Aus der BGH-Textbausteinküche: Zum bedingten Vorsatz

von Carsten Krumm, veröffentlicht am 22.11.2023
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Bedingter Vorsatz - ein Klassiker der Juristenausbildung. Aber auch in der Praxis sehr wichtig. Der BGH hat hier einmal wieder etwas aus seiner "Textbausteinküche" zusammengesetzt:

 

a) Bedingter Vorsatz ist gegeben, wenn der Täter den Erfolg als mögliche, nicht ganz fernliegende Folge seines Handelns erkennt (Wissenselement) und dies billigt oder sich um des erstrebten Zieles willen zumindest mit dem Eintritt des Erfolges abfindet, mag ihm der Erfolgseintritt auch gleichgültig oder an sich unerwünscht sein (Willenselement; vgl. BGH, Beschluss vom 18. Februar 2021 - 4 StR 266/20 Rn. 9; Urteil vom 18. Juni 2020 ‒ 4 StR 482/19, NJW 2020, 2900 Rn. 22; Urteil vom 1. März 2018 ‒ 4 StR 399/17, BGHSt 63, 88 Rn. 17; Urteil vom 14. Januar 2016 – 4 StR 84/15 Rn. 12). Ob der Täter nach diesen rechtlichen Maßstäben bedingt vorsätzlich gehandelt hat, ist in Bezug auf beide Elemente im Rahmen der Beweiswürdigung umfassend zu prüfen und durch tatsächliche Feststellungen zu belegen (vgl. BGH, Urteil vom 4. Februar 2021 ‒ 4 StR 403/20 Rn. 16; Urteil vom 7. Juli 2016 ‒ 4 StR 558/15 Rn. 14 mwN).

 b) Diesen Anforderungen wird das Urteil nicht gerecht. Sowohl der Ausschluss des Wissenselements (aa) als auch des Willenselements (bb) des bedingten Vorsatzes durch die Strafkammer begegnet vorliegend durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

 aa) Das Landgericht hat das Wissenselement des bedingten Vorsatzes betreffend einen falschen rechtlichen Maßstab angelegt. Denn anders als beim direkten Vorsatz ist beim bedingten Vorsatz ein sicheres Voraussehen des tatbestandlichen Erfolges durch den Täter nicht erforderlich (vgl. BGH, Urteil vom 14. Dezember 2000 – 4 StR 327/00, juris Rn. 14; Urteil vom 12. Juli 2005 – 1 StR 65/05, juris Rn. 16, jeweils zu § 226 Abs. 2 StGB; BeckOKStGB/Kudlich, § 15 Rn. 17; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben/Schuster, StGB, 30. Aufl., § 15 Rn. 72; SSW-StGB/Momsen, 5. Aufl., § 15 Rn. 44). Stattdessen reicht es aus, wenn der Täter die bloße Möglichkeit des Erfolgseintritts erkennt (vgl. BGH, Beschluss vom 18. Februar 2021 ‒ 4 StR 266/20; Urteil vom 18. Juni 2020 ‒ 4 StR 482/19, NJW 2020, 2900 Rn. 22; Urteil vom 1. März 2018 ‒ 4 StR 399/17, BGHSt 63, 88 Rn. 17; Beschluss vom 14. Januar 2016 – 4 StR 84/15, juris Rn. 12). Das Vorliegen eines bedingten Vorsatzes kann daher nicht – wie vorliegend geschehen – allein mit der Begründung verneint werden, dass keine zweifelsfreien Feststellungen dazu getroffen werden konnten, dass der Angeklagte „die Zwangslage“ des Polizeibeamten und damit die den tatbestandlichen Erfolg auslösende Situation tatsächlich wahrnahm.

 bb) Auch ist die Erwägung der Strafkammer, der Angeklagte habe „vernünftiger Weise“ darauf vertrauen dürfen, dass sich KHK D. zurückziehe, ist nicht beweiswürdigend unterlegt. Der Ausschluss des voluntativen Vorsatzelements ist daher ebenfalls nicht tragfähig.

 Auch bei der Prüfung des voluntativen Elements eines bedingten Vorsatzes ist eine Gesamtschau aller objektiven und subjektiven Tatumstände vorzunehmen (vgl. BGH, Urteil vom 7. Juli 2016 ‒ 4 StR 558/15 Rn. 14; Urteil vom 19. April 2016 ‒ 5 StR 498/15, NStZ-RR 2016, 204 f. mwN; Urteil vom 25. April 2019 ‒ 4 StR 442/18, NStZ 2019, 608, 609; Urteil vom 1. März 2018 ‒ 4 StR 399/17, BGHSt 63, 88 Rn. 19). Dabei müssen alle im Einzelfall in Betracht kommenden Umstände in den Blick genommen und erörtert werden (vgl. BGH, Urteil vom 18. Juni 2020 ‒ 4 StR 482/19, NStZ 2020, 602 Rn. 23; Urteil vom 25. April 2019 ‒ 4 StR 442/18, NStZ 2019, 608 Rn. 16; Urteil vom 1. März 2018 ‒ 4 StR 399/17, BGHSt 63, 88 Rn. 19; Urteil vom 26. November 2014 ‒ 2 StR 54/14, NStZ 2015, 516 f.; Beschluss vom 27. August 2013 ‒ 2 StR 148/13, NStZ 2014, 35; Beschluss vom 10. Juli 2007 ‒ 3 StR 233/07, NStZ-RR 2007, 307).

BGH Urt. v. 3.8.2023 – 4 StR 467/22, BeckRS 2023, 22700

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