Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Urteil gegen Deutschland rechtskräftig; rückwirkende Sicherungsverwahrung rechtswidrig

von Prof. Dr. Henning Ernst Müller, veröffentlicht am 13.05.2010

Es war schon im Dezember abzusehen (Blogbeitrag), dass das sehr eingehend begründete Urteil der kleinen Kammer in Straßburg (Quellenlink) höchstwahrscheinlich nicht durch die große Kammer aufgehoben wird. Deutschland hat sich also mit seinem Antrag nur etwas Zeit verschafft, muss allerdings nun nach Ablauf dieser Zeit doch die Konsequenzen ziehen. Der Sicherungsverwahrte M., dessen zunächst gesetzesgemäß angeordnete 10jährige Sicherungsverwahrung durch Gesetzesänderung rückwirkend auf unbestimmte Zeit verlängert wurde, wird für mittlerweile acht Jahre unrechtmäßige Einsperrung entschädigt  werden müssen. Die Justizministerin hat entsprechende Schritte bereits angekündigt (laut Spiegel-Online). Ob er auch umgehend freigelassen wird, steht noch nicht ganz fest. Auch für die ca. 50 bis 70 Sicherungsverwahrten, für die dieselben Umstände zu einer rückwirkenden Verlängerung der Sicherungsverwahrung geführt haben, wird eine rechtmäßige Lösung gesucht werden müssen - nach derzeitigem Stand wird man auch sie freilassen müssen. Darüber hinaus wird man sich darauf einzurichten haben, dass die nachträgliche Sicherungsverwahrung (§ 66b StGB) insgesamt gekippt wird, da der EGMR insb. auch einen Verstoß gegen Art. 5 Abs. 1 S. 2  EMRK bemängelt hat. Die nachträgliche Sicherungsverwahrung verstößt ebenfalls gegen den Grundsatz, wonach eine Strafsanktion auf einem Urteil beruhen muss. Entsprechende Beschwerden liegen derzeit dem EGMR schon vor. Betroffen sein wird auch - entgegen der Einschätzung des BGH die erst jüngst eingeführte und prompt erstmals angewendete Version der nachträglichen Sicherungsverwahrung im Jugendstrafrecht (§ 7 Abs.2 JGG) - (link zum Blogbeitrag).
Das jetzt rechtskräftige Urteil des EGMR ist - nebenbei - eine Ohrfeige für den 2. Senat des BVerfG (2 BvR 2029/01) (= NJW 2004, 739), der vor 6 Jahren in derselben Sache keinen Verstoß gegen das Rückwirkunsgverbot gesehen hatte. Wer die beiden gegenläufigen Entscheidungen vergleicht, wird feststellen, auf welch schwacher Argumentationsbasis das BVerfG  hier den rückwirkenden Eingriff des Gesetzgebers in eine rechtskräftige Entscheidung (also nicht nur auf den Tatzeitpunkt, sondern sogar auf den gerichtlichen Entscheidungszeitpunkt) bestätigt hatte.
Man wird sich jetzt in der Politik Gedanken darüber machen, wie künftig eine Sicherungsverwahrung rechtlich geregelt werden soll. Der EGMR hat eine Präventivsanktion bzw. -einsperrung  nicht etwa ausgeschlossen. Wer das Urteil genau liest, kann durchaus Spielräume für den Gesetzgeber erkennen, nämlich einerseits solche in der Vollzugsgestaltung (deutlich vom Strafvollzug zu trennen) andererseits solche in der Anordnungspraxis. Aber eins ist ausgeschlossen: Man wird nicht mehr mit dem bloßen Verweis, es handele sich um Prävention, das Rückwirkungsverbot umgehen können.  
Letzteres hat auch Generalbundesanwalt a.D. Kay Nehm erkannt, in einem Aufsatz auf dem  Spiegel-Online Ableger "Legal Tribune".
Ich weise noch ergänzend hin auf meinen Besprechungsaufsatz "Die Sicherungsverwahrung, das Grundgesetz und die Europäische Menschenrechtskonvention" in: Strafverteidiger 2010, S. 207-212 (Heft 04/2010).

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Hinweise zur bestehenden Moderationspraxis
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7 Kommentare

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Weil die Rechtspolitik die Zeichen nicht sehen wollte, mussten wir jetzt ein Fiasko erleben. Wir brauchen nunmehr möglichst rasch eine grundlegende Reform der Sicherungsverwahrung, die Strafe und Unterbringung deutlich von einander abgrenzt.

Eine kleine - notwendig oberflächliche - Chronik:

1. Die Bundesregierung lehnt Anfang der 00er Jahr eine Regelung auf Bundesebene ab, weil für das Unterbringungsrecht die Länder zuständig sind.

2. Einige Länder - darunter Baden-Württemberg - erlassen Straftäterunterbringungsgesetze.

3. Das Bundesverfassungsgericht verwirft diese als verfassungswidrig. Nicht nur bestehe eine Bundeszuständigkeit, sondern sogar eine, die eine Landeszuständigkeit sperrt. Das Straftäterunterbringungsrecht sei nämlich strafrechtsnah auszugestalten.

4. Der Bundesgesetzgeber erläßt die entsprechenden Regelungen als Teil des StGB. Das BVerfG hat dagegen - im Einklang mit 3. - keine Bedenken.

5. Der EGMR verwirft die Meinung des BVerfG, die dieses der Bundesregierung aufgezwungen hat, als menschenrechtswidrig.

6. Als Folge der EGMR-Entscheidung wird eine Trennung zwischen Strafrecht und Unterbringungsrecht gefordert. Der Kreis schließt sich.

 

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Wortlaut der Petition

Der Deutsche Bundestag möge beschließen, die Nachträgliche Sicherungsverwahrung aufzuheben bzw. der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte(EGMR) Application no. 19359/04 vom 17.12.2009 anzupassen. Der Bundestag hatte am 18. Juni 2004(BT-Drucksache 15/2887) und am 20. Juni 2008(BT-Drucksache 16/6562) die Nachträglichen Sicherungsverwahrungen verabschiedet. Nach meiner Rechtsauffassung verstößt dies gegen die Europäische Menschenrechtskonvention

Begründung der Petition
Die Nachträgliche Sicherungsverwahrung im Erwachsenen- und Jugendstrafrecht soll nach Auffassung der damaligen Bundesregierungen - 15. Wahlperiode SPD & Grüne 2004 + 16. Wahlperiode CDU/CSU & SPD 2008 - die Allgemeinheit vor gefährlichen Straftätern schützen. Diese Form der Sicherungsverwahrung kann gegenwärtig gegen Straftäter im Strafvollzug angeordnet werden, wenn sich die Gefährlichkeit des Inhaftierten erst während des Strafvollzuges erweist.

Für die Anordnung der Nachträglichen Sicherungsverwahrung ist somit keine neue Straftat des Inhaftierten notwendig. Damit wird der Gefangene über die eigentliche Haftdauer im verhängten Urteil hinaus auf unbestimmte Zeit im Gefängnis gehalten. Dies Widerspricht dem Rechtsprinzip: Keine Strafe ohne Gesetz bzw. Straftat. In der Rechtspraxis und im Strafvollzug bedeutet die Nachträgliche Sicherungsverwahrung nicht selten das "wahre Lebenslänglich". Konkret geht es um die ersatzlose Streichung der §§ 66a und 66b STGB. Analog dazu auch das Jugendstrafrecht. Die aktuelle Entscheidung des EGMR vom 17. Dezember 2009 zur Verlängerung der Nachträglichen Sicherungsverwahrung, worin die Bundesrepublik Deutschland im vorliegenden Einzelfall verurteilt wurde, deutet auch auf eine Menschenrechtswidrige Gesetzgebung zur Nachträglichen Sicherungsverwahrung hin.

Die 15. und 16. Bundesregierung hatte die Gesetze zur Nachträglichen Sicherungsverwahrung gegen die Stimmen der damaligen Opposition verabschiedet. Insbesondere war damals die FDP-Fraktion mit mir der Rechtsauffassung, dass diese Paragrafen gegen die Menschenrechte verstoßen würden. In keinem Land des europäischen Rechtskreises gibt es ähnliche Paragrafen. Auch die Sachverständigen bei den Anhörungen in den Bundestags-Ausschüssen hatten erhebliche Bedenken und Kritik geäußert. Dies traf besonders auf die Nachträgliche Sicherungsverwahrung im Jugendstrafrecht zu. Die 17. Bundesregierung hat im Koalitionsvertrag eine grundlegende Überarbeitung vereinbart.

Die Mitzeichner dieser Petition sowie meine Person fordern die neue Bundesregierung über den Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages auf, die §§ 66a und 66b STGB zur Nachträglichen Sicherungsverwahrung/vorbehaltene Sicherungsverwahrung ersatzlos zu streichen bzw. entsprechend der Menschenrechtskonvention zu ändern bzw. der aktuellen Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte anzupassen.

Ich erlaube mir mal, meine bereits am 20. 12. 2009 eingereichte Petition zu veröffentlichen. Vollkommen unverständlich und unbegründet wurde diese über die Webseite des Bundestages als Öffentliche Petition eingereicht Eingabe nicht dort zur Mitzeichnung veröffentlicht, sondern wurde lediglich als Einzelpetition behandelt: Pet 4-17-07-45011-003886 - das spricht Bände...! Also nicht nur das Justizministerium bzw. der Rechtsausschuss wird sich demnächst damit befassen müssen, sondern auch der Petitionsausschuss. Das Original-Dokument der Petition kann bei mir als PDF-Datei angefordert werden.

Wer sich mit der Legalbiographie und den Persönlichkeitsdefiziten derjenigen Untergebrachten, die zwar vor 1998 verurteilt wurden, aber zum derzeitigen Zeitpunkt in der Sicherungsverwahrung untergebracht sind, auseinandersetzt, wird kaum umhin kommen, sich für eine weitere Unterbringung dieser Menschen einzusetzen. Nur das "Wie" dürfte klärungsbedürftig sein. Insofern ist der Gesetzgeber gefordert und nicht die Gerichte.

Nun aber das OLG Celle (in einer Pressemitteilung von gestern):

"EGMR-Urteil steht Verbleib eines Strafäters in Sicherungsverwahrung nicht entgegen"

Aus der Pressemitteilung:

"OLG Celle: Von EGMR vertretene Auslegung widerspricht Willen des deutschen Gesetzgebers

Unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Bindungswirkung von Urteilen des EGMR führt das OLG aus, dass die vom EGMR vertretene Auslegung dem eindeutigen Willen des deutschen Gesetzgebers und dem Wortlaut der deutschen Vorschriften widerspricht und daher nicht zur Entlassung der Untergebrachten zwingt. Das BVerfG hatte im Jahr 2004 die Vereinbarkeit der streitigen Regelung mit dem auch im Grundgesetz verankerten Rückwirkungsverbot und dem Freiheitsgrundrecht des Untergebrachten erklärt (vgl. NVwZ 2004, 851). Die Entscheidung des OLG Celle ist rechtskräftig. Der Betroffene kann hiergegen lediglich Verfassungsbeschwerde einlegen."

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Sehr geehrte Frau von Lücken,

Sie haben Recht, dass es sich natürlich um ganz schwerwiegende Straftaten handelt, wegen derer die Untergebrachten verurteilt wurden, und man manchem nicht in Freiheit begegnen möchte. Ob man aber relativ pauschal von den begangenen Straftaten auf die künftige Gefährlichkeit schließen kann, ist fraglich. Nach den vielen Jahren in Gefangenschaft lässt sich das Verhalten in Freiheit äußerst schwer prognostizieren. Wer kein Risiko eingehen will, wird dazu tendieren, eher auf die Sicherung zu setzen. Nun will man Risiken in jüngerer Zeit weniger eingehen als zu dem Zeitpunkt, in dem die 10-Jahres-Höchstfrist gesetzlich bestimmt wurde. Hier treffen neue Sicherheitsbedürfnisse und wesentliche rechtsstaatliche Grundsätze  diametral aufeinander. Diesen Widerspruch darf man nicht einfach wegdiskutieren ("ist ja nur Prävention, nicht Strafe"), wie es das BVerfG unter weitgehender Ausblendung der rechtswissenschaftlichen Diskussion getan hat.

Sehr geehrter DrFB,

auf die neueren Entscheidungen bin ich jetzt hier in einem eigenen Beitrag eingegangen.

Beste Grüße

Henning Ernst Müller

Liebe Frau von Lücken,

es ist einfach jemanden einzusperren, nun werden die Leute da nicht besser sonder mutieren langsam zu tieren, denn jeden tag damit abfinden dass jemand einfach so pauschal dich für eine Gefahr zählt und du dafür für immer eingesperrt bleibst, macht einen zu einem tier. Wenn innen irgend wan mal unrecht getan wird, so denken sie an meine Worte- das Leben duldet keine Schulden, es kommt alles wieder zurück.Sie als Richterin solen wissen, das die Leute reabilitiert und zu normalen menschen werden sollen, und nicht noch agressiver. Dazu brauchen wir ein System. Mein Vorschlag- Sicherungsverwahrung weg, Straffen bis zu 25 jahre erhöhen. Es muss bei einer bestraffung immer Anfang und das Ende sein, sonst bringt es nichts.

In Achtung euer Beno!

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