BAG: Verwertbarkeit offener Videoüberwachung

von Prof. Dr. Christian Rolfs, veröffentlicht am 02.10.2023

Ende Juni hat das BAG über die Verwertung von Aufzeichnungen aus einer offenen Videoüberwachung im Kündigungsschutzprozess entschieden. Hier im BeckBlog hatten wir bereits über die Pressemitteilung berichtet. Jetzt liegen die Entscheidungsgründe vor.

Die Parteien streiten im Wesentlichen über die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung. Der Arbeitnehmer war in einer Gießerei beschäftigt. Die Arbeitgeberin hält ihm vor, eine Schicht vorzeitig beendet zu haben, ohne sich ausgestempelt zu haben. Den Beweis will sie mit Videoaufzeichnungen aus einer an einem Werkstor offen angebrachten Kamera führen, die den Kläger beim vorzeitigen Verlassen des Werksgeländes zeigen sollen. Der Kläger macht - u.a. - geltend, die Videoaufzeichnungen dürften prozessual nicht verwertet werden. Die Beklagte habe öffentlich bekannt gemacht, dass die Aufzeichnungen nach 96 Stunden (vier Tagen) wieder gelöscht würden, hier habe sie aber noch nach mehr als einem Jahr auf diese zugegriffen. Zudem sei in der Betriebsvereinbarung zur Einführung einer elektronischen Anwesenheitserfassung (BV 2007) geregelt, dass „keine personenbezogene Auswertung von Daten erfolgt“.

Die Klage hatte beim ArbG Hannover Erfolg. Das LAG Niedersachsen hat die Berufung der Arbeitgeberin zurückgewiesen. Ihre Revision hatte beim Zweiten Senat des BAG Erfolg. Das BAG hat den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LAG zurückverwiesen, weil es die Videoaufzeichnungen als Revisionsgericht selbst nicht ansehen und bewerten konnte. Es hat aber sehr deutlich gemacht, dass diese Aufzeichnungen prozessual verwertbar sind und die außerordentliche Kündigung wirksam ist, wenn der Kläger tatsächlich einen Arbeitszeitbetrug begangen haben sollte:

1. Die Verarbeitung personenbezogener Daten durch die Gerichte für Arbeitssachen im Rahmen ihrer rechtsprechenden Tätigkeit ist – selbst wenn damit eine Zweckänderung gegenüber der Datenerhebung verbunden oder diese rechtswidrig gewesen sein sollte – grundsätzlich nach Art. 6 I UAbs. 1 Buchst. e iVm Abs. 3 und gegebenenfalls Abs. 4 iVm Art. 23 I Buchst. f und j DS-GVO iVm § 3 BDSG iVm §§ 138, 286, 371ff. ZPO rechtmäßig.

2. Soweit sich in verfassungskonformer Auslegung des nationalen Verfahrensrechts ausnahmsweise das Verbot für das Gericht ergeben sollte, Sachvortrag oder Beweismittel zu verwerten, die im Zug einer das Recht des Arbeitnehmers auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 I iVm Art. 1 I GG) verletzenden Datenverarbeitung vom Arbeitgeber erlangt wurden, fehlte es an einer Rechtsgrundlage im mitgliedstaatlichen Verfahrensrecht iSv Art. 6 I UAbs. 1 Buchst. e iVm Abs. 3 S. 1 Buchst. b DS-GVO und damit zugleich an einer unionsrechtlichen Ermächtigung für die Datenverarbeitung durch das Gericht.

3. Ein auf Art. 2 I iVm Art. 1 I GG gestütztes Verwertungsverbot scheidet regelmäßig in Bezug auf solche Bildsequenzen aus einer offenen Videoüberwachung aus, die vorsätzlich begangene Pflichtverletzungen zulasten des Arbeitgebers zeigen (sollen), ohne dass es auf die Rechtmäßigkeit der gesamten Überwachungsmaßnahme ankäme. Das grundgesetzlich verbürgte Recht auf informationelle Selbstbestimmung kann nicht zu dem alleinigen Zweck in Anspruch genommen werden, sich der Verantwortung für vorsätzliches rechtswidriges Handeln zu entziehen. Datenschutz ist kein Tatenschutz.

4. Den Betriebsparteien fehlt die Regelungsmacht, ein über das formelle Verfahrensrecht der ZPO hinausgehendes Verwertungsverbot zu begründen oder die Möglichkeit des Arbeitgebers wirksam zu beschränken, in einem Individualrechtsstreit Tatsachenvortrag über betriebliche Geschehnisse zu halten.

5. Überdies sind (betriebliche) Regelungen nach § 134 BGB nichtig, die – wie regelmäßig ein Verbot, entsprechende Erkenntnisse aus einer Überwachungsmaßnahme in einen Kündigungsschutzprozess einzuführen – auf eine erhebliche Erschwerung des Rechts des Arbeitgebers zur außerordentlichen Kündigung aus § 626 BGB hinauslaufen.

BAG, Urt. vom 29.6.2023 - 2 AZR 296/22, NZA 2023, 1105

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