BVerfG: Einstweilige Anordnung zur Entlassung aus der Sicherungsverwahrung abgelehnt
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Die inzwischen rechtskräftige Entscheidung des EGMR, mit der die Bundesrepublik Deutschland wegen der nachträglichen Verlängerung der Höchstfrist der Sicherungsverwahrung wegen Verstoßes gegen Art. 5 und Art.7 EMRK verurteilt wurde (im Blog bereits hier und hier diskutiert), wird in der Gesetzgebung sicherlich zu erheblichen Änderungen des Systems der Sicherungsverwahrung führen.
Freilich steht aktuell die Frage im Raum, was mit den derzeitig aufgrund der Höchstfristverlängerung (aus Sicht des EGMR also rechtswidrig) noch einsitzenden Sicherungsverwahrten geschehen soll. Die zuständigen Strafvollstreckungskammern und OLG Senate sind bisher zurückhaltend und setzen in dem Dilemma zwischen der EGMR-Entscheidung und den bisher entgegengesetzten Rechtsauffassungen der Höchstgerichte in Deutschland auf die Devise "Abwarten" - eine Entlassung wurde bisher nicht angeordnet. Vergangene Woche hat das BVerfG (2 BvR 769/10 ) den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Entlassung aus der Sicherungsverwahrung abgelehnt. Zur erforderlichen Abwägung heißt es dort:
"Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich später die Verfassungsbeschwerde aber als begründet, so entstünde dem Beschwerdeführer durch die Fortsetzung der Freiheitsentziehung ein schwerer und nicht wieder gutzumachender Verlust an persönlicher Freiheit (...)
Erginge die einstweilige Anordnung, wiese aber das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde später als unbegründet zurück oder gäbe ihr ohne die Folge einer Entlassung des Beschwerdeführers aus dem Maßregelvollzug statt, so entstünden ebenfalls schwerwiegende Nachteile. Die Fachgerichte haben die Gefahr bejaht, dass der seit über 10 Jahren in der Sicherungsverwahrung befindliche Beschwerdeführer - der 1996 unter anderem wegen versuchten schweren Menschenhandels, Körperverletzung, Freiheitsberaubung, sexueller Nötigung und Förderung der Prostitution strafgerichtlich verurteilt worden war - infolge seines Hanges erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden. Die Fachgerichte haben insoweit auf drohende Straftaten des Menschenhandels zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung und ähnliche Delikte abgestellt. Diese Annahme ist nachvollziehbar begründet. In Anbetracht dessen und angesichts der Schwere der drohenden Taten überwiegt das Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit gegenüber dem Freiheitsgrundrecht des Beschwerdeführers."
Ganz auf dieser Linie liegt eine Entscheidung des OLG Celle - 2 Ws 169/10 - (Pressemitteilung), in der die weitere Sicherungsverwahrung eines mittlerweile 25 Jahre lang Inhaftierten aufrecht erhalten wurde. In der Pressemitteilung heißt es dazu:
"Unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Bindungswirkung von Urteilen des EGMR führt der Senat aus, dass die vom EGMR vertretene Auslegung dem eindeutigen Willen des deutschen Gesetzgebers und dem Wortlaut der deutschen Vorschriften widerspricht und daher nicht zur Entlassung der Untergebrachten zwingt."
Ein Beschluss des 4. Senats des BGH (4 StR 577/09) vom 12. Mai zeigt hingegen eine andere Tendenz bei neuen Anordnungen: Dort wurde die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung eines bislang einstweilig Untergebrachten zurückgewiesen und der Betreffende sofort auf freien Fuß gesetzt. Der 4. Senat hat die derzeitige Rechtsgrundlage infolge der nunmehr rechtskräftigen Entscheidung des EGMR für (neue) nachträgliche Anordnungen offenbar als nicht mehr tragfähig angesehen.
Wegen der möglichen schweren und nicht wieder gutzumachenden Grundrechtsbeeinträchtigungen gehe ich davon aus, dass das BVerfG nicht allzu lange mit einer Entscheidung in der Hauptsache warten kann. Denkbar ist jedoch, dass das BVerfG auf eine Übergangsregelung des Gesetzgebers für die einschlägigen Fälle wartet. Entsprechende Spielräume sind aber in der Entscheidung des EGMR schwer zu erkennen.