Bröckelnde Mittelschicht - droht Deutschland Chaos und Gewalt?
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Eine Untersuchung des DIW (Goebel/Hornig/Häußermann: Polarisierung der Einkommen: Die Mittelschicht verliert, DIW) weist auf ein Abbröckeln der Mittelschicht in Deutschland hin. Grundlage dafür ist ein Blick auf die Einkommensentwicklung in verschiedenen Einkommensklassen. Je nach Haushaltsgröße wurden dabei Einkommen in untere, mittlere und höhere Regionen eingeordnet. Heraus gekommen ist, dass in den vergangenen 10 Jahren die mittleren Einkommen weniger, die geringeren dagegen mehr geworden seien.
Die Ergebnisse wurden gestern als "dramatisch" verbreitet. Dazu gehörte auch der Hinweis, dass der Abstand zwischen arm und reich auch einen Einfluss auf die Gewalthäufigkeit in einem Staat habe. Einige wiesen dementsprechend darauf hin, dass man in Deutschland befürchten müsse, dass Gewalt und unregierbare Zustände entstehen, sollte die Entwicklung einer abbröckelnden Mittelschicht sich verschärfen (Quelle: Spiegel-Online).
Was ist davon zu halten?
Die Methode:
Es wurden vom Mittelwert aller Einkommen (Median, nicht Durchschnitt) ausgehend (im Jahr 2005 bei 1230 Euro Single, selbstverständlich liegen die Beträge entspr. höher für Familien), die Bezieher von nur 70 % dieses Wertes (860 Euro Single) und darunter als "untere" Einkommen, mind. 50% darüber (ab 1845 Euro Single) als "höheres" Einkommen klassifiziert. Die Werte wurden allerdings für die Haushalte gewichtet (Erster Erw. zählt 1, weitere Erw. zählen 0,5/Kinder unter 14 0,3). Dies erscheint sinnvoll, da das Leben zu mehreren "günstiger" ist. Allerdings kann diese Gewichtung auch dazu führen, dass allein der Wechsel der Wohnform zu einer Verschiebung der Gruppen führt. Wer bei gleich bleibendem Einkommen in einen Singlehaushalt zieht, könnte damit aus der so definierten Mittelschicht herausfallen. Statistischer Anstieg der Singlehaushalte könnte so einen Teil des Bröckelns der Mittelschicht erklären. Dies wäre allerdings kein reiner "Artefakt", wie Ifo-Präsident Sinn heute in der FAZ meint (FAZ vom 16.06.2010, S. 9, hier). Schließlich kann Trennung/Scheidung durchaus zum ökonomischen Abstieg führen. Nur hat dies dann weniger mit der Entwicklung der Einkommen zu tun.
Die Befunde:
Das DIW kommt zum Ergebnis dass "langfristig vor allem die mittlere Einkommensgruppe kleiner geworden" sei. Nun hängt diese Bewertung davon ab, was man als "langfristig" bezeichnet. Schaut man sich die in der Quelle selbst veröffentlichte Grafik an, dann bleibt von einer wirklich langfristigen Entwicklung nicht viel: Die mittleren Einkommen schwanken seit 1993 zwischen 60 und 65 % Anteil, irgendein langfristiger Trend ist hier kaum erkennbar und hängt davon ab, welches Anfangs- und welches Endjahr man für diesen Trend wählt (vgl. Goebel/Gornig/Häußermann DIW , dort Grafik auf S.3). Die Autoren weisen auch noch auf einen anderen Messwert hin: Die Durchschnittseinkommen der jew. Gruppen strebten auseinander, also die Reichen würden durchschnittl. reicher, die Armen durchschnittl. ärmer. Auch hier hängt aber das Statuieren eines besorgniserregenden Trends erheblich von der Wahl von Anfangs- und Endjahr ab. In der Bildunterschrift zur Tabelle heißt es: "Die Einkommensdifferenzen haben seit der Jahrtausendwende stark zugenommen – und zwar in absoluten Zahlen ebenso wie im relativen Verhältnis." - Diese Bewertung wird durch die angegebenen Daten nicht gerechtfertigt. Aus den Daten ist beispielsweise erkennbar, dass der "dramatischste" Trend von 1998 bis 2006 bestand (der Abstand zw. mittl. Niedrig- und mittl. Hocheinkommen wuchs um 16 %), ganz wesentlich weniger dramatisch sieht es aus, wenn man etwa 1995 bis 2008 betrachtet (der Abstand wuchs nur um knapp 2 %), nimmt man 2003 zum Ausgangspunkt, dann hat sich seither der Abstand der durchschn. hohen und niedr. Einkommen sogar verringert , von 2000 bis 2009 schwankte das durchschn. Hocheinkommen um ca. 100 Euro, das Niedrigeinkommen um weniger als 50 Euro ohne klaren Trend!(Quelle:Goebel/Gornig/Häußermann, DIW, dort S.5, eigene Berechnung).
Dem entspricht es, wenn der so genannte GINI-Index, ein weiteres statistisches Maß für die Gleichverteilung von Einkommen, herangezogen wird: Im weltweiten Vergleich steht Deutschland in den letzten Jahren relativ gut da, mit Werten zwischen 25 und 30, nur ganz wenige Staaten (v.a. in Skandinavien) sind "gleicher" in ihrer Einkommenstruktur, die meisten erheblich ungleicher (Quelle: CIA world factbook).
Was ist dran an der Behauptung, ungleiche Verteilung führe zu Gewalt?
Dies ist in der Tat in der weltweit vergleichenden Kriminologie ein beobachtbarer Zusammenhang: Tendenziell führt eine ungleiche Verteilung, ein eklatanter Abstand zwischen arm und reich, auch zur vermehrten Gewalttätigkeit, Südafrika (GINI: 65) Brasilien (GINI: 56) sind Beispiele, auch USA (GINI:45) und Russland (GINI:42) haben ein sehr viel höheres Maß an Gewalt zu verkraften als Nord- und Westeuropa.
Aber es kommt dabei nicht nur auf "gerechte" Einkommensverteilung an, sondern auch auf Bildungs- und Aufstiegschancen. Wer in einer Wohlstandsgesellschaft einen größeren Anteil der Bevölkerung quasi vom Wohlstand ausschließt und auch für die Kinder kaum Chancen bereithält, der darf sich tatsächlich nicht über steigende Gewalt wundern. Insofern ist es für Deutschland besorgniserregend, dass eine große Zahl von Familien dauerhaft und über mehrere Generationen auf soziale Ausgleichszahlungen angewiesen sind und dass der Zugang zur höheren Schulbildung relativ stark von der sozio-ökonomischen Lage der Herkunftsfamilie abhängt.
Also richtig: Der Abstand zwischen arm und reich ist auch ein wichtiger Faktor für Gewalttendenzen in einer Gesellschaft.
Aber man sollte für Deutschland die Kirche im Dorf lassen: Eine dramatische Veränderung in der Einkommensverteilung ist derzeit jedenfalls in den DIW-Daten nicht erkennbar.
update mit Details 16.06.