Wenn die minderjährige Tochter sich ohne Wissen der Eltern tätowieren lässt – Bemerkungen zur NJW-Entscheidung der Woche aus strafrechtlicher Sicht
von , veröffentlicht am 10.08.2012
Diese Woche hat die NJW-Redaktion zur "Entscheidung der Woche" (vgl. NJW-aktuell 33/2012 S. 10) das zivilrechtliche Urteil des AG München NJW 2012, 2452 ausgewählt: Eine erwerbstätige 17-Jährige hatte ohne Wissen ihrer Eltern sich für 50 € tätowieren lassen. Die Entscheidung befasst sich mit der Wirksamkeit eines solchen Vertrags und ob – einen Vertragsschluss vorausgesetzt – trotz des gesetzlichen Vorrangs der Nacherfüllung ein Schadensersatzanspruch der Minderjährigen besteht.
Das AG München vertritt mit Blick auf einen verneinten Schmerzensgeldanspruch den Standpunkt, es liege aufgrund der Einwilligung der Minderjährigen keine rechtswidrige (gefährliche) Körperverletzung vor. Die fehlende Einwilligung der Eltern sei unerheblich.
Zwar steht auch den Minderjährigen eine Recht auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit zu. Jedoch stellt sich die Frage, ob dieses Recht hinter dem Sorgerecht der Eltern zurücktritt (so auch Hauck NJW 2012, 2398, 2399). Wie bei medizinisch indizierten Eingriffen hätten m.E. auch die Eltern einwilligen müssen, damit die Rechtswidrigkeit entfällt.
Als Körperschmuck sind Tattoos (nicht nur) bei Minderjährigen derzeit sehr beliebt. Die Frage, ob bei geschäftsähnlichen Handlungen mit höchstpersönlichem Einschlag auch der/die gesetzlichen Vertreter zustimmen müssen, ist höchstrichterlich noch nicht entschieden. Sie wird deshalb in nächster Zeit die Praxis der Instanzgerichte vermehrt beschäftigen.
Hinweise zur bestehenden Moderationspraxis
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6 Kommentare
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Die Entscheidung ist auch online zugänglich, unter http://dejure.org/2011,43587
Nik kommentiert am Permanenter Link
Bei diesem Urteil verstehe ich nicht, wo das Problem bei den Beschneidungen sein soll: die Eltern willigen in eine völlig sinnlose Körperverletzung an dem Kind ein und lassen somit die Rechtswidrigkeit enfallen.
Name kommentiert am Permanenter Link
@#2 Nik: dann melden sich also Ihrer Ansicht nach acht Tage alte Neugeborene aus eigenem Wunsch selbst beim Mohel für die Beschneidung an? Und vierjährige Knaben beim Sünnetci?
*kopfschüttel*
Prof. Dr. Henning Ernst Müller kommentiert am Permanenter Link
Die strafrechtliche Einwilligungsfähigkeit ist nach h.M. anders zu beurteilen als die zivilrechtliche Geschäftsfähigkeit, hängt also nicht von der Volljährigkeit ab. Das AG:
Hinsichtlich des Vertragsschlusses argumentiert das AG München mit § 110 BGB:
Ronny Hauk (NJW 2012, 2398) argumentiert hinsichtlich des Strafrechts, bei Tätowierungen von Minderjährigen müssten für die Rechtfertigung beide Einwilligungen vorliegen:
Er kommt dazu durch einen Umkehrschluss und einen Erst-Recht-Schluss.
Der Umkehrschluss: Da der BGH bei medizinischen Eingriffen mit erheblichen Folgen für die künftige Lebensgestaltung ein Vetorecht des minderjährigen Patienten annehme, gälte "umgekehrt" praktisch ein Vetorecht der Erziehungsberechtigten bei solchen Eingriffen in die körperliche Integrität.
Der Erst-Recht-Schluss: Wenn aber selbst bei medizinisch indizierten Eingriffen eine zusätzliche Einwilligung des gesetzlichen Vertreters verlangt wird (...), muss dies erst recht bei derartigen lediglich „verzierenden“ Eingriffen in die körperliche Integrität des Minderjährigen gelten.
Beide Schlussfolgerungen überzeugen mich nicht ganz: Das Vetorecht des Minderjährigen schützt seine Integrität, weil er schließlich (auch später als Erwachsener) in dem Körper leben muss, den der Arzt mit Einwilligung der Eltern verändern soll. Dies ist nicht o.W. übertragbar auf das Erziehungsrecht, dessen Ausübung ohnehin relativ zum Alter des Minderjährigen steht und mit Volljährigkeit endet.
Der Erst-Recht-Schluss ist deshalb nicht überzeugend, weil die relative Erheblichkeit (irgendwelcher) medizinischer Eingriffe gegenüber (irgendwelchen) "verzierenden" Eingriffen nicht generell einzuschätzen ist, sondern nur im Einzelfall bestimmt werden kann.
Insgesamt scheint mir das strafrechtliche Ergebnis Hauks nicht überzeugend.
Überzeugender erscheint mir aber die zivilrechtliche Argumentation Hauks hinsichtlich des Vertragsschlusses: Wegen der Dauerhaftigkeit des Tattoos (bei gleichzeitiger Modeabhängigkeit) und der Kostspieligkeit der Entfernung könne ein Vertragsschluss nicht auf § 110 BGB gestützt werden, der als Ausnahme zum Minderjährigenschutz eng auszulegen ist (Hauk, NJW 2012, 2398, 2399):
Prof. Dr. Bernd von Heintschel-Heinegg kommentiert am Permanenter Link
Schneller wie eingangs vermutet, tauchen nun in der Praxis die verschiedenen Fälle auf (Meldung der SZ von heute):
Am Freitag wird sich das Amtsgericht Berlin-Lichtenberg mit der Schmerzensgeldklage eines dreijährigen Mädchens (vertreten durch die Elltern) gegen ein Tattoo-Studio nach einem Ohrlochstechen beschäftigen. Das Mädchen soll sich zum Geburtstag die Löcher gewünscht haben. Die Eltern fordern 70 Euro Schadenersatz, weil ihre Tochter lang anhaltende Schmerzen erlitten und noch Tage nach dem Eingriff traumatische Reaktionen gezeigt habe.
Wie ein Sprecher des Kammergerichts mitgeteilt habe, werde der zuständige Richter auch überprüfen, inwiefern sich auch die Eltern des Kindes strafbar gemacht haben könnten. Es sei zweifelhaft, ob die Einwilligung der Eltern zum Ohrlochstechen dem Wohl des Kindes gedient habe.
C. Meloné kommentiert am Permanenter Link
Sehr geehrter Herr Prof. Heintschel-Heinegg,
Im Deutschen Ethikrat hat Herr Leo Latasch das Ohrlochstechen mit der Beschneidung nach jüdischem Ritus verglichen.
Wie sich nun herausgestellt hat, benutzte er dabei ein gekürztes Video, aus dessen Langfassung sich ergibt, dass dort der ultraorthodoxe Ritus der Metzitzah B'peh praktiziert wurde,
bei der der Mohel nach der Entfernung der Vorhaut das Blut am Penis des Neugeborenen mit dem Mund absaugt:
http://www.faz.net/aktuell/politik/ethikrat-jacobs-beschneidung-11875890...
Wenn diese Beschneidung in Deutschland stattgefunden hätte, welche Straftatbeständer wären durch das Handeln des Rabbi und der Eltern erfüllt worden?
Und wie wäre das Verhalten des Rabbi aus den USA nach bundesdeutschem Strafrecht zu werten, von dem die Kinder mutmaßlich beim Absaugen durch Herpes infiziert worden sind und daran gestorben sind?
Ihre Einschätzung zu dem Thema würde mich sehr interessieren.
Mit freundichem Gruß
C. M.