Mutwillige Selbstverletzung bei Wutausbruch am Arbeitsplatz – trotzdem Entgeltfortzahlung

von Prof. Dr. Markus Stoffels, veröffentlicht am 20.11.2013

Ein bemerkenswertes Urteil des Hessischen LAG (vom 23. Juli 2013, Aktenzeichen 4 Sa 617/13) beschäftigt sich mit Verschuldensbegriff im Entgeltfortzahlungsrecht. § 3 Abs. 1 EFZG lautet: „Wird ein Arbeitnehmer durch Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit an seiner Arbeitsleistung verhindert, ohne daß ihn ein Verschulden trifft, so hat er Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall durch den Arbeitgeber für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit bis zur Dauer von sechs Wochen.“ Im Fall des Hessischen LAG ging es um die Klage eines Warenauffüllers in einem Baumarkt. Für seine Tätigkeit benutzte der Kläger einen Gabelstapler. Anfang August 2012 brachte er an dem Gabelstapler ein provisorisches Plexiglasdach als Wetterschutz an. Dies wurde von dem betrieblichen Sicherheitsbeauftragten gerügt und zum Abbau des Plexiglasdaches angehalten. Darüber geriet der Kläger derart in Wut, dass er zunächst mit Verpackungsmaterial um sich warf und dann mindestens dreimal mit der Faust auf ein in der Nähe aufgestelltes Verkaufsschild aus Hohlkammerschaumstoff schlug. Dieses war auf einer Holzstrebe montiert, die er mehrfach traf. Dabei brach sich der Kläger die Hand. Er war vom 9. August bis 19. September 2012 arbeitsunfähig krankgeschrieben. Seine Arbeitgeberin verweigerte die Entgeltfortzahlung über insgesamt 2662,52 € brutto mit dem Einwand, der Kläger sei an seiner Verletzung selbst schuld. Spätestens nach dem 1. Schlag auf das Verkaufsschild habe er die Holzstrebe spüren müssen. Dennoch habe er voller Wut weiter auf das Verkaufsschild eingeschlagen. Die Verletzung habe er sich somit vorsätzlich beigebracht. Das Hessische LAG hat jedoch dem Kläger recht gegeben. Der Verschuldensbegriff im Entgeltfortzahlungsrecht entspreche nicht dem allgemeinen zivilrechtlichen Verschuldensbegriff, der auch mittlere und leichte Fahrlässigkeit umfasst. Er erfordere vielmehr einen groben Verstoß gegen das eigene Interesse eines verständigen Menschen. Dieses setze ein besonders leichtfertiges, grob fahrlässiges oder vorsätzliches Verhalten gegen sich selbst voraus. Ein solches Verschulden des Klägers liegt nach Ansicht des Hessischen Landesarbeitsgerichts nicht vor. Es sei nicht ersichtlich, dass er seine Verletzung bewusst herbeiführen wollte. Nach der Auffassung des Hessischen Landesarbeitsgerichts lag nur mittlere Fahrlässigkeit vor. Der Kläger hätte bei verständiger Betrachtung allerdings damit rechnen müssen, dass er durch die Schläge auf das Schild eine Verletzung riskiert. Gegen eine grobe Fahrlässigkeit des Klägers spreche jedoch, dass er sich offensichtlich in einem heftigen Wut- und Erregungszustand befand und sich dementsprechend kurzzeitig nicht unter Kontrolle hatte. Das sei nicht zu billigen, aber menschlich gleichwohl nachvollziehbar, da niemand in der Lage sei, sich jederzeit vollständig im Griff zu haben. Der Kläger habe aus Wut und Erregung die erforderliche Kontrolle über sein Handeln verloren. Dies sei sicher leichtfertig gewesen, aber nicht derart schuldhaft, dass von besonderer Leichtfertigkeit oder grober Fahrlässigkeit die Rede sein könne. Es bestätigt sich damit die Tendenz, dass die Arbeitsgerichte mit der Annahme des Verschuldens im Rahmen des Entgeltfortzahlungsrechts außerordentlich zurückhaltend sind. Eine andere – von den Sozialgerichten – zu entscheidende Frage ist übrigens, ob die Verletzung des Klägers als Arbeitsunfall eingestuft werden kann. Das dürfte eher fraglich sein, wird doch dort ein sog. innerer Zusammenhang zwischen der versicherten und der unfallbringenden Tätigkeit gefordert. Dieser entfällt bei der sogenannten selbstgeschaffenen Gefahr, wenn der Versicherte sich in einem solchen Maße vernunftwidrig verhält, dass die betriebsbedingten Umstände ganz zurücktreten und keine wesentliche Ursache mehr für den Unfall darstellen

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2 Kommentare

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Zum Verständnis eine Frage :

 

Ist es gesicherte Rechtssprechung, dass die Verschuldensbegriffe im BGB und Entgeltfortzahlungsgesetz nicht übereinstimmen oder hat dies das entscheidende Gericht nun erstmals so gesehen ?

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Moralisch, menschlich, psychologisch mag die Gefühlslage ja eine Rolle spielen, aber wieso Wut das Verschulden senken soll, erscheint mir doch fraglich. Handelt jemand mit geringerem Verschuldensgrad, weil er aus Wut sein Kfz schneller fährt und dabei jemanden umfährt, als wenn er er dasselbe tut, um schneller nach Hause zu kommen?

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