Loveparade 2010 in Duisburg - acht Jahre später
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Heute jährt sich das Geschehen bei der Duisburger Loveparade, das 21 Tote und viele Verletzte forderte, zum achten Mal. Seit letzten Dezember findet im Düsseldorfer Messezentrum die Hauptverhandlung statt. Wie oft bei wichtigen und „großen“ Strafprozessen mit vielen Hauptverhandlungstagen ist das öffentliche Interesse am Anfang groß und lässt dann im Lauf der Zeit deutlich nach (vgl. WDR-Bericht von heute).
Der WDR betreibt allerdings nach wie vor seinen verhandlungstäglichen Blog, dem ich meine Informationen über den Prozessverlauf entnehme. Allerdings sind dies nur recht knappe Zusammenfassungen und Einschätzungen zu den jeweiligen Verhandlungstagen, ein Wortprotokoll gibt es nicht.
Etwas Aufsehen erregten vor einigen Wochen die Zeugenvernehmungen des damaligen Oberbürgermeisters Sauerland und des Chefs der Veranstalterfirma Lopavent GmbH, die von Vielen als zumindest politisch/moralisch Hauptverantwortliche wahrgenommen wurden und werden. Hier im Blog habe ich mehrfach erläutert, warum eine Anklageerhebung gegen diese beiden wahrscheinlich nicht erfolgte: Auch wenn sie grundsätzlich die treibenden Kräfte für die Veranstaltung waren, so ist eine unmittelbare Beteiligung an den konkreten Planungsdetails der Loveparade und damit an den Ursachen für die Tötungen und Verletzungen strafrechtlich kaum nachweisbar.
Bei seiner Zeugenaussage wies Sauerland nicht nur jegliche Einbeziehung seiner eigenen Person in die konkrete Planung zurück, er stellte sich auch vor „seine“ städtische Verwaltung insgesamt. Zitat WDR-Blog:
„Wenn ich Fehler hätte erkennen können, die auf Seiten der Stadt Duisburg passiert wären, hätte ich mich im Nachgang der Loveparade anders verhalten.“ Der Zeuge Adolf Sauerland spricht im Konjunktiv, denn auch am zweiten Tag der Anhörung bleibt er bei seiner Linie. Er sei damals wie heute felsenfest davon überzeugt, dass bei der Stadt Duisburg keine Fehler gemacht wurden. Fehler habe es offensichtlich gegeben, „aber die müssen woanders liegen.“
Im Unterschied zu Sauerland hatte Rainer Schaller, der Chef der Veranstalterfirma, am Tag seiner Zeugenvernehmung eine Erklärung an die Nebenkläger bzw. Angehörigen der Opfer vorbereitet, in der er die „moralische Verantwortung“ übernahm. Aber in die konkrete Planung sei er nicht involviert gewesen, so dass er die technische/operative Verantwortung ablehnte. Zitat WDR-Blog:
„An konkreten Entscheidungen will er nicht beteiligt gewesen sein. Die Verantwortung gibt er weiter an seine ehemaligen Mitarbeiter, die auf der Anklagebank sitzen. Nach dem Unglück habe er wochenlang gemeinsam mit seinem Team die Videoaufzeichnungen studiert. Eine Schuld bei sich und seinen Leuten habe er bis heute nicht entdeckt.“
„Glaubt man Rainer Schaller, so vertraute er seinen Mitarbeitern und deren immer wiederkehrenden Versicherungen blind, man könne alle – auch die sicherheitsrelevanten – Probleme lösen. So gut wie gar nicht will sich Schaller um das gekümmert haben, was organisatorisch in seinem Namen als Geschäftsführer der Lopavent unternommen oder unterlassen wurde. Sein Mitarbeiter habe als Head of Operations quasi den Status als Geschäftsführer gehabt.“
Zuletzt ging es Anfang Juli um die Zuständigkeiten für den Veranstaltungsort. So heißt es im WDR Blog über den damaligen Abteilungsleiter beim Ordnungsamt (Zitat WDR-Blog)
„Der 64-jährige war damals für die Sicherheit auf den öffentlichen Straßen zuständig, die zum Gelände führten. Bei der Planung war er von Anfang an dabei. (…) Als klar gewesen sei, dass das Gelände am Bahnhof eingezäunt werden müsse, sei ein Druck vom Ordnungsamt abgefallen. Denn damit sei man nicht mehr zuständig gewesen. Das Bauamt soll dann den Druck gehabt haben.“ (...) Auch die Verantwortung? Jedoch wird an diesem Verhandlungstag auch die Frage angesprochen, die möglicherweise mitentscheidend ist: Welche Behörde war eigentlich zuständig für die Überwachung der Sicherheitsvoraussetzungen am konkreten Unglücksort und wurden diese eingehalten?"
Diese Frage ist seit 2010 – auch hier im Blog – diskutiert worden: Die Tunnelzuwege und die Zufahrtsrampe von den Tunneln nach oben zählten formal auf jeden Fall zum Veranstaltungsgelände, wurde aber offensichtlich nicht als solche Fläche behandelt. Dies betrifft gerade das „Nadelöhr“, das in der Planung zwar als solches thematisiert wurde, aber letztendlich in den wenigen Tagen vor der Genehmigung und insbesondere im „Sicherheitskonzept“ offenbar zu wenig Beachtung fand.
Nun kann es schlicht ein „Versehen“ gewesen sein, dass sich weder die eine noch die andere Seite für zuständig hielt bzw. man unterschiedlich interpretierte, wie die Grenze zwischen Veranstaltungsgelände und öffentlichem Straßenraum zu bestimmen war. Aber es kann auch eine Absicht dahinterstecken:
Zählt man Tunnel und Rampe nicht zum Veranstaltungsgelände, dann kann man sich bezüglich Brandschutz und Sicherheitskonzept auf das Gelände "oben" beschränken. Rampe und Tunnel werden dann als Fluchtwege, nicht aber als zum Veranstaltungsgelände gehörig erfasst, so dass insbesondere nicht auffällt, dass hier über hunderte Meter, in denen sich einige tausend Personen gleichzeitig aufhalten sollten, kein eigener Notausgang bzw. Fluchtweg befindet. Eine nähere Betrachtung dieser Situation hätte möglicherweise dazu geführt, dass man die Veranstaltung gar nicht an diesem Ort und mit dieser "Nadelöhr"-Eingangs/Ausgangslage hätte genehmigen bzw. durchführen können - und auch darüber haben Mitarbeiter des Veranstalters mit dem Anwalt bereits vor der Veranstaltung diskutiert.
Zum Brandschutz und damit zum Sicherheitskonzept gehörte auch die (schon früher hier im Blog mehrfach thematisierte) „Entfluchtungsanalyse“ der Firma TraffGo. Wie auch hier im Blog schon mehrfach diskutiert, zeigt auch eines der Szenarien der Entfluchtungsanalyse, dass durch die Tunnel maximal 60000 Personen pro Stunde in einer Richtung unterwegs sein könnten, und offenbart damit einen Widerspruch zur Zugangsplanung, nach der am Nachmittag innerhalb einer Stunde jeweils bis zu 145000 Personen in beiden Richtungen die Tunnel passieren sollten. Inwieweit die Planungen mit der Realität am 24.07.2010 übereinstimmten, ist allerdings bislang noch eine umstrittene Frage.
Noch ein weiterer Widerspruch hätte auffallen müssen: Auch die anderen Entfluchtungsszenarien enthielten die Rampe und die Tunnel jeweils als einen der Rettungswege/Fluchtwege. In den grafischen Darstellungen endete das Gelände schon am unteren Ende der Rampe, obwohl diese Lokalität noch eine erhebliche Tunnelstrecke vom eigentlichen Ausgang (vor den Tunneln) entfernt war. Außerdem wurde in diesen Szenarien nicht berücksichtigt, dass Rampe und Tunnel lt. Planung während der Veranstaltung nicht „frei“ waren, sondern ggf. von tausenden Menschen begangen wurden, die im Falle einer Entfluchtung erst einmal hätten umkehren müssen und wohl eine erhebliche Verzögerung und Stauung verursacht hätten. Das Entfluchtungsgutachten stellte also die Entfluchtung im „Normalfall“ dar, in dem während eines Konzerts bzw. einer Bühnenvorstellung alle Zuschauer vor Ort anwesend sind und bei einer notwendigen Flucht die Zugangswege frei sind. Geplant war aber eine Veranstaltung, die während des ganzen Ablaufs einen stetigen (und nachmittags sogar ansteigenden) Strom von neuen Zuschauern anziehen sollte (und zugleich viele Zuschauer schon wieder zurückgehen sollten).
Ein Schwerpunkt des Vorwurfs der Anklage ist, dass die Behörden sich mit dem in Teilen widersprüchlichen Gesamt-Sicherheitskonzept zufrieden gaben. Der rechtliche Standpunkt der Verteidigung ist, dass ihre Mandanten gar nicht zu einer Prüfung des Konzepts verpflichtet gewesen seien. Dieser Gegensatz brach schon in den ersten Stellungnahmen auf: Die Anwälte der Verwaltung legten dar, dass nur das Vorhandensein des Sicherheitskonzepts, nicht aber dessen inhaltliche Prüfung erforderlich gewesen sei. Diese Prüfung sei quasi im „Einvernehmen“ der Sicherheitsbehörden (Polizei/Feuerwehr) enthalten. Ob es ein solches Einvernehmen gegeben hat, wird ebenfalls kontrovers diskutiert. Die Staatsanwaltschaft hatte frühzeitig ein solches Einvernehmen verneint und daraus geschlossen, die Genehmigung sei rechtswidrig. Hier im Blog hatte ich die Auffassung vertreten, dass eine förmliche ausdrückliche Einvernehmenserklärung nicht erforderlich gewesen sei und dass das Verhalten der Feuerwehr- und Polizeivertreter in den Planungsgremien durchaus für ein positives (konkludentes) Einvernehmen spreche. Ob allerdings dieses Einvernehmen zugleich die Behördenmitarbeiter von einer eigenen Plausibilitätsprüfung des Sicherheitskonzepts entlasten, daran habe ich Zweifel.
Die genannten Fragen bzw. ihre Beantwortung sind fundamental auch für die strafrechtliche Bewertung, ob und welche Sorgfaltspflichten vorwerfbar von den Angeklagten verletzt wurden, die im ursächlichen und gefahrspezifischen Zusammenhang mit der Katstrophe stehen.
(Textkorrekturen am 27.07.2018)
Links zu früheren Beiträgen und Diskussionen hier im Beck-Blog und weiteren wichtigen Informationen, die im Netz verfügbar sind:
Dezember 2017: Loveparade 2010 - die Hauptverhandlung beginnt (69 Kommentare, ca. 9500 Aufrufe)
Juli 2015: Fünf Jahre und kein Ende – die Strafverfolgung im Fall Loveparade 2010 (98 Kommentare, ca. 11000 Abrufe)
Februar 2015: Was wird aus dem Prozess? (72 Kommentare, ca. 8000 Aufrufe)
August 2014: Zweifel am Gutachten (50 Kommentare, ca. 9000 Abrufe)
Februar 2014: Anklageerhebung (50 Kommentare, ca. 16000 Abrufe)
Mai 2013: Gutachten aus England (130 Kommentare, ca. 16500 Abrufe)
Juli 2012: Ermittlungen dauern an (68 Kommentare, ca. 14000 Abrufe)
Dezember 2011: Kommt es 2012 zur Anklage? (169 Kommentare, ca. 30000 Abrufe)
Mai 2011: Neue Erkenntnisse? (1100 Kommentare, ca. 37000 Abrufe)
Dezember 2010: Fünf Monate danach (537 Kommentare, ca. 26500 Abrufe)
September 2010: Im Internet weitgehend aufgeklärt (788 Kommentare, ca. 43000 Abrufe)
Ergänzend:
Link zur großen Dokumentationsseite im Netz:
speziell: Illustrierter Zeitstrahl
Link zur Seite von Lothar Evers: DocuNews Loveparade Duisburg 2010
Link zur Prezi-Präsentation von Jolie van der Klis (engl.)
Weitere Links:
Große Anfrage der FDP-Fraktion im Landtag NRW
Kurzgutachten von Keith Still (engl. Original)
Kurzgutachten von Keith Still (deutsch übersetzt)
Analyse von Dirk Helbing und Pratik Mukerji (engl. Original)
Multiperspektiven-Video von Jolie / Juli 2012 (youtube)
Multiperspektiven-Video von Jolie / September 2014 (youtube)
Interview (Januar 2013) mit Julius Reiter, dem Rechtsanwalt, der eine ganze Reihe von Opfern vertritt.
Blog des WDR zur Hauptverhandlung (Berichte über jeden Prozesstag)