Offenkundig falsche Rechtsbehelfsbelehrung!

von Dr. Oliver Elzer, veröffentlicht am 08.01.2021
Rechtsgebiete: Zivilverfahrensrecht6|6216 Aufrufe

Seit Anfang 2014 hat nach § 232 Satz 1 ZPO grundsätzlich jede anfechtbare gerichtliche Entscheidung eine Rechtsmittelbelehrung zu enthalten. Diese Bestimmung suggeriert, dass sich Gerichte insoweit immer sicher sind. Sie sind es nicht – und dem Gesetzgeber war das auch bewusst. Er fügte daher in § 233 Satz 2 ZPO eine Vermutung ein: Nämlich die, dass eine Partei ohne ihr Verschulden an der Einhaltung der versäumten Frist gehindert war, wenn die Rechtsbehelfsbelehrung fehlerhaft war. Diese Vermutung ist allerdings zu widerlegen. Es durfte erwartet werden, wie es kam: Es gibt eine reiche Rechtsprechung, wann im Einzelfall keine Wiedereinsetzung zu gewähren ist, obwohl eine Rechtsbehelfsbelehrung fehlerhaft war.

Ist eine Rechtsbehelfsbelehrung falsch, soll es nach dem BGH darauf ankommen, wie falsch sie ist. Ist eine Rechtsbehelfsbelehrung offenkundig falsch, bleibt es dabei, dass keine Wiedereinsetzung gewährt wird. Ist sie hingegen nur falsch, ist Wiedereinsetzung zu gewähren. Entscheidende Weichenstellung ist damit der Begriff der Offenkundigkeit. Nach dem XII. Zivilsenat ist ein Fehler bereits dann „offenkundig“, wenn Grundkenntnisse des Verfahrensrechtes und des Rechtsmittelsystems berührt sind (BGH, Beschluss vom 24.01.2018 – XII ZB 534/17; BGH, Beschluss vom 18.12.2013 – XII ZB 38/13; BGH, Beschluss vom 13.06.2012 – XII ZB 592/11). An dieser Sichtweise hat der Senat in jüngst veröffentlichten Entscheidung festgehalten (BGH, Beschluss vom 25. November 2020 – XII ZB 256/20)

Für den XII. Zivilsenat ist es mittlerweile wohl ausgemachte Sache, dass jeder Rechtsanwalt – auch der Nichtfachanwalt – die Unterteilung in Familienstreit- und Ehesachen und Familiensachen kennen und wissen muss, dass erstens in Familienstreitsachen die fristgebundene Rechtsmittelbegründung Zulässigkeitsvoraussetzung der Beschwerde und zweitens eine (Trennungs-)Unterhaltssache als Familienstreitsache einzuordnen ist. Da jedenfalls dem OLG diese Dinge nicht offenkundig waren, ein letztlich harter Maßstab. Ferner ist beispielsweise der V. Zivilsenat in WEG-Streitgkeiten tatsächlich viel milder. Man sollte und könnte daher beim BGH oder in Berlin nachsteuern. Oder?

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6 Kommentare

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Wenn ein OLG-Richter irrt, wird die Entscheidung möglicherweise aufgehoben, aber Konsequenzen hat das für den Richter nicht.

Wenn ein Rechtsanwalt irrt, leiden Mandant und Anwalt darunter. Auch die Rechtsordnung erleidet Schaden, damit das öffentliche Interesse.

Um die Entscheidungsfreude der Gerichte nicht zu lähmen, kann man die Regeln so aufstellen. Aber wenn sie so sind, sollten die Gerichte - d. h. die Richter - sich daran erinnern, welche Privilegien sie genießen und diese nicht zu Lasten der Parteien, Anwälte und Rechtsordnung überspannen. Dazu gehört, Fehler der Justiz zumindest nicht noch zu verschlimmern, indem Rechtsmittel abgewürgt werden.

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Habe ich das richtig verstanden: Die widerlegbare Vermutung, dass bei falscher Rechtsbehelfsbelehrung kein Verschulden vorliegt, wird durch die Vermutung widerlegt, dass ein Anwalt Fristen besser kennt, als die Gerichte? Kann natürlich sein, aber stellt sich dann nicht die Frage, ob diese Vermutung widerlegbar ist, so dass zumindest gerichtsgekannt schlechten Anwälten - soll es ja auch geben - Wiedereinsetzung gewährt werden müsste? Und ist eine anwaltliche Versicherung eigener Unzulänglichkeit erfolgversprechend?

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Die Anforderungen an die Widerlegung der gesetzlichen Vermutung in 233 S. 2 ZPO sind nach der Entscheidung des XII-Zivilsenats so niedrig angelegt, dass sie auf den ersten Blick sogar willkürlich erscheinen. Rechtsanwalt wird man in Deutschland auch ohne Kenntnis des Familienrechts, das weder im ersten noch im zweiten Staatsexamen abgefragt wird. Wenn eine Rechtsmittelbelehrung einem mit drei Berufsrichtern besetzten OLG-Familiensenat mit erheblicher Berufserfahrung und Kenntnis in Familienrecht nicht als offensichtlich falsch erkannt wird und diese Richter ihre Entscheidung für unanfechtbar halten, dann wird auch ein durchschnittlicher Rechtsanwalt mit durchschnittlichen Kenntnissen und durchschnittlicher Berufserfahrung in Familienrecht zunächst auf die Richtigkeit der Rechtsmittelbelehrung vertrauen dürfen.

Die Offenkundigkeit des Fehlers in der Rechtsmittelbelehrung leitet der BGH-Senat aus der Erwartung an Rechtskenntnis eines in Familiensachen tätigen Rechtsanwalt. Diese Erwartung darf man mindestens aber auch von einem dreiköpfigen Richtergremium eines OLG-Familiensenats haben. Wenn sich aber dann doch beide bezüglich des zulässigen Rechtsmittels irren sollten, dann soll das nicht zu Lasten des Rechtssuchenden gehen. So hat das der Gesetzgeber entschieden. Zumal in Familiensachen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, und erst Recht vor dem OLG der Rechtssuchende sich nicht aussuchen kann, ob er sich anwaltlich vertreten lässt. Es besteht Anwaltszwang.

Die Anforderungen an die Widerlegung der gesetzlichen Vermutung und an der Offensichtlichkeit des Fehlers in der Rechtsmittelbelehrung müssen an der Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes durch Art. 19 Abs. 4 GG gemessen werden. Wird die Offensichtlichkeit aber an den Erwartungen der Rechtskenntnis eines Rechtsanwalts und eines Richters gemessen, dann läuft die gesetzliche Vermutung ins Leere und die Anforderungen für Inanspruchnahme des Rechtswegs werden in verfassungsrechtlich bedenklicher Weise überspannt.

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"Rechtsanwalt wird man in Deutschland auch ohne Kenntnis des Familienrechts, das weder im ersten noch im zweiten Staatsexamen abgefragt wird." - Quatsch mit Soße, in vielen Bundesländern. Wann haben Sie Ihre Examina absolviert, 1950?

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"Quatsch mit Soße"? Dann werfen Sie doch einen Blick in das geltende JAG NRW. In 11 und 52 sind Gegenstände der Prüfungen geregelt. aber nicht alles, das dort aufgeführt ist, wird auch tatsächlich geprüft. Zum Familienrecht wird wird in 11 wie folgt ausgeführt:

"im Überblick aus dem Buch 4 (Familienrecht) aus dem Abschnitt 1 die Wirkungen der Ehe im Allgemeinen und das gesetzliche Güterrecht sowie aus dem Abschnitt 2 die Allgemeinen Vorschriften über die Verwandtschaft und die Elterliche Sorge".

Vielleicht können Sie mir zustimmen, dass das nicht wirklich viel ist. Selbst rudimentäre Kenntnisse des Familienrechts dürften größer sein.

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