisbehörde sowie der Beschwerdeführerin und ihrem Verteidiger mitgeteilt, nicht aber Außenstehenden offengelegt.

 (2) Nach Ansicht der verfassungsrechtlichen Literatur wird zudem die diskriminierende Wirkung einer Maßnahme regelmäßig dadurch beseitigt, dass diese von der Ausgangsbehörde aufgrund neu gewonnener Erkenntnisse zurückgenommen wird (Basty, Die sachliche Erledigung der Verfassungsbeschwerde, 2010, S. 257; Fröhlinger, Die Erledigung der Verfassungsbeschwerde, 1982, S. 175). Vorliegend hat die Staatsanwaltschaft mit Aktenvermerk vom 4. Oktober 2021 dem Amtsgericht die Ergebnisse der Nachermittlungen mitgeteilt und die Aufhebung des Beschlusses vom 15. Februar 2021 beantragt. Dem hat das Gericht entsprochen. Dass und aus welchem Grund dies ausnahmsweise nicht ausgereicht hätte, um eine etwaige Diskriminierung zu beseitigen, legt die Beschwerdeführerin nicht dar.

 bb) Von einem tiefgreifenden, besonders schweren Grundrechtseingriff kann nicht die Rede sein.

 (1) Als tiefgreifende und besonders schwerwiegende Grundrechtseingriffe lassen sich vornehmlich solche Eingriffe begreifen, die schon die Verfassung unter Richtervorbehalt gestellt hat (vgl. zu Art. 13 Abs. 2, Art. 104 Abs. 2 und 3 GG BVerfG vom 3.11.2015 – 2 BvR 2019/09 – juris Rn. 31; C. Grünewald, a. a. O., Rn. 118).

 Um einen derartigen Grundrechtseingriff geht es hier nicht. Nach dem Regelungsgehalt des § 111 a StPO kommt ein Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 101 BV) in Betracht. Diese Verfassungsnorm enthält ein Auffanggrundrecht (vgl. Lindner in Lindner/Möstl/Wolff, Verfassung des Freistaates Bayern, Art. 101 BV Rn. 1). Einen Richtervorbehalt sieht sie ebenso wenig vor wie die entsprechende Regelung des Grundgesetzes (Art. 2 Abs. 1 GG).

 (2) Ein tiefgreifender und besonders schwerwiegender Grundrechtseingriff ist darüber hinaus auch in Fällen möglich, in denen nicht die Verfassung, sondern das Gesetz einen Eingriff dem Richter vorbehält; dies deutet darauf hin, dass der Gesetzgeber von einem schweren Eingriff ausgeht und ihn deshalb grundsätzlich von einer richterlichen Entscheidung abhängig macht, damit schon bei der Anordnung der Maßnahme präventiver gerichtlicher Schutz gewährleistet ist (BVerfG vom 12.3.2003 BVerfGE 107, 299/338).

 § 111 a StPO sieht zwar eine Primärzuständigkeit des Richters vor; der Grund hierfür liegt jedoch nicht in der besonderen Schwere des Grundrechtseingriffs. Dies wird mit Blick auf § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG deutlich, wonach die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen hat, wenn sich jemand als ungeeignet oder nicht befähigt zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Der Grundrechtseingriff auf Grundlage dieser Norm – die gerade keinen Richtervorbehalt vorsieht, sondern es beim Regelfall (vgl. VerfGH vom 12.9.2016 – Vf. 12-VII-15 – juris Rn. 46) belässt, wonach der Richter die Exekutive erst nachträglich und auf Anrufung kontrolliert – ist nicht minder intensiv als derjenige bei einer Entziehung der Fahrerlaubnis auf strafrechtlicher Grundlage (§ 69 StGB). Dementsprechend weist auch die Primärzuständigkeit des Richters für die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 111 a StPO nicht darauf hin, der Gesetzgeber habe den Grundrechtseingriff als besonders schwerwiegend angesehen. Sie ist vielmehr vor dem Hintergrund zu sehen, dass für die Entziehung der Fahrerlaubnis das Strafgericht zuständig ist, wenn der anlassgebende Sachverhalt Gegenstand eines Strafverfahrens ist, ansonsten die Fahrerlaubnisbehörde (vgl. Koehl in M.er Kommentar zum Straßenverkehrsrecht, 2016, § 3 StVG Rn. 1).

 (3) Das Bild einer tiefgreifenden, besonders schwerwiegenden Grundrechtsbeeinträchtigung lässt sich auch nicht aus den Umständen des konkreten Falls herleiten.

 Die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis wird der Allgemeinheit weder vom Gericht noch von den am Verfahren beteiligten Behörden offengelegt. Die Beschwerdeführerin hat auch nicht vorgetragen, dass vorliegend die Öffentlichkeit hiervon Kenntnis erlangt hätte.

 Der in Rede stehende Grundrechtseingriff war für außenstehende Beobachter nicht unmittelbar wahrnehmbar. Anders als in der Öffentlichkeit durchgeführte Festnahmen oder Durchsuchungen von Personen, Fahrzeugen oder von Personen mitgeführter Sachen (vgl. dazu VerfGH vom 7.2.2006 VerfGHE 59, 29/40; vom 28.2.2011 – Vf. 84-VI-10 – juris Rn. 41) hat er diesen nicht das Bild eines hoheitlichen Eindringens in die Privat- und Intimsphäre der Beschwerdeführerin vermittelt.

 Ein tiefgreifender, besonders schwerwiegender Grundrechtseingriff ist auch nicht deswegen anzunehmen, weil die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis die Beschwerdeführerin unzumutbar in ihrer Mobilität und dadurch besonders schwerwiegend in ihrer Lebensführung eingeschränkt hätte.

 Die Beschwerdeführerin, die sich darauf beruft, sie sei in ihrem Alltag auf ihr Fahrzeug angewiesen und eine Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel sei ihr im Hinblick auf ihr Alter und „die Corona Situation“ nicht zumutbar gewesen, zählt zwar altersbedingt zur Gruppe der besonders vulnerablen Personen im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie. Ihr war es für die Dauer des vorläufigen Entzugs der Fahrerlaubnis auch untersagt, ihren Pkw selbst zu steuern. Sie hat jedoch nicht näher dazu vorgetragen, ob und gegebenenfalls aus welchen Gründen ihr bei Einhaltung der damals vorgeschriebenen Schutzmaßnahmen die Nutzung eines Taxis, anderer Fahrdienste oder die Inanspruchnahme von Lieferdiensten für Bedarfsgegenstände des täglichen Lebens unzumutbar war. Ebenso wenig lässt sich ihrem Vorbringen etwas dafür entnehmen, dass ihr das Zurücklegen kürzerer Fußwege zur Erledigung dringlicher Alltagsgeschäfte, etwa aufgrund körperlicher Einschränkungen oder fehlender Infrastruktur, unmöglich gewesen sei. Im Übrigen gehörte ein gewisses Infektionsrisiko mit dem Corona-Virus zeitweise für die Gesamtbevölkerung zum allgemeinen Lebensrisiko (vgl. BVerfG vom 19.5.2020 – 2 BvR 483/20 – juris Rn. 9).

BayVerfGH Entscheidung v. 15.2.2023 – Vf. 70-VI-21, BeckRS 2023, 2640 

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Da sieht man mal wieder, dass das Verfassungsgrecht auch nur herausgehobenes Verwaltungsrecht ist. Die Verwaltungsgerichte sind ähnlich zurückhaltend bei der Annahme eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses, was z.B. in Hamburg dazu führt, dass so man selbst schwerste Fehler bei der Beschilderung von Straßenbaustellen nur im Eilverfahren aus der Welt schaffen kann. Obwohl sich die Fehler Baustelle für Baustelle wiederholen, wird es da niemals ein Sachurteil in einem Hauptsacheverfahren geben. Entsprechend sehen die Baustellen z.B. für Radfahrer in Hamburg dann auch aus.

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