BAG: Zustimmung des Integrationsamts zur Kündigung ersetzt bEM nicht

von Prof. Dr. Christian Rolfs, veröffentlicht am 06.04.2023
Rechtsgebiete: Bürgerliches RechtArbeitsrecht|1983 Aufrufe

Die Zustimmung des Integrationsamts zu einer krankheitsbedingten Kündigung begründet nicht die Vermutung, dass ein (unterbliebenes) betriebliches Eingliederungsmanagement die Kündigung nicht hätte verhindern können.

Das hat das BAG entschieden.

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen, auf krankheitsbedingte Gründe gestützten Kündigung. Die Klägerin ist bei der Beklagten seit 1999 beschäftigt, zuletzt als Versicherungssachbearbeiterin. Sie ist einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt und seit Dezember 2014 ununterbrochen arbeitsunfähig erkrankt. Am 24.5.2019 fand auf Initiative der Klägerin ein Präventionsgespräch statt, an dem auch Mitarbeiter des Integrationsamts teilnahmen. Mit Schreiben vom selben Tag lud die Beklagte die Klägerin zu einem betrieblichen Eingliederungsmanagement (bEM) ein. Die Klägerin teilte mit, dass sie an einem bEM teilnehmen wolle, sie unterzeichnete aber die ihr diesbezüglich von der Beklagten übermittelte datenschutzrechtliche Einwilligung nicht, sondern stellte Rückfragen und wählte eigene Formulierungen. Hierauf erhielt die Klägerin eine Einladung zu einem Gespräch am 24.7.2019. In diesem wurde die Klägerin darauf hingewiesen, dass ohne ihre Unterschrift unter die vorformulierte Datenschutzerklärung ein bEM-Verfahren nicht durchgeführt werden könne. In der Folgezeit wies die Beklagte die Klägerin mehrfach darauf hin, dass die Durchführung eines bEM ohne die datenschutzrechtliche Einwilligung nicht möglich sei. In der Zeit vom 17.9.2019 bis zum 29.10.2019 war die Klägerin bei der Beklagten im Rahmen einer Wiedereingliederung tätig. Die Beklagte beantragte am 10. 12.2019 beim Integrationsamt die Zustimmung zur beabsichtigten Kündigung der Klägerin, die ihr im Mai 2020 erteilt wurde. Daraufhin kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis ordentlich.

Die Klägerin hat Kündigungsschutzklage erhoben. Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen, das LAG Baden-Württemberg hat ihr stattgegeben. Die Revision der Beklagten blieb beim BAG ohne Erfolg.

Der Zweite Senat setzt sich zunächst mit der Frage auseinander, ob das bEM entbehrlich war, weil die Klägerin die datenschutzrechtliche Einwilligung nicht unterzeichnet hat:

Das Landesarbeitsgericht hat zu Recht angenommen, die Beklagte habe vor Ausspruch der Kündigung ein bEM mit der Klägerin durchführen müssen. Diese war zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung weit mehr als sechs Wochen arbeitsunfähig erkrankt. Die Beklagte hat die ihr nach § 167 Abs. 2 SGB IX obliegende Verpflichtung jedoch nicht erfüllt. Die Parteien haben anlässlich ihres Gesprächs am 24. Juli 2019 kein bEM im Sinne eines verlaufs- und ergebnisoffenen „Suchprozesses“ durchgeführt. Entgegen der Auffassung der Beklagten hat die Klägerin ein bEM nicht abgelehnt. Sie hat nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts ausdrücklich ihre Bereitschaft zur Teilnahme an einem bEM erklärt. Vielmehr war es die Beklagte, die die Durchführung eines bEM entgegen den in § 167 Abs. 2 SGB IX enthaltenen Vorgaben von der Unterzeichnung der von ihr vorformulierten Datenschutzerklärung abhängig gemacht und keine Bereitschaft gezeigt hat, den Klärungsprozess ohne das schriftliche Einverständnis der Klägerin in die Verarbeitung ihrer personenbezogenen und Gesundheitsdaten fortzusetzen. Ein rechtfertigender Grund, von der Einleitung eines bEM abzusehen, lag selbst unter Beachtung des Normzwecks des § 167 Abs. 2 SGB IX nicht vor. Es war der Beklagten auch ohne die verlangte Einwilligung möglich und zumutbar, zunächst mit dem beabsichtigten bEM zu beginnen. Sie konnte mit der Klägerin in einem Erstgespräch den möglichen Verfahrensablauf besprechen und versuchen, die offenbar bei der Klägerin bestehenden Vorbehalte auszuräumen. Die Beklagte musste – da es sich beim bEM um ein konsensuales Verfahren handelt – die diesbezüglichen Vorstellungen der Klägerin zur Kenntnis nehmen und diese soweit wie möglich bei dem weiteren Verfahrensablauf berücksichtigen. Daneben hätten die Parteien den Kreis der am Verfahren nach § 167 Abs. 2 SGB IX mitwirkenden Stellen und Personen festlegen können. Erst in einem weiteren Termin wären dann mit den Verfahrensbeteiligten die in Betracht kommenden Möglichkeiten zu erörtern gewesen, ob und ggf. auf welche Weise die Arbeitsunfähigkeitszeiten der Klägerin reduziert werden können. In diesem Zusammenhang wäre von ihnen auch darüber zu befinden gewesen, ob und ggf. welche Angaben über den Gesundheitszustand hierfür voraussichtlich erforderlich sind und auf welche Weise etwaige Gesundheitsdaten rechtskonform zu erheben und verarbeiten sind. Nur wenn die Klägerin nicht bereit gewesen wäre, an dem weiteren Klärungsprozess beispielsweise durch die Vorlage der dafür möglicherweise – je nach Lage des Einzelfalls – erforderlichen Diagnosen und Arztberichte konstruktiv mitzuwirken, hätte die Beklagte zur Verfahrensbeendigung berechtigt sein können, ohne dass sie bei einer nachfolgenden Kündigung verfahrensrechtliche Nachteile zu gewärtigen gehabt hätte. Der Abbruch des bEM wäre dann „kündigungsneutral“.

Sodann bestätigt das Gericht seine neuere Rechtsprechungslinie, dass die Zustimmung des Integrationsamts ein unterbliebenes bEM nicht zu ersetzen vermag:

Das Landesarbeitsgericht hat im Ergebnis zu Recht angenommen, der Zustimmungsbescheid des Integrationsamts vom 18. Mai 2020 begründe keine Vermutung dafür, dass ein bEM eine Kündigung nicht hätte verhindern können.

Allerdings hat der Senat in der Vergangenheit angenommen, dass nach einer Zustimmung des Integrationsamts zu einer verhaltensbedingten Kündigung nur bei Vorliegen besonderer Anhaltspunkte davon ausgegangen werden könne, dass ein Präventionsverfahren nach § 84 Abs. 1 SGB IX aF (jetzt: § 167 Abs. 1 SGB IX) die Kündigung hätte verhindern können (…).

Unbeschadet der Frage, ob an dieser vereinzelt gebliebenen Senatsentscheidung festzuhalten ist (…), kann der vorstehende Rechtssatz auf das Verhältnis zwischen einem bEM und dem Zustimmungsverfahren vor dem Integrationsamt nicht übertragen werden. Eine vom Senat in der Entscheidung vom 7. Dezember 2006 (…) angenommene Vermutungswirkung der Zustimmungsentscheidung des Integrationsamts findet bereits im Wortlaut des § 167 Abs. 2 SGB IX keine Stütze. Das bEM und das Verfahren nach den §§ 168 ff. SGB IX haben zudem unterschiedliche Ziele, prozedurale Abläufe und Beteiligte. Das bEM ist ein verlaufs- und ergebnisoffener Suchprozess, der individuell angepasste Lösungen zur Vermeidung zukünftiger Arbeitsunfähigkeit ermitteln soll (…). Hieran kann eine Vielzahl von Personen – insbesondere aus dem Betrieb – beteiligt werden (vgl. § 167 Abs. 2 SGB IX), die nach sachgerechten Lösungen zur Verbesserung des Arbeitsumfelds suchen. Damit soll im Ergebnis gerade der Ausspruch einer Kündigung vermieden werden. Demgegenüber überprüft das Integrationsamt einen vom Arbeitgeber bereits gefassten Kündigungsentschluss (vgl. §§ 168 ff. SGB IX) und trifft eine Ermessensentscheidung, bei welcher das Interesse des Arbeitgebers an der Erhaltung seiner Gestaltungsmöglichkeiten gegen das Interesse des schwerbehinderten Arbeitnehmers an der Erhaltung seines Arbeitsplatzes abzuwägen ist (…). Bei dieser Entscheidung unterliegt das Integrationsamt zum Teil Einschränkungen, wonach es in einer Reihe von Fallgestaltungen eine Zustimmung erteilen „soll“ (vgl. § 172 SGB IX). Der stattgebenden Entscheidung des Integrationsamts kann schließlich deshalb keine Bedeutung für die erweiterte Darlegungslast des Arbeitgebers zukommen, da sich die Wirksamkeit einer nachfolgend erklärten Kündigung nach arbeitsrechtlichen Normen aufgrund des von den Parteien im Kündigungsschutzverfahren gehaltenen Sachvortrags beurteilt und allein den Gerichten für Arbeitssachen obliegt (…).

BAG, Urt. vom 15.12.2022 – 2 AZR 162/22, BeckRS 2022, 36682

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