Bröckelnde Mittelschicht - droht Deutschland Chaos und Gewalt?

von Prof. Dr. Henning Ernst Müller, veröffentlicht am 16.06.2010

Eine Untersuchung des DIW (Goebel/Hornig/Häußermann: Polarisierung der Einkommen: Die Mittelschicht verliert, DIW) weist auf ein Abbröckeln der Mittelschicht in Deutschland hin. Grundlage dafür ist ein Blick auf die Einkommensentwicklung in verschiedenen Einkommensklassen. Je nach Haushaltsgröße wurden dabei Einkommen in untere, mittlere und höhere Regionen eingeordnet. Heraus gekommen ist, dass in den vergangenen 10 Jahren die mittleren Einkommen weniger, die geringeren dagegen mehr geworden seien.
Die Ergebnisse wurden gestern als "dramatisch" verbreitet. Dazu gehörte auch der Hinweis, dass der Abstand zwischen arm und reich auch einen Einfluss auf die Gewalthäufigkeit in einem Staat habe. Einige wiesen dementsprechend darauf hin, dass man in Deutschland befürchten müsse, dass Gewalt und unregierbare Zustände entstehen, sollte die Entwicklung einer abbröckelnden Mittelschicht  sich verschärfen (Quelle: Spiegel-Online).

Was ist davon zu halten?
Die Methode:
Es wurden vom Mittelwert aller Einkommen (Median, nicht Durchschnitt) ausgehend (im Jahr 2005 bei 1230 Euro Single, selbstverständlich liegen die Beträge entspr. höher für Familien), die Bezieher von nur 70 % dieses Wertes (860 Euro Single) und darunter als "untere" Einkommen, mind. 50% darüber (ab 1845 Euro Single) als "höheres" Einkommen klassifiziert. Die Werte wurden allerdings für die  Haushalte gewichtet (Erster Erw. zählt 1, weitere Erw. zählen 0,5/Kinder unter 14 0,3). Dies erscheint sinnvoll, da das Leben zu mehreren "günstiger" ist. Allerdings kann diese Gewichtung auch dazu führen, dass allein der Wechsel der Wohnform zu einer Verschiebung der Gruppen führt. Wer bei gleich bleibendem Einkommen in einen Singlehaushalt zieht, könnte damit aus der so definierten Mittelschicht herausfallen. Statistischer Anstieg der Singlehaushalte könnte so einen Teil des Bröckelns der Mittelschicht erklären. Dies wäre allerdings kein reiner "Artefakt", wie Ifo-Präsident Sinn heute in der FAZ meint (FAZ vom 16.06.2010, S. 9, hier). Schließlich kann Trennung/Scheidung durchaus zum ökonomischen Abstieg führen. Nur hat dies dann weniger mit der Entwicklung der Einkommen zu tun.

Die Befunde:
Das DIW kommt zum Ergebnis dass "langfristig vor allem die mittlere Einkommensgruppe kleiner geworden" sei. Nun hängt diese Bewertung davon ab, was man als "langfristig" bezeichnet. Schaut man sich die in der Quelle selbst veröffentlichte Grafik an, dann bleibt von einer wirklich langfristigen Entwicklung nicht viel: Die mittleren Einkommen schwanken seit  1993 zwischen 60 und 65 % Anteil, irgendein langfristiger Trend ist hier kaum erkennbar und hängt davon ab, welches Anfangs- und welches Endjahr man für diesen Trend wählt (vgl. Goebel/Gornig/Häußermann DIW , dort Grafik auf S.3). Die Autoren weisen auch noch auf einen anderen Messwert hin: Die Durchschnittseinkommen der jew. Gruppen strebten auseinander, also die Reichen würden durchschnittl. reicher, die Armen durchschnittl. ärmer. Auch hier hängt aber das Statuieren eines besorgniserregenden Trends erheblich von der Wahl von Anfangs- und Endjahr ab. In der Bildunterschrift zur Tabelle heißt es: "Die Einkommensdifferenzen haben seit der Jahrtausendwende stark zugenommen – und zwar in absoluten Zahlen ebenso wie im relativen Verhältnis." - Diese Bewertung wird durch die angegebenen Daten nicht gerechtfertigt. Aus den Daten ist beispielsweise erkennbar, dass der "dramatischste" Trend von 1998 bis 2006 bestand (der Abstand zw. mittl. Niedrig- und mittl. Hocheinkommen wuchs um 16 %), ganz wesentlich weniger dramatisch sieht es aus, wenn man etwa 1995 bis 2008 betrachtet (der Abstand wuchs nur um knapp 2 %), nimmt man 2003 zum Ausgangspunkt, dann hat sich seither der Abstand der durchschn. hohen und niedr. Einkommen sogar verringert , von 2000 bis 2009 schwankte das durchschn. Hocheinkommen um ca. 100 Euro, das Niedrigeinkommen um weniger als 50 Euro ohne klaren Trend!(Quelle:Goebel/Gornig/HäußermannDIW, dort  S.5, eigene Berechnung).

Dem entspricht es, wenn der so genannte GINI-Index, ein weiteres statistisches Maß für die Gleichverteilung von Einkommen, herangezogen wird: Im weltweiten Vergleich steht Deutschland in den letzten Jahren relativ gut da, mit Werten zwischen 25 und 30, nur ganz wenige Staaten (v.a. in Skandinavien) sind "gleicher" in ihrer Einkommenstruktur, die meisten erheblich ungleicher (Quelle: CIA world factbook).

Was ist dran an der Behauptung, ungleiche Verteilung führe zu Gewalt?
Dies ist in der Tat in der weltweit vergleichenden Kriminologie ein beobachtbarer Zusammenhang: Tendenziell führt eine ungleiche Verteilung, ein eklatanter Abstand zwischen arm und reich, auch zur vermehrten Gewalttätigkeit, Südafrika (GINI: 65) Brasilien (GINI: 56) sind Beispiele, auch USA (GINI:45) und Russland (GINI:42) haben ein sehr viel höheres Maß an Gewalt zu verkraften als Nord- und Westeuropa.

Aber es kommt dabei nicht nur auf "gerechte" Einkommensverteilung an, sondern auch auf Bildungs- und Aufstiegschancen. Wer in einer Wohlstandsgesellschaft einen größeren Anteil der Bevölkerung quasi vom Wohlstand ausschließt und auch für die Kinder kaum Chancen bereithält, der darf sich tatsächlich nicht über steigende Gewalt wundern. Insofern ist es für Deutschland besorgniserregend, dass eine große Zahl von  Familien dauerhaft und über mehrere Generationen auf soziale Ausgleichszahlungen angewiesen sind und dass der Zugang zur höheren Schulbildung relativ stark von der sozio-ökonomischen Lage der Herkunftsfamilie abhängt.

Also richtig: Der Abstand zwischen arm und reich ist auch ein wichtiger Faktor für Gewalttendenzen in einer Gesellschaft.
Aber man sollte für Deutschland die Kirche im Dorf lassen: Eine dramatische Veränderung in der Einkommensverteilung ist derzeit jedenfalls in den DIW-Daten nicht erkennbar.

update mit Details 16.06.

Diesen Beitrag per E-Mail weiterempfehlenDruckversion

Hinweise zur bestehenden Moderationspraxis
Kommentar schreiben

12 Kommentare

Kommentare als Feed abonnieren

Danke, dass Sie sich die Mühe gehabt haben einmal näher in die Ergebnisse der Studie zu schauen. Eigentlich wäre das doch die Aufgabe der etablierten Journalisten ...

0

Vielen Dank für die Blumen, vanishing point. In der Tat habe ich beobachtet, dass viele Journalisten nicht nachhaken oder unter Heranziehung von weiteren Veröffentlichungen kritische Fragen stellen . So begnügt man sich häufig mit den plakativ herausgestellten Bewertungen, die die jew. Institute selbst anbieten , oder auf "Eigeninterviews" der Experten mit Ihrer Institution (vgl. hier), nicht aber werden die Daten selbst betrachtet, die heute regelmäßig leicht zugänglich sind (es gibt natürlich auch einige positive Ausnahmen). Das reflektiert wahrscheinlich auch die Arbeitsbedingungen in der heutigen Presselandschaft. Spiegel (und SPON) u.ä. sind da wieder ein anderes Phänomen: Hier wird ohnehin nur publiziert, was irgendwie dramatisch oder skandalös klingt. Differenzierungen und Zwischentöne haben da oftmals keine Chance. Eine Entwicklung, die leider inzwischen auch die tagesschau und heute erfasst hat. Das ist ja auch möglicherweise der Grund dafür, dass vom DIW auch relativ langweilige Daten als "dramatische" Änderung angeboten werden müssen - so wurde gestern der DIW in allen maßgeblichen Medien erwähnt.  

Vielen Dank dafür auch von mir. Ich gebe zu, dass ich die Meldungen ungefiltert als Tatsache hingenommen hatte. Ärgerlich, wenn man merkt, dass man trotz allen Wissens um die schlampige Arbeit der Medien der Überzeugungskraft unterliegt.

0

Noch viel schlimmer finde ich, dass man einfach als Kommentator (man kann ja Artikel kommentieren)  z.b. bei tagesschau.de einfach nicht veröffentlicht wird, wenn man den "Qualitätsjournalismus" berechtigter Weise infrage stellt, gerade weil zu wenig / gar nicht / falsch recherchiert wurde. Kritik ist dort nicht erwünscht. Ich vermag nicht gleich von Zensur reden, denn die haben ja ihr "Hausrecht", zeugt aber m. E. von der Unfähigkeit, mit Kritik um zu gehen.

Sorry für ein wenig off-topic.

0

Sehr geehrter Herr Müller,

herzlichen Glückwunsch und vielen Dank für diesen hervorragenden Beitrag!

Er ist zugleich herausragend! Herausragend aus einer Presselandschaft, die Sie in Ihrem Posting treffend beschreiben.

Solche Beiträge machen den beckblog zu etwas Besonderem. Und dies sage ich "mit einem lachenden und einem weinenden Auge". Mit einem lachenden Auge, weil solche Beiträge eine besondere Qualität aufzeigen. Mit einem weinenden, weil diese Qualitätsanforderung - wie sie treffend ausführen - im deutschen Journalimus (auch im "Fachjournalismus") kaum mehr zu finden ist.

Die journalistische Sorgfaltspflicht ist der Sensationsgier und dem Erziehungsgedanken gewichen. Traurig, aber wahr.

Nochmals herzlichen Glückwunsch und vielen Dank! Ich werde - Ihr Einverständnis vorausgesetzt - Ihren Beitrag in einer Vorlesung vorlesen (womit die konkrete Vorlesung ihrem Wortsinn entspricht :-) ).

Mit den besten Grüßen

 

0

Ich würde die Studie und ihre Methoden sogar noch weit kritischer sehen: So heißt es in der Einleitung "Im Folgenden werden diese Einkommensbereiche daher in Anlehnung an die genutzten Definitionen im Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung gebildet." (S.3), aber dann werden doch ganz andere Gruppengrenzen angesetzt (Fußnote 5, ebd.). Das alleine kann die daraus erwachsenen Ergebnisse signifikant verändern! Insofern wäre es in meinen Augen "ehrlicher", statt mit einer diskreten Gruppeneinteilung direkt mit der stetigen Einkommensverteilung zu arbeiten.

Darüber hinaus fehlen Angaben zum Stichprobenumfang (wieviele Haushalte wurde mit der in Kasten 1, Seite 4 beschriebenen Methode betrachtet?), was es dann ganz unmöglich macht festzustellen, welcher statistische Fehler den darauf basierenden Berechnungen innewohnt. Später werden dann "Mittelwerte der Einkommengruppen" (S. 5) verglichen, ohne zu sagen, ob damit Median oder Mean (arithmetisches Mittel) gemeint sind. Vermutlich letzteres, was dazu führt, daß ein einziger Spitzenverdiener den beschriebenen Ansteig der oberen Einkommensgruppe verursacht haben könnte!

Insgesamt erscheint mir alleine wegen dieser Punkte die Studien ungeeignet, statistisch relevante Aussagen treffen zu können. Um so schlimmer ist, was alles für Schlußfolgerungen und Bewertungen von den Autoren, Politik und den Medien davon abgeleitet wird...

0

Sehr geehrter Herr Schmidt,

es trifft zu, dass die EU "Armut" und "Reichtum" anders definiert als in der DIW Studie niedrige und hohe Einkommen verstanden werden. (Armut ist laut EU 60 % des mittl. Einkommens, Reichtum 200 %, statt 70% und 150% in der DIW-Studie). Ob und welche Auswirkungen dies für die Ergebnisse hat, ließe sich allerdings nur berechnen, wenn man die Grunddaten der Studie kennt. Es wäre allerdings nicht korrekt, sollten die Forscher die Grenzen mit Absicht so gewählt haben, dass das gewünschte oder erwartete Ergebnis herauskommt. Danach sieht es aber indes nicht aus, denn wie gesagt, die Daten sind eher unspektakulär. Zum Stichprobenumfang finden sich auch Angaben:

"Die DIW-Forscher verwendeten für ihre Untersuchung die Haushaltsdaten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP). Das Sozio-oekonomische Panel (SOEP) ist eine seit 1984 laufende Langzeitbefragung von mehr als 10.000 privaten Haushalten in Deutschland. Das am DIW Berlin angesiedelte SOEP gibt Auskunft über Faktoren wie Einkommen, Erwerbstätigkeit, Bildung oder Gesundheit. Im Auftrag des DIW Berlin werden jedes Jahr in Deutschland über 20 000 Personen in rund 11 000 Haushalten von TNS Infratest Sozialforschung befragt. Weil jedes Jahr die gleichen Personen befragt werden, können langfristige soziale und gesellschaftliche Trends besonders gut verfolgt werden." (Pressemitteilung DIW).

Insgesamt halte ich die stat. Operationen für zulässig, d.h. ich denke, dass nicht dort der Hase im Pfeffer liegt, sondern v.a. (wie Sie ja auch sagen)  im Bereich der globalen Bewertung dieser Messwerte und der dramatisierenden Schlussfolgerungen.

Beste Grüße

Henning Ernst Müller

 

Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Müller,

ich schätze Ihre Beiträge üblicherweise. Mit dem hier zu diskutierenden liegen Sie aber m.E. etwas daneben. Das liegt nicht daran, dass man Ihren Einzelthesen nicht zustimmen könnte; vielmehr enttäuscht es mich, dass Sie Ihre Argumente nicht in einen weiteren Kontext einordnen. Gewalt in einer Gesellschaft hängt mit Ungleichheit zusammen, insbesondere Ungleichheit, die aus Arbeits- und Einkommensbedingungen herrührt. Dabei müssen die Bedingungen, unter denen Menschen arbeiten, integriert betrachtet werden: 

1. Zu einer umfassenden Analyse gehört der Umstand, dass in Deutschland die sog. prekäre Beschäftigungsverhältnisse zugenommen haben.

- In Deutschland erodiert das Normalarbeitsverhältnis: Zwischen 1997 und 2007 ist ein Rückgang der Vollzeitstellen um rund 1,5 Mio. bei gleichzeitigem Zuwachs atypischer Beschäftigungsverhältnisse um 2,5 Mio. auf 7,7 Mio. Stellen zu verzeichnen gewesen (Quelle: http://www.koop-son.de/fileadmin/user/Dokumente/Arbeitswelt_im_Wandel_2010/Speidel_19.11.09.pdf).

- In NRW z.B. ging die Anazahl sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung von 72,8 (2005) auf 66,8 Prozent (2009) zurück (Quelle: http://www.wdr.de/themen/kurzmeldungen/2010/04/29/prekaere_beschaeftigung_nimmt_rasant_zu_.jhtml). Ich denke, dass unsichere Arbeitsverhältnisse, die sich über Befristung und ähnliche Mechanismen dem aus den USA bekannten "hire and fire"-Prinzip zumindest annähern, weit wichtiger für die Entwicklung von Aggressionen sind, als bloße Einkommensdifferenzen. Möchte man zum Thema "Beschäftigung und Gewalt" Aussagen machen, muss man die Arbeitswirklichkeit in ihrer Ganzheit in den Blick nehmen.

2. Es muss beachtet werden, dass die Leiharbeit in Deutschland dramatisch zugenommen hat. Nach den Ergebnissen der Arbeitnehmerüberlassungsstatistik gab es im Dezember 2007 in Deutschland 721.000 Leiharbeitnehmer; dies sind rund 2,7% aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Hinzu kommt die erhebliche Beschäftigungsdynamik: Gegenüber dem Jahr 2006 hat sich die Zahl der Zeitarbeitnehmer um mehr als 135.000 Personen erhöht (+23 %). Quelle: http://www.cesifo-group.de/portal/page/portal/ifoContent/N/publ/Zeitschriften/zs-ifodr/ZS-IFODR-container/IFO_DRESDEN_BERICHTET_2008/ifodb_2008_5_23_31.pdf

Man weiß aus diversen Studien, dass Leiharbeit mit einer erheblichen Demütigung für viele Leiharbeitnehmer einhergehen. Die Diskriminierung durch die Stammbelegschaft ist groß. Leiharbeiter bekommen z.B. von Banken keine Kredite, Familienplanungen zerbrechen usw. Das Thema müsste bei der Frage nach Zusammenhängen zwischen Arbeitswelt und Gewalt ganz nach vorne geschoben werden.

Es geht also nicht allein um eine gerechte Einkommensverteilung, sondern um eine gerechte Verteilung "guter Arbeit". Und da liegt vieles im Argen.

Wie sich prekäre Arbeitsverhältnisse und die damit einhergehenden weitreichenden Diskriminierungstendenzen gerade bei jungen Menschen auf deren "Seelenzustand" und damit auch die Gewaltbereitschaft auswirken, muss eingehend untersucht werden.

 

0

Sehr geehrte/r Herr/Frau tjelle,

vielen Dank für Ihren Beitrag, an dem ich in der Sache fast alles unterschreiben kann. Wie ich auch schon am Ende meines Beitrags angedeutet habe: Es gibt durchaus  besorgniserregende Entwicklungen in Deutschland jenseits der Einkommenverteilung. Dies wäre auch ein Thema für einen Beitrag, aber in diesem hier habe ich mich eben mit der DIW-Studie befasst, die letzte Woche mit großer PR veröffentlicht wurde. Und in dieser Studie ging es eben nur um die Einkommensverteilung und nicht um die Qualität der Arbeitsverhältnisse, und es wurden m.E. hier aus einer kaum schlüssigen Datenbasis Folgerungen gezogen, die in ihrer Dramatik jeglicher Grundlage entbehren. Ich kann Ihre Kritik zwar nachvollziehen, aber möchte sie auch in gewisser Weise zurückweisen. Wenn jemand zu einem bestimmten Thema Stellung nimmt, kann man ihm immer vorwerfen, er hätte auch zu allen anderen Aspekten der Thematik Stellung nehmen müssen - aber ist das dann "daneben"?. Dies ist eben ein Blogbeitrag mit seinem themenbezogen begrenzten Tiefgang, keine Dissertation oder Habilitation. Noch weniger kann ich eigene Forschungsvorhaben vorweisen, die die Zusammenhänge zwischen prekären Arbeitsverhältnissen und Gewalt untersuchen. Aber Sie haben Recht: Dies ist ein wichtiges Thema. Einige Anmerkunegn noch:
Man kann z.B. wohl durchaus einen Zusammenhang zwischen steigender Jugendarbeitslosigkeit und Jugendkriminalität erkennen, wobei allerdings etwa die Lehrstellenknappheit der vergangenen Jahre mittlerweile umschlägt in ein Lehrstellenüberangebot. Hieraus könnte, wenn der Zusammenhang tatsächlich unmittelbar ist, auch ein Rückgang der Gewalt in unserer Gesellschaft resultieren. Das gleiche, Rückgang der Gewalt, wird ohnehin wahrscheinlich aus der demographischen Entwicklung resultieren. Welchen Faktor die von Ihnen genannten "prekären Arbeitsverhältnisse"  ausmachen, müsste, wie gesagt, noch untersucht werden, hier eine aktuelle Meldung (aber ohne statistischen Wert).

Besten Gruß

Henning Ernst Müller

Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Müller,

danke für die rasche und wie erwartet sehr aufschlussreiche Antwort.

Ich möchte dennoch bei meiner Kritik bleiben.

- Der Tenor Ihres Eingangsbeitrags lautet in Bezug auf die vielzitierte "auseinandergehende (Einkommens-) Schere" zwischen Armen und Reichen: "Viel Lärm um nichts!". Dieser Tenor mag für die DIW Studie punktuell zutreffen. Und dennoch: Mit Ihren Ausführungen blasen Sie in das gleiche Horn wie eine Reihe sozialkonservativer Politiker und Intellektueller, die ungute (und wie ich finde: demokratiegefährdende) Tendenzen bei den Arbeits-, Einkommens- und Vermögens- und Lebensverhältnissen unterer Schichten mehr oder weniger leugnen. Geht man an die Sache ganzheitlich heran und bezieht neben der Einkommens- auch die Vermögensverteilung sowie die zunehmend prekären Arbeitsbedingungen und - mit besonderem Gewicht - die geringen (Bildungs-) Chancen unterer Schichten mit ein, dürften sich diese Elemente zu einem einheitlichen Bild verdichten. Dieses Bild zeigt, dass Ungleichheit zunimmt und die Integrationsfähigkeit der bürgerlichen Gesellschaft abnimmt. Mit einem Posting der Marke "Sieh' mal, die DIW-Studie wird fehlinterpretiert!" trägt man zu der wichtigen Aufklärung über diese Gesamtentwicklung nicht bei, man erntet aber Applaus aus der falschen Ecke.

- Auch wenn die DIW Studie für die "Einkommensschere" nicht viel hergibt, muss bedacht werden, dass wir mit großer Wahrscheinlichkeit am Anfang einer Entwicklung stehen. Die Zunahme prekärer Arbeit hat noch nicht vollumfänglich auf die Einkommensverhältnisse durchgeschlagen, weil staatliche Transfers (Beispiel: die sog. HARTZ-IV-"Aufstocker"-Leistungen) noch einiges ausgleichen. Diese Transfers geraten aber zunehmend unter Beschuss. Gerade das "Sparpaket" der Bundesregierung zeigt doch, dass man von der sozialstaatlich gebotenen Solidarität mit den Schwächsten Abstand nimmt. Zudem geht der Trend dahin, den Zwang zur Aufnahme von Arbeit nach dem SGB zu verschärfen. Damit werden Menschen natürlich gezwungen, Arbeit zu ganz schlechten Konditionen anzunehmen. Das könnte die Löhne in den unteren Qualifikationssegmenten weiter drücken.

- Das Thema "Altersarmut" hat uns noch nicht wirklich erreicht. Es ist aber klar und durch Studien nachgewiesen, dass prekäre Arbeitsverhältnisse und zerstückelte Erwerbsbiographien zusammen mit dem demographischen Faktor im Rentensystem Altersarmut in einem großen Ausmaß produzieren werden. Schon jetzt gibt es klare Zahlen, die den Trend nachweisen: "Nach Auffassung des Sozialverbands VdK Deutschland sagen die aktuellen Zahlen des Statistischen Bundesamtes zu den Empfängern von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung bereits viel über die wachsende Altersarmut in Deutschland aus. Demnach erhielten Ende 2008 rund 768.000 Menschen Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Gegenüber Ende 2003 erhöhte sich damit die Zahl der Hilfebezieher um rund 329.000 Personen oder 75 Prozent. "Unter den gegenwärtigen Bedingungen werden die Armutsrisiken weiter drastisch zunehmen und immer mehr Rentner auf Grundsicherung im Alter angewiesen sein", warnte Ulrike Mascher." (Quelle: http://www.gegen-hartz.de/nachrichtenueberhartziv/immer-mehr-menschen-droht-altersarmut-345.php)

Man müsste - anstatt die DIW Studie zu kritisieren - diese Tendenzen berücksichtigen, da man sonst die völlig falsche Debatte anstößt!

0

Kommentar hinzufügen