Lebensgefährdungs- oder Tötungsvorsatz? Das ist heikel bei Einzelrasern. (BGH 4 StR 132/23)

von Prof. Dr. Henning Ernst Müller, veröffentlicht am 27.10.2023
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Der vor einigen Jahren in das StGB eingefügte § 315d StGB führt in der Praxis weiterhin zu Verunsicherung.

Im September hatte der 4. Senat des BGH über folgenden Fall mit tragischem Ausgang zu entscheiden (BGH 4 StR 132/23, Rn.4):

„Nach den Feststellungen befuhr der Angeklagte, nachdem er auf einer Feier alkoholische Getränke konsumiert hatte, mit einem hochmotorisierten Pkw Mercedes AMG eine Landstraße. Um seinem Beifahrer das Leistungsvermögen des Fahrzeugs zu demonstrieren, fuhr er mit weit überhöhter Geschwindigkeit. Bei Annäherung an eine Kurve bremste er kurz ab und gab dann aus „nicht näher aufklärbaren Gründen, am ehesten als Folge eines alkoholbedingten Verlustes seines Koordinationsvermögens“ bereits kurz vor Einfahrt in die Kurve erneut Vollgas. Dies hatte zur Folge, dass das Fahrzeug trotz seines sehr leistungsstarken Fahrwerks bei der Kurvendurchfahrt nicht mehr in der Fahrspur gehalten werden konnte. Es geriet in die Gegenspur, wo es mit zwei entgegenkommenden Fahrzeugen kollidierte. Während am ersten dieser Fahrzeuge nur Sachschaden entstand, wurden zwei der Insassen des zweiten getötet und die beiden anderen verletzt.“

Das LG Neuruppin hat den Angeklagten in diesem Fall verurteilt wegen verbotenen Kraftfahrzeugrennens mit Todesfolge in Tateinheit mit vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs und mit fahrlässiger Körperverletzung sowie wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort, also nach §§ 315d Abs.1 Nr.3, Abs.2, Abs.5; 315c Abs.1 Nr.1a); 229; 142 StGB.

Die vom Angeklagten eingelegte Revision war zum Teil erfolgreich. Der BGH hob die Verurteilung wegen des verbotenen Kraftfahrzeugrennens mit Todesfolge auf, maßgeblich wegen der nach Ansicht des BGH nicht überzeugenden Begründung des subjektiven Tatbestands nach § 315d Abs. 2, Abs.5 (Todesfolge).

§ 315d Abs.5 StGB ist eine Erfolgsqualifikation, nach § 18 StGB ist Vorsatz für die Todesfolge selbst nicht erforderlich, es genügt Fahrlässigkeit. Allerdings knüpft Abs.5 nicht an Abs.1 Nr.2 oder Nr.3 an, wonach die (vorsätzliche) Teilnahme an einem Rennen oder die „grob verkehrswidrige und rücksichtslose“ Fortbewegung zur Erreichung "höchstmöglicher Geschwindigkeit" ausreichen würde, sondern an Abs.2. § 315d Abs.2 verlangt eine – vorsätzliche – konkrete Gefährdung. Für die Verwirklichung des § 315d Abs.5 ist also eine Differenzierung erforderlich zwischen dem Vorsatz, eine konkrete Gefährdung zu bewirken und einem Vorsatz, der sich auf einen eintretenden Erfolg bezieht. Besonders problematisch ist dies im Fall des § 315d Abs.5 StGB, weil hier mit dem Bezug auf dieselbe objektive Handlung drei subjektive Haltungen (Fahrlässige Lebensgefährdung nach § 315 d Abs.1 bzw. § 315c Abs.1, Abs.3 Nr.2, Lebensgefährdungsvorsatz nach § 315d Abs.2, Abs.5 oder Tötungsvorsatz nach §§ 212, 211) zu differenzieren sind.

Wie sich schon am „Kudammraser-Fall“ zeigte, stellt die Frage des Tötungsvorsatzes in den Renn-Fällen mit tödlichem Ausgang die Praxis vor besondere Probleme. Zur Zeit des Kudammraser-Falls stand die Regelung § 315d Abs.2, Abs.5 StGB noch nicht zur Verfügung. Eine Bestrafung lediglich wegen fahrlässiger Tötung erschien damals dem LG Berlin wie auch einem Großteil der Öffentlichkeit als nicht ausreichend zur Sanktionierung des Unrechts. Unter größten Schwierigkeiten gelang es dem LG Berlin im zweiten Anlauf den BGH zu überzeugen, dass ein Tötungsvorsatz gesetzeskonform subsumiert werden konnte. Eigentlich müsste es nunmehr, nach Einfügung des § 315d StGB, in ähnlich gelagerten Fällen der Praxis leichter fallen, Kraftfahrzeugrennen mit Todesfolge zu bejahen. Dass dies nicht selbstverständlich ist, zeigt der vorliegende Fall.

Hier zunächst die Argumentation  des LG Neuruppin (wie sie vom Senat paraphrasiert bzw. zitiert wird; BGH 4 StR 132/23, Rn.5):

„Zur inneren Tatseite des § 315d Abs. 2 StGB hat das Landgericht ausgeführt, dass die konkrete Gefährdung von Leib oder Leben anderer Menschen, nämlich der bei der Kurvendurchfahrt im Gegenverkehr befindlichen Personen, vom Vorsatz des Angeklagten umfasst gewesen sei. Dieser habe gewusst, „dass seine für die Kurvendurchfahrt gewählte Geschwindigkeit so nah an der Grenze des mit dem Mercedes Möglichen lag, dass sonst nichts mehr ‚dazwischenkommen‘ durfte, wenn es nicht zum Unfall kommen sollte“, wenn er auch „darauf vertraute, dass die Gefährdung sich nicht realisieren würde“. Ein vorsätzliches Tötungsdelikt hat das Landgericht nicht festzustellen vermocht und zur Begründung ausgeführt, dass die „festgestellte Überzeugung des Angeklagten, dass er mit dem Mercedes in der Lage sein würde, die Kurve auch mit der angestrebten überhöhten Geschwindigkeit zu durchfahren“, die Annahme ausschließe, „er habe sich mit der konkreten Möglichkeit eines Unfalls und der davon für andere Verkehrsteilnehmer ausgehenden Todesgefahr abgefunden und sie in Kauf genommen oder gar derlei beabsichtigt“.

Das klingt zumindest auf den ersten Blick widersprüchlich und ein Widerspruch führt auch letztlich zur Aufhebung. Der Senat (BGH 4 StR 132/23, Rn.6):

„Damit hat das Landgericht die Voraussetzungen des § 315d Abs. 2 StGB in subjektiver Hinsicht nicht festgestellt. Der insoweit erforderliche (mindestens) bedingte Gefährdungsvorsatz ist gegeben, wenn der Täter über die allgemeine Gefährlichkeit des Kraftfahrzeugrennens hinaus auch die Umstände kennt, die den in Rede stehenden Gefahrerfolg im Sinne eines Beinaheunfalls als naheliegende Möglichkeit erscheinen lassen, und er sich mit dem Eintritt einer solchen Gefahrenlage zumindest abfindet (BGH, Urteil vom 16. Februar 2023 – 4 StR 211/22, NZV 2023, 361 Rn. 28 mwN). Das hiernach erforderliche voluntative Vorsatzelement, nämlich das Erfordernis, dass sich der Täter mit dem Eintritt der konkreten Gefährdung abgefunden haben muss, hat das Landgericht indes gerade verneint, indem es festgestellt hat, dass der Angeklagte überzeugt gewesen sei, zur Kurvendurchfahrt in der Lage zu sein, und darauf vertraut habe, dass die Gefährdung etwa entgegenkommender Verkehrsteilnehmer sich nicht realisieren werde. Damit fehlt es zugleich am Vorsatz des Angeklagten hinsichtlich der auch insoweit an § 315d Abs. 2 StGB anknüpfenden und nur im Übrigen § 18 StGB unterfallenden Erfolgsqualifikation des § 315d Abs. 5 StGB (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Februar 2021 – 4 StR 225/20, BGHSt 66, 27 Rn. 20; MüKo-StGB/Pegel, 4. Aufl., § 315d Rn. 38 mwN).“

Mein Kommentar: Das LG Neuruppin hat im ersten Schritt (oben erste Hervorhebung) gesetzeskonform argumentiert: Der Angeklagte habe zwar die Gefährdung in Kauf genommen, aber nicht die Realisierung dieser Gefahr. Wer behauptet, diese Differenzierung sei nicht möglich, der behauptet zugleich, dass genau der vom Gesetz vorausgesetzte Unterschied zwischen Gefährdungsvorsatz und Erfolgsvorsatz nicht existieren könne. Diese Annahme ist aber nicht zutreffend: Es ist durchaus möglich, eine konkrete Gefährdung in Kauf zu nehmen ohne zugleich die Realisierung dieser Gefahr. Dies ist zumindest dann der Fall, wenn man – mit der h.M. – die Ernstnahme-Theorie hinsichtlich des Eventualvorsatzes vertritt: Der Tötungsvorsatz setzt dann mehr voraus als die bloße Annahme, ein Todeserfolg sei möglich oder wahrscheinlich, er setzt zumindest auch dessen „Ernstnahme“ voraus und infolgedessen auch das Inkaufnehmen der Tötung selbst. Genau in diese Differenzierung spielt der Gefährdungsvorsatz. Hier wird nur die konkrete Gefährdung ernstgenommen, nicht aber deren Realisierung im Erfolg des Todes.

Der Widerspruch in der Neuruppiner Entscheidung ergibt sich erst im zweiten hervorgehobenen Abschnitt, denn hier wird dem Wortlaut nach plötzlich doch verneint, dass der Angeklagte sich mit der Todes-Gefahr abgefunden habe. Gerade mit der Gefahr hat er sich aber nach der vorhergehenden Begründung abgefunden – und das ist auch Voraussetzung der Verurteilung nach § 315d Abs.2, Abs.5 StGB. Hier hätte das LG Neuruppin richjtig differenzieren müssen und in der Begründung anführen, dass er sich mit dem Tod selbst nicht abgefunden hat, obwohl er die konkr. Lebensgefährdung in Kauf nahm.

Der 4. Senat hat also im Ergebnis Recht, wenn er eine nicht überzeugende Begründung des Lebensgefährdungsvorsatzes bemängelt. Nur wird dies mit einem fehlerhaften Argument begründet. Nämlich nicht die Feststellung des LG , „dass die Gefährdung entgegenkommender Verkehrsteilnehmer sich nicht realisieren werde“ ist das Problem, sondern die spätere Feststellung, der Angeklagte habe sich nicht mit der Todesgefahr abgefunden.

Mein Fazit: Der BGH hat das Urteil des LG Neuruppin zutreffend, aber mit falscher Argumentation aufgehoben. Inhaltlich könnte das Urteil des LG Neuruppin Bestand haben - durch eine minimale Veränderung der Urteilsgründe.

Das ändert nichts an meiner Kritik an der verunglückten Norm des § 315d StGB, die hier schon in früheren Beiträgen geäußert wurden (vgl. z.B.  hier und hier). Gerade die auch von mir kritisierte Einzelraser-Regelung führt zu Versuchen, die zu milde erscheinende Regelung des § 315c StGB mit § 315d StGB zu korrigieren.

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3 Kommentare

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Die Differenzierung fällt natürlich schwer.

Wenn die konkrete Gefährdung eine Lage beschreibt, bei der der Eintritt des Erfolges als wahrscheinlich anzusehen ist und man vernünftigerweise nicht auf das Ausbleiben vertrauen kann, ist der Vorsatz bzgl. der konkreten Gefährdung nahe am Tötungsvorsatz.

Der Täter erkennt dann eine solche Lage und billigt dann auch die Wahrscheinlichkeit des Eintritt. 

Will man den Tötungsvorsatz in Form des dolus eventualis verneinen, müsste man argumentieren, dass der dolus eventualis nicht nur den wahrscheinlichen Erfolgseintritt, sondern darüber hinaus auch den sicheren Erfolgseintritt billigen muss. Dann ist man allerdings bereits im dolus directus 2.Grades. Von daher überzeugt mich die Entscheidung des BGH durchaus.

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Nach Ihrer Argumentation wäre aber ein Lebensgefährdungsvorsatz ohne Tötungsvorsatz gar nicht möglich. Damit widersprächen Sie dem Gesetzgeber, der genau das ja für möglich hält und auch demselben Senat des BGH, der dies in anderen Entscheidungen zu tödlichen Kraftfahrzeug-Einzelraser-Fällen schon bestätigt hat, etwa in BGH 4 StR 225/20. Hier blieben folgende Würdigungen zur inneren Tatseite unbeanstandet bzw. wurden bestätigt:

Rn.5 ... unter bewusster Missachtung der innerorts geltenden Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h mit der maximal zu erreichenden Geschwindigkeit entlang zu fahren. Auf diese Weise wollte er seinen Beifahrer beeindrucken und gleichzeitig seine Fähigkeiten demonstrieren, mit dem Fahrzeug auch gefährliche Situationen zu meistern. Andere Verkehrsteilnehmer, seien es Autofahrer oder Fußgänger, waren ihm dabei völlig gleichgültig. Ihre Gefährdung erkannte der Angeklagte und nahm diese zumindest billigend in Kauf. (...) Ihm war in diesem Zeitpunkt klar, dass er bei der von ihm gefahrenen Geschwindigkeit nicht rechtzeitig auf in die R. straße ein- bzw. von ihr abbiegende Fahrzeuge werde reagieren können und deshalb mit letztlich unkalkulierbarer Wahrscheinlichkeit die Gefahr bestand, mit einem ein- oder abbiegenden Fahrzeug zu kollidieren. Dabei hielt er es für möglich, dass ein solcher Zusammenstoß zum Tod eines oder mehrerer Unfallbeteiligten führen könnte. Der Angeklagte, der ‒ wenn auch in völliger Überschätzung seiner Möglichkeiten und Fähigkeiten ‒ davon überzeugt war, das Fahrzeug auch bei hohen Geschwindig-keiten in gefährlichen Situationen sicher beherrschen zu können, vertraute aber nicht ausschließbar auf das Ausbleiben eines tödlichen Erfolgs.

Deshalb bin ich sicher, dass der Senat auch die Entscheidung des LG Neuruppin akzeptiert hätte, wenn sich das LG in seinen Urteilsgründen eindeutig so geäußert hätte wie 2020 derselbe 4. Senat: Gefährdungsvorsatz ja, Erfolgsvorsatz nein. 

Dass dies im Einzelfall schwierig ist, zumal die Indizien für die innere Tatseite wenig zugänglich sind, bleibt natürlich ein Praxisproblem. Eine Lösung könnte sein, dass in § 315d Abs.5 der Bezug auf Abs.2 entfernt wird. Dann wäre kein Gefährdungsvorsatz mehr erforderlich und als Anknüpfungspunkt für die (fahrlässig herbeigeführte) Todesfolge genügte die Verwirklichung des Tatbestands aus Abs.1.

Vielen Dank für Ihre ergänzenden Erläuterungen. Dogmatisch überzeugt es mich. Ich habe mich allerdings auch gefragt, woher mein Störgefühl bei dieser Konstellation stammt. Ich will versuchen, dies darzulegen.

Der Unterschied zwischen konkreten Gefährdungsvorsatz und Tötungsvorsatz ist recht augenscheinlich, wenn bei ersterem dolus eventualis vorliegt.

Umso näher sich der Vorsatz allerdings Richtung DD 1.Grades bewegt, umso theoretischer wird die Situation. So ist es denklogisch möglich, dass ein Täter die konkrete Gefährdung, also die überwiegende Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts möchte, zugleich aber darauf vertraut und nicht lediglich hofft, dass ein Schaden nicht eintritt. Aber Sie haben Recht. Es bedarf eines gesonderten voluntativen Elementes.

Selbst wenn man das Praxisproblem im letzteren Fall ausblendet, ist auch die dogmatische Unterscheidung nur noch haarscharf vorgenommen.

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