Fundament der Freiheit - Andreas Voßkuhle über 75 Jahre Grundgesetz

von Gastbeitrag, veröffentlicht am 15.04.2024
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Andreas Voßkuhle über 75 Jahre Grundgesetz

75 Jahre Grundgesetz: Das Dokument, welches am 23. Mai 1949 in Kraft getreten ist, hat sich als Fundament der deutschen Demokratie und als Garant für Rechtsstaatlichkeit und individuelle Freiheiten etabliert. Dennoch scheint einiges ins Wanken geraten zu sein. Anlässlich des besonderen Jubiläums sprechen wir mit dem ehemaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Prof. Dr. Andreas Voßkuhle, und haben ihn über die zurückliegenden Jahre, die heutige Rolle des Bundesverfassungsgerichts sowie die Zukunftsfähigkeit des Grundgesetzes befragt.

Herr Professor Voßkuhle, wie würden Sie die Bedeutung des Grundgesetzes für die Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland in den letzten 75 Jahren zusammenfassen?

Das Grundgesetz war für die Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland hin zu einer offenen, pluralen Gesellschaft mit demokratischem Bewusstsein und ausgebautem Grundrechtsschutz zentral. Wir wissen nicht genau, wie sich das Land ohne das Grundgesetz entwickelt hätte. Es sähe aber auf jeden Fall anders aus.

Welche Grundrechte halten Sie für besonders prägend in der deutschen Gesellschaft und warum?

Die Kommunikationsgrundrechte aus Art. 5 Abs. 1 und Art. 8 sind für die Verwirklichung des Demokratieprinzips ›schlechthin konstituierend‹. Sie spielen sicherlich eine besondere Rolle innerhalb der Entwicklung der Bundesrepublik. Aber auch alle anderen Grundrechte haben einen wichtigen Beitrag geleistet. Es gibt letztlich kein Grundrecht, das lediglich ein Mauerblümchendasein gefristet hat.

Wie hat sich das Verständnis und die Interpretation der Grundrechte im Laufe der Zeit verändert?

Während in den ersten Jahrzehnten die Schutzbereichskonturierung und die Entwicklung des Eingriffsbegriffs noch eine wichtige Rolle spielten, hat sich mehr und mehr der Schwerpunkt der Grundrechtsprüfung in die Verhältnismäßigkeitsprüfung verlagert. Gleichzeitig ist die objektivrechtliche Dimension der Grundrechte immer deutlicher zutage getreten und hat zu einer weitgehenden Konstitutionalisierung der einfachen Rechtsordnung geführt. Auch der Zivil- und Strafrichter denkt bei jeder Entscheidung die Grundrechte mit.

Inwiefern ist das Grundgesetz auf die aktuellen globalen Entwicklungen und Herausforderungen wie Klimawandel, Digitalisierung und Migration vorbereitet?

Bisher hat das Bundesverfassungsgericht es immer geschafft, den Grundrechtsschutz vor dem Hintergrund der aktuellen Herausforderungen angemessen weiterzuentwickeln. Denken Sie etwa an das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, mit dem auf die Gefahren des Datenmissbrauchs reagiert wurde oder zuletzt an den Klimabeschluss, in dem der Erste Senat den Gedanken des intertemporalen Grundrechtsschutzes entwickelt hat. Ich bin insofern guter Hoffnung, dass auch andere Herausforderungen gemeistert werden.

Man hat den Eindruck, zeitweise treibt das Bundesverfassungsgericht das Parlament durch wegweisende Entscheidungen wie das von Ihnen erwähnte Recht auf informationelle Selbstbestimmung, den Klimaschutz oder auch das dritte Geschlecht vor sich her.

Gefühlt ist der Einfluss des Bundesverfassungsgerichts stärker geworden, die empirischen Daten belegen dieses Gefühl aber nicht. Die Zahl der Gesetze, die in einem Jahr für verfassungswidrig erklärt worden sind, ist über die Jahre hinweg relativ konstant. Das Bundesverfassungsgericht wird auch nicht von sich aus tätig, sondern es muss alle Fälle entscheiden, die zulässigerweise an es herangetragen werden. Es reagiert auf gesellschaftliche Entwicklungen, treibt aber das Parlament nicht vor sich her, sondern erleichtert ihm die Arbeit, indem es den verfassungsrechtlichen Rahmen für die Politik absteckt.

Trotzdem gilt die Institution der Verfassungsgerichte als gefährdet, wie Sie in einem Beitrag für DIE ZEIT dargelegt haben. 

Tatsächlich ist die Idee des demokratischen Verfassungsstaates weltweit unter Druck geraten. Das zeigt sich nicht nur, aber insbesondere im Umgang mit den Verfassungsgerichten. In einigen Staaten wurde sie faktisch entmachtet, in anderen ist ihre Funktionsfähigkeit nachhaltig beeinträchtigt. Das gilt für die Verfassungsgerichte in Polen, Ungarn, den Vereinigten Staaten und Israel, aber auch für Verfassungsgerichte in Brasilien, Bulgarien, Rumänien, Russland, Spanien und der Türkei. Es ist kein Zufall, dass diese Entwicklung in eine Zeit fällt, die weltweit durch eine Renaissance des politischen Autoritarismus geprägt ist, der sich um viele politische Errungenschaften der Nachkriegszeit nicht schert. Im Weltbild rechter Populisten haben Verfassungsgerichte keinen Platz. Diese sind die natürlichen Feinde des Illiberalismus.

Zurück zum Grundgesetz: Gibt es Bereiche, in denen Sie eine Anpassung oder Erweiterung des Grundgesetzes für notwendig halten?

Aus meiner Sicht hat sich das Grundgesetz im Wesentlichen bewährt. Häufige Änderungen führen in der Regel nicht zu einer Verbesserung des verfassungsrechtlichen Schutzes. Vorstellen könnte ich mir einige Regelungen zum Schutze des Bundesverfassungsgerichts und die Einführung einiger plebiszitärer Elemente wie Volksbegehren oder Volksbefragungen zu bestimmten Themen.

Wie sehen Sie die Zukunft des Grundgesetzes in Bezug auf die europäische Integration und den Vorrang von EU-Recht?

Das Bundesverfassungsgericht ist häufig dafür gescholten worden, Rechtsakte, die im weitesten Sinne die europäische Integration betreffen, einer verfassungsrechtlichen Prüfung zu unterziehen. Das betrifft etwa Zustimmungsgesetze zur Vertragsveränderung oder das Handeln einzelner europäischer Institutionen, wie beispielsweise der Europäischen Zentralbank. Sicher gibt es hier auch berechtigte Kritikpunkte. Schaut man aber zurück auf die letzten Jahrzehnte so wird man sich der Erkenntnis nicht verschließen können, dass es dem Gericht gelungen ist, ein dichtes Netz an dogmatischen Figuren und Prinzipien zu knüpfen, das den Prozess der Integration einerseits produktiv anleitet und andererseits seine verfassungsrechtliche und demokratische Rückanbindung sicherstellt. Wichtige Knotenpunkte dieses Netzes sind u.a. die Grundsätze der Europarechtsfreundlichkeit und Integrationsverantwortung, die Instrumente der Ultra-vires- und Identitätskontrolle sowie das in Art. 38 Abs. 1 GG verankerte »Recht auf Demokratie«. Dementsprechend ist das Grundgesetz für die Zukunft der europäischen Integration gut aufgestellt.

Wie können wir sicherstellen, dass das deutsche Grundgesetz auch in den kommenden Generationen als Grundlage für eine gerechte und demokratische Gesellschaft Bestand hat?

Es wird vor allem wichtig sein, das Bundesverfassungsgericht als maßgeblichen Interpreten des Grundgesetzes vor dysfunktionalen Einflüssen zu schützen und bei der Besetzung offener Richterstellen höchste Anforderung an die Qualifikation der Richterinnen und Richter zu stellen. Auch Verfassungsgerichtsentscheidungen sind Menschenwerk!

Und welche Rolle kommt uns Bürgerinnen und Bürgern bei der Wahrung und Weiterentwicklung des Grundgesetzes zu?

In der »offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten« wie sie von Peter Häberle Mitte der 1970er Jahre ausgerufen wurde, müssen Grundrechte täglich gelebt werden, indem man sich auf sie beruft, indem man sie einklagt und indem man sich mit ihnen beschäftigt. Grundrechte sind nicht selbstverständlich. Sie wurden in einem langen Prozess erkämpft und besitzen für den Einzelnen wie für die Gesellschaft einen unschätzbaren Wert.

Prof. Dr. Andreas Voßkuhle ist Direktor des Instituts für Staatswissenschaft und Rechtsphilosophie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Von 2010 bis 2020 war er Präsident des Bundesverfassungsgerichts und hat während seiner Amtszeit zahlreiche wichtige Urteile mitgeprägt. 

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