Das Einmaleins der Rechtsfolgen in Betäubungsmittelsachen – Teil 5: Überschreiten der nicht geringen Menge

von Dr. Jörn Patzak, veröffentlicht am 09.01.2022
Rechtsgebiete: StrafrechtBetäubungsmittelrecht|5231 Aufrufe

Das OLG Zweibrücken hat sich mit der Frage beschäftigt, wie die Überschreitung der nicht geringen Menge im Rahmen der Strafzumessung zu berücksichtigen ist (OLG Zweibrücken Urt. v. 22.11.2021 – 1 OLG 2 Ss 36/21, BeckRS 2021, 37948):

„Ob ein minder schwerer Fall vorliegt, der die Anwendung des Normalstrafrahmens nicht mehr angemessen erscheinen lässt, ist daran auszurichten, ob das gesamte Tatbild einschließlich aller subjektiven Momente der Täterpersönlichkeit vom Durchschnitt der erfahrungsgemäß gewöhnlich vorkommenden Fälle in einem Maß abweicht, dass die Anwendung des milderen Ausnahmestrafrahmens geboten erscheint (BGH, Urteil vom 15.03.2017 - 2 StR 294/16). Bei dieser Beurteilung ist eine Gesamtbetrachtung aller wesentlichen ent- und belastenden Umstände erforderlich, gleichgültig, ob sie der Tat selbst innewohnen, sie begleiten, ihr vorausgehen oder nachfolgen (Maier in MünchKomm-StGB, 4. Aufl. 2020, § 46 Rn. 115 m.w.N.).

Die Erwägung des Landgerichts, eine lediglich zweifache Überschreitung des Grenzwertes sei bei der Strafrahmenwahl mildernd zu berücksichtigen, hält sich dabei noch innerhalb des dem Tatrichter zustehenden Spielraums. Denn bei der erforderlichen Gesamtabwägung aller für und gegen den Angeklagten sprechenden Umstände ist die Frage, ob die Wirkstoffmenge um ein Vielfaches der nicht geringen Menge oder nicht sehr erheblich überschritten ist, regelmäßig von Bedeutung. Je höher im Einzelfall die Grenze zur nicht geringen Menge überschritten ist, umso ferner wird im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtabwägung die Annahme eines minder schweren Falles liegen. Je geringer demgegenüber die Überschreitung des Grenzwerts ist, desto näher liegt die Annahme eines minder schweren Falles. Eine nur geringe Grenzwertüberschreitung wird - weil unterhalb des „Durchschnittsfalles“ gelegen - ein Kriterium für die Annahme eines minder schweren Falles sein, während eine ganz erhebliche Überschreitung gegen die Annahme eines solchen spricht (Senat, Urteil vom 13.04.2018 - 1 OLG 2 Ss 5/18, juris Rn. 15; BGH, Urteil vom 15.03.2017 - 2 StR 294/16, juris Rn. 20 = BGHSt 62, 90-96, Rn. 13; Urteil vom 26.04.2017 - 2 StR 506/15, NStZ 2017, 658, 659 f.; Patzak in: Körner/Patzak/Volkmer, BtMG, 9. Aufl. 2019, § 29a Rn. 129). Demzufolge war es der Strafkammer nicht verwehrt, das Maß der Grenzwertüberschreitung bei der Einordnung der Tat zu berücksichtigen.

Soweit der Bundesgerichtshof die strafmildernde Berücksichtigung einer nur geringfügigen Überschreitung des Grenzwertes beanstandet hat (Urteil vom 15.03.2017 - 2 StR 294/16, juris Rn. 20 ff. = BGHSt 62, 90 unter Aufgabe früherer Rechtsprechung; s.a. D. Schmidt NJW 2017, 2876) bezieht sich diese Rechtsprechung auf die Strafzumessung im engeren Sinne, nicht aber bereits auf die Strafrahmenwahl.“

Das OLG Zweibrücken hat zwei verschiedene Konstellationen angesprochen, die geringfügige Überschreitung der nicht geringen Menge und die erhebliche Überschreitung der nicht geringen Menge. Dazu gilt es Folgendes ergänzend anzumerken:

1. Zur geringfügigen Überschreitung der nicht geringen Menge:

Der 2. Strafsenat des BGH hat zunächst die Auffassung vertreten, eine geringe Überschreitung der Untergrenze zur nicht geringen Menge stelle einen Strafmilderungsgrund dar (BGH NStZ-RR 2016, 141; Beschl. v. 31.3.2016 – 2 StR 36/16, BeckRS 2016, 09855; kritisch BGH NStZ-RR 2017, 48). Daran hat er in späteren Entscheidungen indes nicht mehr festgehalten (BGHSt 62, 90 = NJW 2017, 2776 mzustAnm Oğlakcıoğlu; BGH NStZ 2017, 658; s. dazu auch Schmidt NJW 2017, 2876).

Je geringer die Überschreitung des Grenzwertes der nicht geringen Menge ist, umso eher kommt aber die Annahme eines minder schweren Falles in Betracht, (BGH Beschl. v. 16.1.2019 – 2 StR 488/18, BeckRS 2019, 2166; BGH Beschl. v. 6.11.2019 – 2 StR 246/19, BeckRS 2019, 40390; BGH NStZ-RR 2020, 24; BGH NStZ-RR 2021, 49).

2. Zur erheblichen Überschreitung des Grenzwertes der nicht geringen Menge:

Grundsätzlich darf die Tatbegehung mit einer nicht geringen Menge iSd § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG, § 30 Abs. 1 Nr. 4, § 30a Abs. 2 Nr. 2 nicht strafschärfend berücksichtigt werden, weil dies nur die Erfüllung des Qualifikationstatbestands beschreibt. Etwas anderes gilt aber, wenn es sich nicht lediglich um eine Überschreitung in einem Bagatellbereich handelt. In diesem Fall darf das Maß der Überschreitung des Grenzwertes zu Lasten des Angeklagten in die Strafzumessung einfließen (BGH Urt. v. 15.11.2017 – 2 StR 74/17, BeckRS 2017, 139279). Die Feststellung, wo die Bagatellgrenze verläuft, obliegt dem Tatrichter unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles (BGHSt 62, 90 = NJW 2017, 2776 mAnm Oğlakcıoğlu [bejaht bei 7,5-facher Überschreitung]. Verneint wurde die Überschreitung dieser Bagatellgrenze bei „annähend beim Doppelten der nicht geringen Menge“ (BGH Beschl. v. 14.3.2017 – 4 StR 533/16, BeckRS 2017, 108440), beim 2,5-Fachen (BGH NStZ-RR 2016, 44)], bei der 3-fachen nicht geringen Menge (BGH Beschl. v. 31.3.2016 – 2 StR 36/16, BeckRS 2016, 09855), bei Überschreitung um das 1,91-fache (BGH Beschl. v. 20.3.2018 – 3 StR 86/18, BeckRS 2018, 7864) oder beim 2,92-fache der nicht geringen Menge (BGH Beschl. v. 10.10.2019 – 1 StR 413/19, BeckRS 2019, 27657). Die Überschreitung der nicht geringen Menge um das 1.570-fache darf unstreitig als wesentlicher Gesichtspunkt zum Nachteil des Angeklagten berücksichtigt werden (BGH Urt. v. 24.10.2017 – 1 StR 226/17, BeckRS 2017, 135593).

Eine erhebliche Überschreitung der nicht geringen Menge kann zur Ablehnung eines minder schweren Falles führen, denn je höher im Einzelfall die Grenze zur nicht geringen Menge überschritten ist, desto gewichtiger müssen im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtwürdigung die für die Annahme eines minder schweren Falles hinzugezogenen Gründe sein (BGHSt 62, 90 = NJW 2017, 2776 mAnm Oğlakcıoğlu; BGH Urt. v. 24.10.2017 – 1 StR 226/17, BeckRS 2017, 135593; BGH NStZ-RR 2020, 24; OLG Zweibrücken Urt. v. 13.4.2018 – 1 OLG 2 Ss 5/18, BeckRS 2018, 7013)

Zurück zur Entscheidung des OLG Zweibrücken:

Das OLG Zweibrücken hat das Urteil der Vorinstanz übrigens wegen anderer Strafzumessungsfehler auf die Revision der Staatsanwaltschaft aufgehoben (OLG Zweibrücken Urt. v. 22.11.2021 – 1 OLG 2 Ss 36/21, BeckRS 2021, 37948):

„Die Beschwerdeführer beanstandet jedoch zu Recht die mildernde Wirkung, die das Landgericht im Rahmen der Strafrahmenbestimmung dem Umstand beigemessen hat, dass die hier gehandelten Betäubungsmittel (Amphetamin) auf der Schwereskala illegaler Drogen einen mittleren Platz einnehmen (vgl. BGH, Beschluss vom 28.06.1990 - 2 StR 275/90, StV 1990, 494). Denn damit hat das Landgericht einen Umstand, der geeignet ist, dem Tatbild ein vom Gewicht eines Durchschnittsfalls nach unten hin abweichendes Gepräge zu geben, nicht belegt. Zwar hat es zutreffend erkannt, dass die Gefährlichkeit von Amphetamin nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs im Regelfall keine strafschärfende Wirkung beigemessen werden kann (BGH, Urteil vom 22.08.2012 - 2 StR 235/12, NStZ-RR 2013, 150). Die Einordnung von Amphetamin als mittelgradig gefährliche Droge kann im Rahmen der Gesamtwürdigung der Tat aber auch kein vom Durchschnittsfall nach unten hin abweichendes Gepräge geben. Es ist vielmehr ein Gesichtspunkt, der eher die Annahme des Regelstrafrahmens, als die eines minder schweren Falles zu rechtfertigen vermag.

 d) Die Ausführungen zur Strafrahmenwahl weisen zudem den Angeklagten benachteiligende Rechtsfehler auf. So hat das Landgericht im Kontext von schulderschwerend gewerteten Umständen (namentlich Vorstrafen) ausdrücklich berücksichtigt, dass „das Amphetamin nicht sichergestellt werden konnte und der Angeklagte nicht betäubungsmittelabhängig ist“ (UA S. 8). Hierbei handelt es sich um Umstände, die den Normalfall des Betäubungsmittelhandels beschreiben. Der Gesamtzusammenhang in dem diese Umstände gestellt sind, lässt somit zu besorgen, dass das Landgericht das Fehlen von Strafmilderungsgründen rechtsfehlerhaft erschwerend berücksichtigt hat (vgl. BGH, Beschluss vom 26.10.1990 - 2 StR 390/90, juris Rn. 8; Beschluss vom 22.05.2018 - 4 StR 100/18, juris Rn. 8; Urteil vom 09.10.2019 - 1 StR 39/19, juris Rn. 18).“

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