Nachträgliche Verlängerung der Sicherungsverwahrung ist menschenrechtswidrig - Deutschland in Straßburg verurteilt

von Prof. Dr. Henning Ernst Müller, veröffentlicht am 17.12.2009

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg (Entscheidung im Wortlaut) hat die Bundesrepublik Deutschland zur Zahlung von Schmerzensgeld an einen derzeit noch Sicherungsverwahrten verurteilt (hier der Bericht auf Zeit-Online). Die Sicherungsverwahrung sei menschenrechtswidrig, da die nachträgliche Verlängerung  (neben einer Verletzung des Art.5) auf einer nach Art.7 I 2 EMRK verbotenen Rückwirkung beruhe.
Artikel 7 I der EMRK lautet:
(1) Niemand darf wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach innerstaatlichem oder internationalem Recht nicht strafbar war. Es darf auch keine schwerere als die zur Zeit der Begehung angedrohte Strafe verhängt werden.
Der Betroffene war 1986 erstmals neben einer Verurteilung zu Freiheitsstrafe auch zu Sicherungsverwahrung verurteilt worden, als die Höchstfrist für die erstmalige Anordnung in § 67 d StGB noch auf zehn Jahre bestimmt war. Diese Höchstfrist wurde mit der heute geltenden Fassung 1998 abgeschafft. Für den Betroffenen entfiel daher die Höchstfrist der Sicherungsverwahrung, danach hätte er spätestens 2001 entlassen werden müssen - etwa 70 weitere Fälle sollen ähnlich gelagert sein.

Das BVerfG hatte diese Praxis mit Urteil des Zweiten Senats vom 5. Februar 2004 - 2 BvR 2029/01 - für verfassungsgemäß erachtet. Hier die entscheidende Passage des Urteils:

"Ebenso wenig revidiert die Gesetzesänderung die im Straferkenntnis rechtskräftig festgesetzten Rechtsfolgen zum Nachteil des Betroffenen. Denn die gesetzliche Höchstfrist des § 67d Abs. 1 StGB a.F. war nicht Bestandteil des unter alter Rechtslage ergangenen Strafurteils, erwuchs also nicht in Rechtskraft. Der Urteilstenor lautete früher wie heute lediglich auf "Unterbringung in der Sicherungsverwahrung". Die Unterbringung wurde auch nach früherer Rechtslage nicht befristet angeordnet (vgl. Stree, in: Schönke/Schröder, StGB, 25. Aufl., § 66 Rn. 67; Tröndle, StGB, 48. Aufl., § 66 Rn. 22; Hanack, in: LK, StGB, 11. Aufl., § 66 Rn. 183). Darauf, ob und wie lange (vgl. §§ 67c, 67d Abs. 2 StGB) die angeordnete Sicherungsverwahrung nach Strafende tatsächlich vollzogen wird, hatte und hat das Tatgericht keinen Einfluss. Insbesondere steht die Beantwortung der Frage, wie lange ihr Vollzug angesichts der prognostizierten Gefährlichkeit als verhältnismäßig anzusehen ist, nicht in seiner Entscheidungskompetenz. Hierüber befindet vielmehr allein die Strafvollstreckungskammer (§§ 67c, 67d StGB, § 463 Abs. 3, §§ 454, 462a Abs. 1 StPO). Dem Tatgericht war und ist es selbst dann verwehrt, eine Sicherungsverwahrung mit einer bestimmten Höchstfrist anzuordnen, wenn es einen länger dauernden Vollzug angesichts der Anlasstat oder sonstiger Umstände für unverhältnismäßig hält."

Die damalige Argumentation des BVerfG  erscheint mehr ergebnis- als rechtsstaatsorientiert. Da es sich um eine gesetzliche Höchstfrist handelte, ist es meines Erachtens für die Frage der Rückwirkung unerheblich, dass die Sicherungsverwahrung im Allgemeinen im Urteil nicht befristet angeordnet wird. Das Gesetz selbst ist Maßstab der Rechtskraft des Urteils. "Unbestimmt" lange Sicherungsverwahrung ist materiell etwas anderes als "unbestimmte Sicherungsverwahrung, höchstens die gesetzliche Höchstfrist". Das BVerfG hat darüber "hinwegrechteln" wollen.
Dem Urteil aus Straßburg ist rechtlich zuzustimmen.

Spannend können noch folgende Fragen werden:

1. Wie wird die EGMR-Entscheidung - vorausgesetzt sie wird rechtskräftig - umgesetzt? Kommt es jetzt zur Freilassung der bislang als gefährlcih angesehenen Verurteilten?

2. Welchen Einfluss hat die Entscheidung auf die nachträgliche Sicherungsverwahrung insgesamt, also in Fällen wo es nicht lediglich um eine Verlängerung geht, sondern um die nachträgliche erstmalige Anordnung selbst?

 

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10 Kommentare

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"Die damalige Argumentation des BVerfG erscheint mehr ergebnis- als rechtsstaatsorientiert."
Das sehe ich anders. Wenn das BVerfG sagt, dass das Tatgericht keinen Einfluss darauf hat, ob "die angeordnete Sicherungsverwahrung nach Strafende tatsächlich vollzogen wird" und "Insbesondere steht die Beantwortung der Frage, wie lange ihr Vollzug angesichts der prognostizierten Gefährlichkeit als verhältnismäßig anzusehen ist, nicht in seiner Entscheidungskompetenz", dann kommt darin ja gerade eine Rechtsfolgenbegrenzung zum Ausdruck, der sich das Tatgericht zu unterwerfen hat.
Im Hinblick auf Art. 7 Abs. 1 Satz 2 ("Es darf auch keine schwerere als die zur Zeit der Begehung angedrohte Strafe verhängt werden") ist ohnehin zweifelhaft, warum der EuGHMR hier den nulla-poena-sine-lege-praevia-Satz anwendet, da es sich bei der Sicherungsverwahrung nicht um eine Strafe, sondern um eine eine Maßregel zur Sicherung und Besserung handelt.

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Sehr geehrter Herr Tobias,
vielen Dank für Ihren kritischen Kommentar, der mich inhaltlich aber nicht ganz überzeugt.

ad 1. Die von Ihnen (und vom BVerfG) gesehene Begrenzung des Tatgerichts in seinem Einfluss auf die Dauer der Sicherungsverwahrung, der sich das Tatgericht zu unterwerfen hat, hatte eben als oberste Grenze die damalige gesetzliche Höchstfrist von zehn Jahren. Meines Erachtens stellt es doch eine Änderung des Urteilsinhalts dar, wenn nun daraus nachträglich eine mögliche Verlängerung auf unbestimmte Zeit wird, sprcih: statt 15 Jahre nunmehr lebenslang.
oder mit dem EGMR gesprochen:
"The Court is not convinced by that argument. It is true that the sentencing court ordered the applicant’s preventive detention in 1986 without fixing its duration. (...) However, the courts responsible for the execution of sentences were competent only to fix the duration of the applicant’s preventive detention within the framework established by the order of the sentencing court, read in the light of the law applicable at the relevant time."

ad 2. Sie stehen mit Ihrer Ansicht auf dem Boden des deutschen Rechts, wie es auch von den Regierungsvertretern vor dem EGMR vertreten wurde (siehe 113. bis 116. des EGMR-Urteils) .
Es kann aus meiner Sicht aber nicht allein auf die nationale Bezeichnung als Strafe oder Maßregel ankommen, wie auch der EGMR ausführt (125 ff. der Entscheidung), sonst könnte ein Staat allein durch abweichende Terminologie den Art.7 umgehen. Es muss vielmehr auf die faktischen Grundlagen und Unterschiede ankommen. Und danach ist es nicht plausibel, die ehemalige Höchstfristgrenze nicht als Begrenzung eines punitiven Anteils anzusehen, der dann durch die Gesetzesänderung eben ausgedehnt/erhöht wurde. Die Sicherungsverwahrung wird (anders etwa als eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus) regelmäßig in einer Strafvollzugsanstalt ohne wesentliche Unterschiede zur Strafhaft vollzogen. Der EGMR hat hier gerade diesen Vergleich herangezogen, um festzustellen, dass die Unterschiede zur Strafhaft eben so gering sind, dass sich eine Abweichung von Art.7 nicht rechtfertigen lässt (vgl. 127 und 128 der Entscheidung): "having regard to the realities of the situation of persons in preventive detention, the Court cannot subscribe to the Government’s argument (see paragraph 113 above) that preventive detention served a purely preventive, and no punitive purpose"

Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Henning Ernst Müller,

ja, Ihre nachfolgend aufgeworfenen Fragen (bin Kollegin und Betroffene dieser Entscheidung als Opfer) sind wirklich spannend, zumal ich wohl jetz damit rechnen muss, dass die von der Entscheidung betroffenen Straftäter über kurz od. lang auf freien Fuß gesetzt werden.

Spannend können noch folgende Fragen werden:

1. Wie wird die EGMR-Entscheidung - vorausgesetzt sie wird rechtskräftig - umgesetzt? Kommt es jetzt zur Freilassung der bislang als gefährlcih angesehenen Verurteilten?

2. Welchen Einfluss hat die Entscheidung auf die nachträgliche Sicherungsverwahrung insgeamt, also in fällen wo es nicht lediglich um eine Verlängerung geht, sondern um die nachträgliche erstmalige Anordnung selbst?

In "meinem" Fall wurde bei dem Stalker (mehrfach verurteilter Sexualstraftäter) bei der dritten Tatserie keine Sicherungsverwahrung angeordnet, so dass er nach Verbüsung seiner damals verhängten Strafe von 8,5 Jahren 1993 hätte entlassen werden müssen. Seitdem wird er wegen massiver psychischer Störung (zuletzt in einem Gutachterverfahren von einem Gericht in Ffm bestätigt) in Haft bzw. Sicherungsverwahrung gehalten. Zum Zeitpunkt des Haftendes war eine Sicherungsverwahrung erstmals angeordnet worden u. somit sind aus juristischer Sicht die Bedingungen mißachtet worden, dass eine Sicherungsverwahrung (damals max. 10 Jahre) spätestens 6 Monate vor Haftende zu beantragen ist u. nachträglich wohl überhaupt nicht zulässig.

Als er aufgrund des Urteils des Frankfurter Gerichts Januar 2008 auf freien Fuß kam, bestand für mich 24 Std Polizeischutz etc. Seit Mai 08 ist dieser Mann nun wieder in Haft u. auch sein Fall soll vor dem EUGH rechtshängig sein.

Wie schätzen Sie die Wahrscheinlichkeit ein, dass die von diesem Urteil Betroffenen, dann noch ausgestattet mit entspr. Geldmitteln, kurzfristig entlassen werden? Und ändert es etwas an Ihrer rechtlichen Beurteilung, dass in meinem Fall dem Straftäter in einem umfangreichen Gutachterprozess nicht therapierbare psychische Persönlichkeitsstörungen attestiert wurden (die der Gutachter im Prozess der 3ten Tatserie schlicht übersah bzw. unterschätzte/fehleinschätzte)?

Mein Leben wird von diesem Täter seit meinem 19ten Lebensjahr geprägt u. wann immer er auf freien Fuß ist, bedeutet dies für mich u. meine Kinder die Entziehung des Rechts auf Freiheit (muss ich mit Waffe -habe einen Waffenschein- rumlaufen.

Können Sie ggf. einschätzen, mit welchen zeitlichen Abläufen hier aufgrund des Urteils zu rechnen ist, da wohl kaum davon ausgegangen werden kann, dass im Falle der Anrufung der gr. Kammer mit einem anderen Urteil gerechnet werden kann. Wie lange wird der Prozess ggf. vor der gr. Kammer dauern u. meinen Sie, dass die Bundesrepublik sich in dieser Frage die große "Ohrfeige" auch noch abholt u. zusätzlich das Risiko eingeht, in immenser Höhe immaterielle Schäden dieser zu Unrecht in Haft gehaltener Täter zahlen zu müssen?

Die Juristin in mir stimmt Ihrer Beurteilung dieser Entscheidung voll u. ganz zu, die Betroffene fragt sich, wie der Schutz für die Opfer (mögl. Opfer) dann vom Staat gewährleistet werden soll.

Mit bestem Dank für Ihre Antwort und Ihnen ein schönes Fest u. einen guten Jahreswechsel (der in Wiederholung von vor 2 Jahren nun für meine Familie u. mich alles Andere als gut zu werden scheint).

Ines

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Sehr geehrte Frau Ines,

danke für Ihre Ausführungen aus Sicht einer Betroffenen. Frau Leutheusser-Schnarrenberger hat sich heute gegenüber der BILD-Zeitung (etwas sybillinisch) geäußert:
"Das Urteil selbst gibt keinen Anlass für Gesetzesänderungen. In der Koalition haben wir aber vereinbart, das komplizierte System der Sicherungsverwahrung in einem in sich schlüssigen Konzept zu harmonisieren. Dabei werden wir auf rechtsstaatlicher Grundlage den notwendigen Schutz der Bevölkerung vor notorisch gefährlichen Straftätern mit dem unbedingten Ausnahmecharakter der Sicherungsverwahrung zum Ausgleich bringen."
Dazu ist zu sagen: Wenn kein Gesetz geändert oder neu geschaffen wird, gibt es keine Rechtsgrundlage für die weitere Verwahrung der Fälle, in denen die Sicherungsverwahrung nachträglich verlängert wurde. Man müsste die Gefangenen dann freilassen. Will man das "System harmonisieren", dann wird dies auch kaum ohne Gesetzesänderung erfolgen.
Im Urteil des EGMR sehe ich zwar keine generelle Ablehnung einer "preventive detention", auch grds. nicht in Form der Sicherungsverwahrung in Deutschland. Als Verstoß wurde aber die nachträgliche Verlängerung bewertet, d. h. dass durch eine Gesetzesänderung ein Urteil nachträglich verschlechtert wurde. Dies hat m. E. auch Auswirkungen auf die nachträgliche Sicherungsverwahrung insgesamt, also wenn die Sicherungsverwahrung nicht bereits im Urteil vorbehalten wurde.
Bei einer Änderung der bisherigen Rechtslage, die den Ansprüchen der Rechtsprechung des EGMR genügen soll, wird man also eine Lösung solcher "Altfälle" finden müssen und solcher Fälle, in denen sich die angenommenen "Gefährlichkeit" erst im Lauf des Freiheitsstrafvollzugs erstmals zeigt. Es wäre z.B. daran zu denken, die Sicherungsverwahrung außerhalb des StGB zu regeln und den Vollzug auch deutlich von der Strafhaft abzuheben - was dann auch eine Lösung für die Sicherungsverwahrung insgesamt darstellte. Die Anordnung einer solchen neu geregelten Sicherungsverwahrung auf Altfälle wäre grds. auch mit dem Urteil des EGMR vereinbar. Aber es wären dann in jedem Einzelfall die Anforderungen einer solchen neuen Regelung erneut richterlich zu prüfen.
Eine bloßes "Weiter-So wie bisher" wird wohl nicht in Betracht kommen, zumal ich nicht glaube, dass das Rechtsmittel der Bundesregierung erfolgreich sein wird. Soweit meine höchst vorläufige Einschätzung.

Vielleicht kommt irgendwann einmal der Tag, an dem das Schreiben von Kommentaren im Beck-Blog durch Gesetze kriminalisiert wird. Als rechtstreuer Bürger würde ich mich diesem Gesetz (vielleicht) unterwerfen und es befolgen.
Angst vor Strafe für die Abfassung DIESES Kommentars müsste ich (da es das Gesetz heute noch nicht gibt) gleichwohl nicht haben - und das ist gut so!

Vielen Bürgern ist nicht klar, wie die Praxis der Anwendung von Sicherungsverwahrung in Deutschland wirklich ist. Sie hat mit rechtsstaatlichen Gegebenheiten nichts mehr zu tun. Viel mehr ist sie Ausdruck von Willkür und Beliebigkeit geworden. Da sind auch Hofgutachten nicht geeignet, den rechtswidrigen Anwendungsbereich der Sicherungsverwahrung, so wie sie in Deutschland praktiziert wird, zu rechtfertigen.
Wir haben sehr großes Glück, dass der EUGH das Thema SV in Deutschland endlich unter die Lupe nimmt. Es bleibt zu hoffen, dass wir von dort Rechtsstaatlichkeit aufgezwungen bekommen, wenn es in der derzeitigen Pseudodemokratie schon nicht möglich ist Menschenrechte wirklich zu wahren. Jeder, der denkt Sicherungsverwahrung sei RICHTIG, soll sich genauer informieren und die traurigen Tatsachen in Deutschen Haftanstalten anschauen. Wenn wir zum Folterstaat werden wollen, dann müssen wir uns auch dazu bekennen.
Keinem Opfer ist damit gedient Menschen in einem System des Unrechtes für unbestimmte Zeit der Willkür von Vollzugsbehörden auszusetzen. Opferschutz ist keine dumme Rache.

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@Prof. Müller
Die Sache geht ja nun in die nächste Runde:http://www.welt.de/politik/deutschland/article5836255/Deutschland-will-S...
Was mich an Ihrer (und des EGMR) Ansicht nicht überzeugt, ist der Umstand, dass Sie in die Höchstfrist der Sicherungsverwahrung einen "punitiven Anteil" hineininterpretieren, den es strenggenommen gar nicht geben dürfte. Schließlich handelt es sich bei der SiV um eine Maßregel, die - wie jede Maßregel - ausschließlich präventiv (und eben nicht repressiv) begründet wird. Möglicherweise ist die Höchstfristgrenze lediglich dem gesetzlichen Bestimmtheitsgebot geschuldet - denn in Grundrechte eingreifen, das tut die SiV allemal (es sei denn, der Betroffene stimmte ihr zu; und selbst dann wäre zu fragen, ob ein solcher Grundrechtsverzicht wirksam sein könnte). Jedenfalls ist es nicht gänzlich unplausibel, die Höchstfrist anders als mit einem "punitiven Anteil" zu begründen.

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Sehr geehrter Herr Tobias
was Sie als "hineininterpretieren" bezeichnen, ist in Wirklichkeit ein Teil der Antwort auf die Frage, was mit "Strafe" im Sinne des Art. 103 Abs. 2 GG und Art. 7 EMRK gemeint ist. Art.103 Abs.2 GG darf nicht in Abhängigkeit von § 2 Abs. 6 StGB interpretiert werden, sonst würde man im Zirkelschluss zum jeweils gewünschten Ergebnis kommen und das Rückwirkungsverbot würde allein durch Änderung des StGB ausgehebelt werden können. Der "Strafe"-Begriff in Art. 103 Abs.2 GG ist unabhängig von konkreten Regelungen im Strafrecht und insbesondere unabhängig von den dort (seit Jahrzehnten im Streit befindlichen) Zwecken zu interpretieren - das GG muss hier maßgebend sein. Dies gilt natürlich für die staatenübergreifende MRK erst Recht: Es kann die EMRK doch ihren Strafbegriff nicht davon abhängig machen, was ein Vertragsstaat in seinem jeweiligen Strafrecht als Strafe bezeichnet und welche Zwecke nach der dortigen Doktrin damit verfolgt werden. Man stelle sich vor (keineswegs abwegig), das Strafrecht eines Staats sehe nur noch reine Prävention als Reaktion auf Straftaten vor: Der Täter wird so lange eingesperrt bis seine Behandlung "gewirkt" hat, höchstens aber 15 Jahre. Dürfte dieser Staat eine solche Höchsteinschließung rückwirkend für die bereits Einsitzenden auf 25 Jahre verlängern, nur weil er es nicht Strafe nennt, sondern, sagen wir, "Wegschließung auf Zeit"? Ich denke, das Beispiel zeigt, dass es beim Rückwirkungsverbot nicht auf die (jeweils unterschiedlichen und historisch sich verändernden) Zwecke ankommen kann, sondern nur darauf, ob es sich um eine Reaktion auf eine Straftat handelt. Eine im deutschen StGB als Reaktion auf Straftaten geregelte und wie eine Freiheitsstrafe vollzogene Einschließung in einer Strafvollzugsanstalt aus dem Anwendungsbereich des Rückwirkungsverbots herauszuhalten, indem man auf einen bloßen präventiven Zweck verweist (wobei im Übrigen ja nach ganz überwiegender Auffassung auch die Freiheitsstrafe überwiegend präventive Zwecke verfolgt), ist meines Erachtens ziemlich eindeutig eine Umgehung des Rückwirkungsverbots.
Beste Grüße
Henning Ernst Müller

Bitte verzeihen Sie mir, daß ich juristischer Laie bin, die einschlägigen Quellen und Gesetze nicht kenne und diese Diskussion wieder aufkoche.

Mir erschließt sich nicht, wieso zur Interpretierung des Begriffs der "Strafe" in Art. 103 Abs.2 GG nicht auch die deutsche Strafrechtslehre herangezogen werden kann, die schon seit über 80 Jahren zwischen Strafen und Maßregeln unterscheidet. Die Maßregeln der Besserung und Sicherung wurden auch erst 1953 ins StGB aufgenommen.

Mir ist leider unklar, ob das BVerfG auch darüber entschieden hat, ob die nachträgliche Sicherungsverfahrung eine Strafe i.S.d. Art. 103 Abs.2 GG ist.
Daß es sich dennoch um eine Strafe i.S.d. EMRK handeln kann, steht der Verfassungsmäßigkeit aber auch nicht entgegen?

Um Rechtssicherheit wieder herzustellen, könnte Deutschland nicht einfach aus der EMRK austreten und darauf postwendend wieder eintreten aber unter dem Vorbehalt, daß Art. 7 EMRK auf Maßregeln nicht angewendet wird? Warum sollte die EMRK für uns wichtiger sein als das Grundgesetz?

Tja. Fragen, die man sich fragen kann. Werden in in der Publikumspresse selten erörtert. Fachliteratur kann ich aus Zeitgründen nur in anderen Disziplinen lesen. Ich bin auf diese Seite durch eine Google-Recherche gestoßen und bin froh, daß es in Ihrem Blog eine tiefergehende Diskussion gibt. Antworten erwarte ich allerdings nicht. Meine Fragen kann man auch als rhetorische Fragen betrachten.

Juristischer Laie

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Sehr geehrter juristischer Laie,

Sie stellen alles andere als rhetorische Fragen udn ich möchte kurz darauf eingehen .

Natürlich muss zur Interpretation des Begriffs "Strafe" im GG auch die deutsche Strafrechtslehre (im Unterschied zu Normen des Gesetzgebers unterhalb des GG, s. o.) herangezogen werden. Diese ist aber nicht so eindeutig wie Sie denken. Zwar existiert eine Unterscheidung zwischen Strafen und Maßregeln schon seit Langem, aber auch der Oberbegriff für beides ist "Strafe" (wie sich in Art. 74 Nr.1  GG und im Wort "Strafgesetzbuch" zeigt). Das BVerfG hat in seiner Entscheidung rechtsgeschichtlich "gemogelt", denn es hat "übersehen", dass - sogar schon in den 1920er Jahren - in der Strafrechtslehre die Ansicht vorherrschte, dass jedenfalls für die Maßregel Sicherungsverwahrung (die zunächst keine Mehrheit fand und dann von den Nazis eingeführt wurde) ein Rückwirkungsverbot gelten müsse. Dies war auch in langen Jahrzehnten der bundesdeutschen Strafrechtswissenschaft Mehrheitsmeinung. Aber man mag über den "Straf"-Begriff des GG tatsächlich streiten können. Etwas unbehaglich wird mir, wenn der Vertrauensschutzgedanke, der in Deutschland sonst für jeden verwaltungsrechtlichen - Entschuldigung -  "Pups" gilt, für die schwerste Sanktion nicht gelten soll. Nicht beachtet hat das BVerfG zudem, dass die Begrenzung der ersten Sicherungsverwahrung auf 10 Jahre damals eingeführt wurde mit der Begründung, die Richter würden die SiVerw. sonst zu selten anordnen. D.h., man hat die Judikative zunächst "gelockt", die SiVerw. häufiger anzuordnen und lässt sie nun rückwirkend auf unbestimmte Zeit verlängern. Eine solche Durchbrechung der Rechtskraft und Missachtung gerichtlicher Entscheidungen hat es bislang in der bundesdeutschen Rechtsgeschichte nicht gegeben. Dementsprechend ist auch die Entscheidung des BVerfG kritisiert worden.

Zur EMRK und deren Begriff der Strafe. Hier gibt es kaum einen Zweifel, dass dieser umfassend ausgelegt werden muss: jeder Staat der sich völkerrechtlich zur Einhaltung der Menschenrechte verpflichtet hat, hat sein eigenes "Strafsystem". Wenn das Rückwirkunsgverbot für alle gleich gelten soll, kann man wohl kaum Strafen anders behandeln, nur weil sie in einem Staat "Maßregeln" genannt werden oder rein präventiv wirken sollen. Übrigens: Zunächst war gerade den Deutschen das Rückwirkungsverbot der EMRK nicht stark genug, man befürchtete seitens konservativer Politiker, jemand könnte auf die Idee kommen, auch die alten Nazis noch zu belangen, deren Straftaten aus 1933 ff. verjährt waren...(tja, so ändert sich die Geschichte).

Zu Ihrem Vorschlag "Rechtssicherheit" herzustellen: Dieser Vorschlag würde wohl das Gegenteil von Rechtssicherheit bedeuten. Soll einfach jeder Staat, der vom EGMR verurteilt wird, kurzfristig austreten können? Was würden Sie wohl von so einem Staat halten? Richtig: Eine menschenrechtswidrige Bananenrepublik wäre das. Mit einem solchen Staat würde niemand mehr Verträge schließen wollen. Die Folgen für die Menschenrechte wären eklatant - die MRK würde aufhören als einigermaßen verbindliche Leitlinie  zu existieren. Dies kann niemand in Deutschland ernsthaft wollen.

Besten Gruß

Henning Ernst Müller

 

 

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