Regensburger Vergewaltigungsfall erregt Aufsehen - Strafaussetzung zur Bewährung nach Absprache zu "mild"?
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Eine kürzliche Entscheidung des AG Regensburg (Jugend)Schöffengericht hat bundesweit Aufmerksamkeit erregt. Ein junger Mann aus Afghanistan (geb. 1999), der im Jahr 2015 als Jugendlicher nach Deutschland kam, wurde wegen einer Vergewaltigung, wegen sexueller Übergriffe in drei Fällen sowie sex. Belästigung in zwei Fällen zu einer Jugendstrafe von 1 Jahr und 10 Monate verurteilt. Die Strafvollstreckung wurde zur Bewährung ausgesetzt.
Das Urteil war Ergebnis einer Absprache, deren Inhalt einerseits das (vollständige) Geständnis des Angeklagten war, andererseits die gerichtliche Zusage, keine Strafe über 2 Jahre zu verhängen und diese zur Bewährung auszusetzen.
Das Geständnis ersparte den Zeuginnen ggf. unangenehme Vernehmungen vor Gericht und dem Gericht im Falle des Bestreitens eine ggf. schwierige Beweiswürdigung insbesondere bei der Vergewaltigung, die nach Anklage und Geständnis durch die Einführung des Fingers in die Scheide des Opfers ausgeführt wurde.
Die in Presse und Social Media teilweise vermittelte Empörung richtet sich v.a. gegen die Strafaussetzung zur Bewährung, die verbreitet als „Nichtbestrafung“ oder „kommt folgenlos frei“, sozusagen als eine Art Freispruch wahrgenommen wurde. Auch deshalb wurde das Urteil teilweise als „Schlag ins Gesicht der Opfer“ oder auch möglicher weiterer Opfer dieses Täters oder anderer Vergewaltigungstäter aufgefasst.
Auch wenn man bei bloßer Gegenüberstellung von Straftaten (Vergewaltigung, mehrfache sexuelle Übergriffe und Belästigungen gegen Teenager bzw. junge Frauen) und „bloße“ Bewährungsstrafe im ersten Moment schluckt und sogar an ein Fehlurteil denken mag, zeigt ein etwas differenzierterer Blick, dass dieses Urteil wohl doch kein „Skandal“ ist.
Der jetzt Verurteilte hat seit Januar 2023 insgesamt gut sechs Monate in Untersuchungshaft verbracht. Diese Tatsache wird in den kritischen Berichten meist nicht erwähnt bzw. nicht oder unzureichend berücksichtigt. Der Vorwurf an die Justiz, die Vergewaltigung habe keinerlei oder nur geringfügige Folgen für den Täter gehabt, ist deshalb zumindest unvollständig. Die sechs Monate Untersuchungshaft, die bei einer Verurteilung zur Freiheits- oder Jugendstrafe angerechnet werden, haben ganz maßgeblich mit dazu beigetragen, dass eine Strafaussetzung zur Bewährung vom Gericht überhaupt in Betracht gezogen wurde.
In diesem Fall wurde das Jugendstrafrecht angewendet. Da ich insoweit die Einzelheiten nicht vollständig kenne, die das Gericht zur Anwendung des Jugendstrafrechts auf den zur Tatzeit Heranwachsenden bewogen haben: Ungewöhnlich, skandalös oder gar rechtswidrig ist die Anwendung des Jugendstrafrechts (auf Grundlage des Berichts und der Empfehlung der Jugendgerichtshilfe) sicherlich nicht. Der Täter war bei den ersten (und schwerwiegenderen) beiden Taten im Jahr 2019 noch Heranwachsender. Das Gericht hat hier § 105 Abs.1 JGG angewendet. Bei mehreren Straftaten in verschiedenen Altersstufen kommt dann unter den Voraussetzungen des § 32 JGG einheitlich das Jugendstrafrecht zur Anwendung.
Das Jugendstrafrecht hat eine „andere Philosophie“ als das Erwachsenenstrafrecht, was möglicherweise zu erheblichen Missverständnissen führt. Im Jugendstrafrecht geht es nicht um Vergeltung, die hier von der Öffentlichkeit gefordert wird, wenn ein (teilweise mit berechtigter Empörung vorgetragener) Vergleich zwischen den schwerwiegenden Taten und dem Strafausspruch erfolgt.
Es geht im Jugendstrafrecht auch nicht um Generalprävention, wie in einigen Stellungnahmen angedeutet wird, etwa wenn es heißt, andere Täter könnten sich durch das milde Urteil zu sexuellen Übergriffen ermutigt fühlen. Auch die Genugtuung der Opfer von Straftaten steht im Jugendstrafrecht nicht im Zentrum der Strafzumessungsüberlegungen.
Im Jugendstrafrecht steht die spezialpräventive Sicht im Vordergrund, das heißt der konkrete Blick auf den Täter mit dem Ziel, gerade ihn zu einem künftigen straftatfreien Leben zu „erziehen“ oder zumindest zu motivieren.
Entscheidend bei der Strafzumessung im Jugendstrafrecht ist daher die Prognose, ob gerade dieser konkrete Täter durch die zu treffende Sanktion von einem Rückfall abgehalten werden kann. Die Strafrahmen des StGB sind dazu im Jugendstrafrecht vollständig außer Kraft gesetzt.
Zur hier erforderlich werdenden Sozialprognose wurden – in der Tat erstaunliche - Tatsachen angeführt, die bei diesem Täter, abgesehen von seinem bisherigen sexualbezogenen Verhalten, ein eher günstiges Bild ergeben. Er hat sich trotz der Widrigkeiten, die sich aus seiner Fluchtgeschichte ergeben, gut integriert, was seine Schul-, Ausbildungs-, Arbeits- und Wohnsituation angeht und hat sich zudem auch sozial engagiert.
Die nun ausgesprochene Sanktion hat zudem, das ist gesichertes kriminologisches Wissen, eine bessere allgemeine Rückfallbilanz als eine vollstreckte Jugend- oder Freiheitstrafe. Daher ist es aus allg. Erwägungen des Erziehungsgedankens tendenziell angezeigt, eine Strafvollstreckung möglichst zu vermeiden. Die Aussetzung zur Bewährung ist zudem keineswegs „nichts“. Die nicht vollstreckte Strafe wirkt während der Bewährungszeit durchaus als „Drohung“. Die Verurteilten wissen, dass sie unter besonderer Beobachtung der Gesellschaft stehen und sich jede erneute Straffälligkeit äußerst negativ auswirken kann – es droht dann neben der Bestrafung für die neue Straftat auch die Vollstreckung der zur Bewährung ausgesetzten Strafe. Zudem wuden Bewährungsauflagen ausgesprochen, u.a. ein Verbot, mehr als 0,5 Promille Alkohol zu sich zu nehmen. Eine vollstreckte Freiheitsstrafe wäre zwar als Vergeltung und zur Generalprävention möglicherweise besser geeignet, spezialpräventiv ist sie die denkbar schlechteste Lösung.
Meine Kritik an diesem Urteil geht in eine andere Richtung: Ein abgesprochenes Urteil nach verkürzter Hauptverhandlung hinterlässt insbesondere bei schwerwiegenden Vorwürfen immer ein Misstrauen gegen die Justiz und damit den Rechtsstaat. Es lässt sich der Bevölkerung viel schwerer vermitteln, dass ein Geständnis im Rahmen einer Absprache am Ende für den Angeklagten eine günstig erscheinende Folge hat. Die „Belohnung“ für ein Geständnis auch bei Straftaten, die ohnehin – wenn auch mit größerem Aufwand – bewiesen werden könnten, erscheint dann im Rückblick zu hoch. Die Absprachepraxis ist insbesondere im Verfahren gegen Jugendliche und Heranwachsene erheblichen Bedenken ausgesetzt.
Aber auch unabhängig von Absprachen führt ein Geständnis traditionell zu einem wesentlichen Strafabschlag, der, von außen betrachtet, manchmal wenig verständlich erscheint und auch durchaus von manchen Strafverteidigern kritisch gesehen wird. Schließlich entsteht so auch Druck auf (andere) Mandanten die angeklagte Tat zu gestehen, selbst wenn eine Verteidigung Aussicht auf Erfolg hätte. Auch die Gefahr von Falschgeständnissen ist nicht auszuschließen.
Hintergrund der Absprachenpraxis und auch der Belohnung für Geständnisse allgemein im Strafverfahren ist einer, der mit der vorgeworfenen Tat und deren Bewertung meist nicht viel zu tun hat. Es geht dabei um die Belastung bzw. Überlastung der Justiz, die deshalb überproportional daran interessiert ist, ihre Funktionstüchtigkeit mit „abgekürzten“ Verfahren zu erhalten. Ein deutliches Zeichen dafür ist, dass „Deals“ auch schon verbreitet waren, als es eine gesetzliche Regelung noch nicht gab. Die Absprachen laufen (im deutschen Strafrecht) quer zum Amtsermittlungsgrundsatz und zum Bestreben der Ermittlung der materiellen Wahrheit als Urteilsgrundlage, weshalb sie gerade hier für Irritationen sorgen. Letztlich ließe sich die Absprachenpraxis aber wohl nur durch einen sehr teuren personellen Aufbau der Strafjustiz eindämmen.
Ergänzung: Beispielhaft für die mediale Berichterstattung über diesen Fall möchte ich die ca. 10minütige Sendung der "Welt" anführen. In diesem ausführlichen Beitrag wird die 6-monatige Untersuchungshaft nicht erwähnt. Das ist, Verzeihung, liebe Journalisten der "Welt", eine schon grobe Verzerrung der Wirklichkeit. Der interviewte Oberstaatsanwalt Knispel macht Aussagen, die so klingen, als kenne er sich besonders gut aus, z.B. zu den Voraussetzungen der Strafaussetzung zur Bewährung. Er verschweigt aber die Anwendung des Jugendstrafrechts und dessen besondere Maßstäbe. Er ist wahrscheinlich kein Jugendstaatsanwalt, aber das sollte er dann auch einräumen. Fadenscheinig ist auch die mehrfache Argumentation, wer schwere Straftaten begehe, den könne man nicht als gut integriert bezeichnen. Die Argumente des Vertreters der Polizeigewerkschaft und des Staatsanwalts laufen darauf hinaus, die Strafaussetzung zur Bewährung insgesamt in Frage zu stellen.
Weder die "Verteidigung der Rechtsordnung" noch die Rücksichtnahme auf die gesellschaftliche Reaktion im Allgemeinen sind zu berücksichtigende Ziele bei der Strafzumessung im Jugendstrafrecht. Herr Knispel argumentiert hier an der Sache vorbei, nicht auf dem Boden des geltenden Rechts.
Hinsichtlich der Überprüfbarkeit der Bewährungsauflagen geht Herr Knispel wohl von Berliner Verhältnissen aus, die aber in einer übersichtlichen Stadt wie Regensburg, wo sich Jugendliche und junge Leute immer wieder an denselben Orten aufhalten und der Polizei auch "bekannt" sind, anders einzuschätzen sind.