Wiederaufnahme zuungunsten eines wegen Mordes Freigesprochenen nach § 362 Nr.5 StPO. BVerfG: Gesetz ist verfassungswidrig
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Vor beinahe acht Jahren stellte ich hier im Blog die strafrechtliche Grundfrage nach materieller Wahrheit und Rechtssicherheit. Anlass war der Fall Frederike, nachzulesen hier.
In der Zwischenzeit wurde in einem der letzten Gesetze der vorherigen Legislaturperiode § 362 Nr.5 StPO geregelt (durch Gesetz vom 21.12.2021, in Kraft getreten am 30.12.2021), mit der die damalige Frage beantwortet wurde: § 362 Nr.5 StPO gestattete für Fälle schwerster Verbrechen die Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten, wenn „neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden“. Dies sollte auch für bereits am 31.12.2021 rechtskräftige Freisprüche gelten, also zurückwirken. Die Gesetzesänderung war ja gerade die Reaktion auf einen bereits mehr 40 Jahre rechtskräftigen Freispruch: Das Gesetz ermöglichte die Wiederaufnahme des Verfahrens gegen den des Mordes an Frederike Verdächtigen, der nun mit einer DNA-Spur überführt werden sollte.
Heute hat das BVerfG § 362 Nr.5 StPO für nichtig erklärt.
Die Norm und deren Anwendung im geschilderten Fall verstoße sowohl gegen At. 103 Abs.3 GG (ne bis in idem) als auch gegen das Rückwirkungsverbot.
Auszüge aus der Begründung (Hervorhebungen von mir):
Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens gegen den Beschwerdeführer ist verfassungswidrig. Ihre Rechtsgrundlage, der mittelbar angegriffene § 362 Nr. 5 StPO, verstößt gegen Art. 103 Abs. 3 GG (I.). Zudem verletzt seine Anwendung auf Freisprüche, die bereits zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Regelung am 30. Dezember 2021 rechtskräftig waren, das Rückwirkungsverbot aus Art. 103 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG (II.).
I. Art. 103 Abs. 3 GG gewährt einem Verurteilten oder Freigesprochenen ein subjektives grundrechtsgleiches Recht, das zunächst unmittelbar an die Strafgerichte und Strafverfolgungsorgane gerichtet ist (aa). Die gleiche Wirkung entfaltet Art. 103 Abs. 3 GG gegenüber dem Gesetzgeber, wenn dieser die gesetzlichen Voraussetzungen für eine erneute Strafverfolgung durch die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens schafft (bb).
Dieser Schutz kommt Verurteilten wie Freigesprochenen gleichermaßen zu (1) und steht bereits der erneuten Strafverfolgung entgegen (2).
(1) Träger des grundrechtsgleichen Rechts aus Art. 103 Abs. 3 GG sind nicht nur Verurteilte, sondern auch Freigesprochene (vgl. BVerfGE 12, 62 <66>; 162, 358 <371 Rn. 46>; BVerfGK 9, 22 <26>).
Der Wortlaut des Art. 103 Abs. 3 GG ließe zwar eine Auslegung dahingehend zu, dass diese Bestimmung nur nach einer vorangegangenen Verurteilung greift. Eine solche Beschränkung des grundrechtsgleichen Rechts auf Verurteilte hat jedoch weder der historische Verfassungsgeber vorgesehen (a), noch wird Art. 103 Abs. 3 GG in der Praxis der Strafgerichte und Strafverfolgungsbehörden in diesem Sinne verstanden (b). Sie widerspräche zudem dem Zweck des grundrechtsgleichen Rechts (c).
Das Mehrfachverfolgungsverbot des Art. 103 Abs. 3 GG trifft eine Vorrangentscheidung zugunsten der Rechtssicherheit gegenüber der materialen Gerechtigkeit (aa). Sie steht einer Relativierung des Verbots durch Abwägung mit anderen Rechtsgütern von Verfassungsrang nicht offen (bb), so dass dem Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Wiederaufnahmerechts insoweit kein Gestaltungsspielraum zukommt (cc).
Die in Art. 103 Abs. 3 GG zugunsten der Rechtssicherheit getroffene Vorrangentscheidung ist absolut. Damit ist das grundrechtsgleiche Recht des Art. 103 Abs. 3 GG abwägungsfest. Zwar folgt dies noch nicht zwingend aus dessen Wortlaut (1) oder Entstehungsgeschichte (2). Jedoch ergibt sich aus der Systematik (3) und dem Sinn und Zweck (4) der Bestimmung, dass diese Entscheidung des Grundgesetzes strikte Geltung beansprucht. Nichts anderes folgt aus der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (5).
Der Zweck einer Wiederaufnahme aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel erschöpft sich darin, eine mögliche Diskrepanz zwischen dem Inhalt eines Strafurteils und der materiell-rechtlichen Wirklichkeit, die sich nachträglich offenbart, zu beseitigen. Soweit eine solche Wiederaufnahme vorgesehen ist, gibt der Gesetzgeber der materialen Gerechtigkeit Vorrang vor der Rechtssicherheit. Dies läuft Art. 103 Abs. 3 GG zuwider.
Eine Ausweitung des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums zur Regelung der Wiederaufnahme von Strafverfahren kann auch nicht auf die Belange von Opfern und deren Angehörigen gestützt werden.
II. Zudem verletzt die Anwendung des § 362 Nr. 5 StPO auf Verfahren, die bereits vor Inkrafttreten dieser Bestimmung durch rechtskräftigen Freispruch abgeschlossen waren, das Rückwirkungsverbot aus Art. 103 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.
Eine Rückbewirkung von Rechtsfolgen („echte“ Rückwirkung) ist grundsätzlich verfassungsrechtlich unzulässig (vgl. BVerfGE 13, 261 <271>; 95, 64 <87>; 122, 374 <394>; 131, 20 <39>; 141, 56 <73 Rn. 43>; 156, 354 <405 Rn. 140> m.w.N.). Dieses grundsätzliche Verbot der Rückbewirkung von Rechtsfolgen schützt das Vertrauen in die Verlässlichkeit und Berechenbarkeit der unter der Geltung des Grundgesetzes geschaffenen Rechtsordnung und der auf ihrer Grundlage erworbenen Rechte (vgl. BVerfGE 101, 239 <262>; 132, 302 <317 Rn. 41>; 135, 1 <21 Rn. 60>; 156, 354 <405 Rn. 140>). Die Kategorie der „echten“ Rückwirkung – verstanden als zeitliche Rückbewirkung von Rechtsfolgen auf abgeschlossene Tatbestände – findet ihre Rechtfertigung darin, dass mit ihr eine Fallgruppe gekennzeichnet ist, in welcher der Vertrauensschutz regelmäßig Vorrang hat, weil der in der Vergangenheit liegende Sachverhalt mit dem Eintritt der Rechtsfolge kraft gesetzlicher Anordnung einen Grad der Abgeschlossenheit erreicht hat, über den sich der Gesetzgeber vorbehaltlich besonders schwerwiegender Gründe nicht mehr hinwegsetzen darf (vgl. BVerfGE 127, 1 <19>; 156, 354 <406 Rn. 142>).
Soweit § 362 Nr. 5 StPO die Wiederaufnahme auch für Verfahren ermöglicht, die bereits zum Zeitpunkt seines Inkrafttretens rechtskräftig abgeschlossen waren (a), liegt darin eine „echte“ Rückwirkung (b), die auch nicht ausnahmsweise zulässig ist (c).
Die Erstreckung auf Freisprüche, die bereits vor Inkrafttreten des § 362 Nr. 5 StPO rechtskräftig geworden sind, stellt eine „echte“ Rückwirkung im Sinne einer Rückbewirkung von Rechtsfolgen dar.
Das Prinzip der Rechtskraft dient gerade dazu, einer Entscheidung abschließenden Charakter zu verleihen und eine erneute Infragestellung zu verhindern. Insbesondere im Strafverfahren enthält ein Freispruch den abschließenden Aussagegehalt, dass sich der Tatverdacht, der dem Strafverfahren zugrunde lag, nicht bestätigt hat. Der geregelte Lebenssachverhalt, an den eine gesetzliche Neuregelung der Wiederaufnahme Rechtsfolgen knüpft, ist das Verfahren, nicht der zugrundeliegende, den Verfahrensgegenstand prägende tatsächliche Sachverhalt (vgl. BVerfGE 63, 343 <360>). Erfolgt die Wiederaufnahme aufgrund einer Norm, die erst nachträglich in Kraft tritt, ändert sie die Rechtsfolgen eines Freispruchs. Den zuvor bestehenden Vorbehalten, die in den bisherigen Wiederaufnahmegründen zum Ausdruck kommen, fügt die Neuregelung einen weiteren Vorbehalt hinzu (vgl. auch BVerfGE 2, 380 <403>; Kaspar, GA 2022, S. 21 <34>).
Die Unverjährbarkeit der von § 362 Nr. 5 StPO erfassten Delikte gebietet keine andere Bewertung. Gerade für unverjährbare Delikte kann erst ein Freispruch die weitere Strafverfolgung ausschließen. Er trifft, anders als das Institut der Verjährung (vgl. BVerfGE 25, 269 <286 f.>; 156, 354 <413 Rn. 158 f.>), eine ausdrückliche staatliche Entscheidung darüber, dass die Voraussetzungen für die Bestrafung eines bestimmten Verhaltens nicht erfüllt sind, und knüpft hieran den Ausschluss erneuter Strafverfolgung. Daher entfaltet ein Freispruch eine noch stärkere Zäsurwirkung als der Eintritt der Verfolgungsverjährung (vgl. Gerson, StV 2022, S. 124 <128 f.>).
Die Entscheidung hinsichtlich des Verstoßes gegen das Rückwirkungsverbot fiel einstimmig, hinsichtlich der abwägungsfesten Regelung des Art. 103 Abs.3 gab es ein abweichendes Sondervotum zweier Verfassungsrichter, die dem Gesetzgeber jedenfalls für zukünftige Freisprüche einen Ermessensspielraum einräumen wollen.
Reaktionen:
In der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung wurden auch Reaktionen der beiden beteiligten Anwälte mitgeteilt:
Der Anwalt Wolfram Schädler kämpfte seitdem darum, dass der Verdächtige erneut vor Gericht gestellt werden kann. Es kam tatsächlich zu einer Gesetzesänderung, die nun vom Verfassungsgericht für nichtig erklärt wurde. …
Anwalt Schädler sagte nach dem Urteil: „Das muss man erst einmal akzeptieren. Das ist kein Tag der Gerechtigkeit.“ Er machte aber deutlich. „Wir werden weiter ermitteln, der Täter kann sich nicht zurücklehnen“, sagte er dieser Redaktion. „Wir werden versuchen, möglicherweise jemanden zu finden, dem gegenüber er ein Geständnis abgegeben hat. Das ist ja nach wie vor möglich. Warten wir mal ab.“ Bei einem Geständnis ist, wie bei der alten Rechtsprechung, eine Wiederaufnahme des Verfahrens möglich. Nach dem Tod des Vaters Hans von Möhlmann bekam Schädler das Mandat von dessen Schwester Susann. „Sie hat mit großem Unverständnis auf das Urteil reagiert und fühlt sich als Opfer alleingelassen“, so der ehemalige Bundesanwalt.
Matthias Waldraff, Anwalt von Ismet H., sprach von einer „juristisch überzeugenden Entscheidung, so tragisch sie auch unter menschlichen Aspekten sein mag“. Bei seinem Mandanten herrsche eine „enorme Erleichterung“ vor.
Reaktionen aus der Politik findet man auf lto.
Kurzes Fazit
Dass ein Gesetz verfassungswidrig sein würde, mit dem längst bestehende Freisprüche rückwirkend praktisch für „unwirksam“ erklärt werden können, war schon vor dieser Entscheidung wohl Mehrheitsmeinung in der juristischen Fachwelt. Weniger eindeutig war das Meinungsbild bezüglich der Frage, ob „ne bis in idem“ praktisch abwägungsfest auch gegenüber dem Gesetzgeber ist und diesem keinerlei Freiheit einräumt, den Wiederaufnahmegrund "neue Tatsachen" zuungunsten des Angeklagten gesetzlich zu regeln. Dass eine Abwägung zwischen materieller Gerechtigkeit und Rechtskraft möglich ist, hatte ich auch meinem Beitrag von 2015 zugrunde gelegt. Ich begrüße aber nun das Mehrheitsvotum des Bundesverfassungsgerichts, das seine recht eindeutige Entscheidung zur Auslegung des Art. 103 Abs.3 GG überzeugend begründet.
Ergänzung (02.11.23): Ich frage mich - wie auch Herr Kolos in seinen Kommentaren unten - ob die Angabe, es handele sich bei Art. 103 Abs.2 GG um ein abwägungsfestes Grundrecht, in das vom Gesetzbeger nicht aufgrund der Abwägung mit anderen (wichtigen) Anliegen für zukünftige Fälle eingegriffen werden dürfe, mit den bisherigen Ausnahmen des § 362 Nr.1 bis 4 StPO in Einklang zu bringen ist. Denn auch die Nr.1 bis 4 enthalten ja Ergebnisse einer Abwägung mit anderen Interessen, die eine Durchbrechung der Rechtskraft eines Freispruchs offenbar (und vom BVerfG unbeanstandet) erlauben. Das BVerfG meint, die Nr.1 bis 4 regelten kategorial andere Fälle, die das i.Ü. abwägungsfeste Grundrecht unbeeinträchtigt ließen. Aber ist das wirklich so?