Loveparade 2010 - 10 Jahre danach. Das Strafverfahren ist beendet, aber noch nicht Vergangenheit.
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Update 24.07.2020:
Mit der Loveparade in Duisburg und deren strafrechtlicher Aufarbeitung habe ich mich nun zehn Jahre lang befasst (alle meine früheren Beiträge sind unter diesem Beitrag verlinkt), in jährlich mehreren Beiträgen, die jeweils eingehende Diskussionen mit Lesern und Fachleuten aus verschiedenen Bereichen ausgelöst haben. Dies geschah auch in den Jahren, in denen die Ermittlungen fast zum Stillstand gekommen zu sein schienen und das 21-fach tödliche und mehrhundertfach verletzende Geschehen um die Loveparade zwischenzeitlich in Vergessenheit zu geraten drohte.
Am 24.07. jährt sich das Ereignis "Loveparade Duisburg 2010" zum zehnten Mal. Vor zwei Monaten wurde der Strafprozess beendet. Wegen geringer Schuld ist auch das Verfahren gegen die drei verbliebenen Angeklagten (Mitarbeiter des Veranstalters) nach § 153 Abs.2 StPO eingestellt worden. Eine prozessuale Anfechtungsmöglichkeit nach deutschem Recht gibt es nicht. Sollte nicht der von Nebenklägern angerufene EGMR eine gegenläufige Entscheidung treffen, was unwahrscheinlich erscheint, können die noch offenen tatsächlichen und rechtlichen Fragen jetzt nur noch auf anderen Ebenen (Medienöffentlichkeit, Zivilprozess, Rechtswissenschaft) diskutiert und beantwortet werden.
Einen wichtigen und sehenswerten Versuch dazu stellt die ARTE-Produktion zur Hauptverhandlung dar: Loveparade - Die Verhandlung. Sie ist in der ARTE-Mediathek abrufbar.
Anders als die 45minütige WDR-Produktion desselben Autorenteams Antje Boehmert und Dominik Wessely, die ich (und nicht nur ich), kurz gesagt, einfach schlecht fand, ist diese längere Dokumentation empfehlenswert, auch wenn einiges leider immer noch kritikwürdig bleibt:
1. Wo ist die juristische Kritik an der Entscheidung des Gerichts?
Insbesondere fehlt aus juristischer Sicht eine kritische Stimme zur richterlichen (im Filminterview ausdrücklich vom Vorsitzenden Richter Plein vertretenen) These, die Multikausalität führe zur Schuldverringerung.
Die andere Behauptung, es habe zum Zeitpunkt der Planung noch keine hinreichenden Sorgfaltsvorschriften gegeben, die für solche Veranstaltungen gegolten hätten, diese seien aber infolge der Loveparade-Katastrophe ergänzt worden, wird durch einen Gegenschnitt zum Gutachter Prof. Gerlach praktisch gekontert.
Aber warum gibt es keinen entsprechenden "Konter" zu der juristischen Frage der Beziehung zwischen Multikausalität und Schuld? Das ist immerhin die entscheidende materiellrechtliche Frage, die zur Hauptbegründung der Verfahrenseinstellung diente. Ich wäre bereit gewesen und sicher auch andere Kollegen (insbesondere Thomas Grosse-Wilde) hätten strafrechtsdogmatisch durchaus etwas dazu sagen können. In der 45minütigen WDR-Produktion kam mein Kollege Matthias Jahn aus Frankfurt zu Wort. Ich schätze, dass sein Statement etwas länger ausgefallen ist als die wenigen Sätze, mit denen er damals zitiert wurde. Jetzt fehlen auch diese Sätze. Es ist geradezu so, als ob es keine rechtswissenschaftliche Begleitung des Prozesses gegeben hätte und als ob kein kompetenter Jurist, der nicht gleichzeitig eine prozessuale Rolle (Richter, Staatsanwälte, Strafverteidiger, Nebenklagevertreter, Pressesprecher) innehatte, zur Verfügung stand.
Man braucht nur ein bisschen weiter zu denken, dann ergibt sich die Fragwürdigkeit der Ansicht Pleins. Geht es nach ihm, braucht man sich bei komplexen Veranstaltungen weniger Gedanken über strafrechtliche Verantwortlichkeit zu machen, im Gegenteil: Je komplizierter die Sache ist, desto weniger strafrechtliches Risiko tragen die Verantwortlichen. Das ist zwar ohnehin eine praktische bzw. kriminologische Folge, die wir insbesondere aus dem Wirtschaftsstrafrecht schon lange kennen (je komplizierter dein Betrugsmanöver angelegt ist, desto geringer das Verfolgungsrisiko), aber strafrechtsdogmatisch ist das natürlich unrichtig, gerade in der heutigen komplexen Arbeitswelt. Im Gegenteil: Weil die Sachlage kompliziert ist, dürfen mit der Organisation nur gut ausgebildete Leute betraut werden ("Meister" für Veranstaltungstechnik z.B.), die dann aber auch verantwortlich sind, wenn sie ihre Sorgfaltspflichten missachten und dadurch Menschen zu Schaden kommen. Dass es vorab auch einer sinnvollen Verteilung der Verantwortlichkeiten bedarf, ist ohnehin selbstverständlich. Das führt aber nicht zur Verringerung der Schuld hinsichtlich der Verletzung von Sorgfaltsnormen im jeweils eigenen Bereich. Und schon gar nicht, wenn die Gefahren der Veranstaltung so auf die Stirn geschrieben sind, wie es hier der Fall war - denn Warnungen von kompetenter Seite gab es vorab schon hinreichend.
Dass sich alle irgendwie "Mühe gegeben" haben, woran allerdings anhand der Vorgeschichte des "Verwaltungsdesasters" Zweifel bestehen, und niemand der Angeklagten völlig sorglos war, rettet sie nicht vor dem Fahrlässigkeitsvorwurf: Nahezu sehenden Auges wurden im Vorfeld Sicherheitsbedenken über Bord geworfen, um diese Veranstaltung unbedingt zu ermöglichen (hierzu eindrücklich der FAZ-Podcast von Reiner Burger). Und an dieser Stelle kann man auch - die im Film thematisierte - Beteiligung der Polizei einordnen. Die Polizei hat vor Ort objektiv Fehler gemacht, aber die dafür verantwortlichen Beamten haben m. E. tatsächlich weniger (oder auch gar keine) strafrechtliche "Schuld" zu tragen, denn die wesentlichen Fehler wurden in der Vorbereitung/Planung und Genehmigungsphase gemacht, in der man alle Zeit und alle Möglichkeiten der Welt hatte, die Gefahren vorauszusehen und deren Verringerung zu bewerkstelligen. Wer NUR am Tag der Loveparade selbst handelte, dessen Schuld ist tatsächlich minimal. Diejenigen, die dafür sorgten, am Tag der Loveparade möglichst weit weg vom Geschehen zu sein, um ihren Sorgfalts- und Prüfpflichten ausweichen zu können, sollten hingegen ein besonders schlechtes Gewissen haben.
Dass die Haupt-Verantwortlichkeit bei denen lag, die die Veranstaltung so planten und genehmigten, ist zumindest ansatzweise im Film dokumentiert, in den - leider zu kurzen - Ausschnitten aus dem Gerlach-Interview.
2. Warum wurde das Gutachten nicht in den Prozess eingeführt?
Leider hat der Film auch eine weitere zentrale Frage nicht gestellt und schon gar nicht beantwortet: WARUM hat das Gericht das seit zwei Jahren fertige Gerlach-Gutachten nicht (mehr) in den Prozess einführen wollen, obwohl in den Monaten bis Juli 2020 dazu noch Zeit gewesen wäre? Warum hat das Gericht zwar Vieles aufgeklärt bzw. aufzuklären versucht, aber ist dann vor der ganz entscheidenden Aufklärung zurückgeschreckt? Der Eindruck, den der spanische Nebenkläger formuliert, die Corona-Situation habe nur als Vorwand gedient, drängt sich nun wirklich auf. Die Filmautoren hätten diese Frage dem Vorsitzenden und den Staatsanwälten stellen müssen.
3. Ein Fazit
Der Film ist sehenswert, es kommen sehr viele Personen zu Wort, insbesondere einige Nebenkläger (Angehörige der Opfer), ihre Vertreter, der Gutachter, ein Polizeibeamter und auch „Pizza-Manne“, der als Besucher der Love-Parade das eindrücklichste Video gedreht und veröffentlicht hat. Der Film ist eindrücklich in seiner Erinnerung an das Ereignis und wird den verschiedenen Menschen und ihren Sichtweisen gerecht. Aber die Dokumentation springt an den genannten beiden Punkten unkritisch zu kurz. Und das sind keine kleinlichen Mäkeleien.
Update (16.07. nachmittags)
Ich erhielt gerade den Hinweis auf eine Sendung des WDR (lokalzeit Duisburg), die eine etwas längere Interviewsequenz mit dem Gutachter Gerlach enthält. Zwei Dinge daran sind interessant:
1. Gerlach weist darauf hin, dass bis heute keine verbindlichen Regelungen existieren, die sich auf den Zugang zu Veranstaltungen beziehen, obwohl es an den deutlich zu geringen Dimensionen der Zugangswege gelegen habe, dass die Duisburger Loveparade zur Katastrophe wurde.
2. Nach seinen Computersimulationen hätte sich auf der Mitte der Rampe Ost zwischen den dort befindlichen Rest-Zäunen auch dann eine Blockade entwickelt, wenn die Polizeikette 3 dort gar nicht vorher eingezogen worden wäre, und dies mit "an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit". Das würde die Polizei an dieser Stelle noch stärker entlasten und auch das Argument der "Multikausalität" beeinträchtigen.
Hier die Kurzfassung des Gutachtens von Prof. Gerlach.
Interview: Henning Müller mit Lars Wienand von T-Online (24.07.2020)
Update (2. August 2020):
Hinweis auf den sehr gut gemachten Podcast der WAZ, in Folge 3 mit einem ausführlichen Gespräch mit dem Gutachter Prof. Gerlach, der die Ursachen und ihre Verquickung am Tag der Veranstaltung sehr klar erläutert. Wer hier seit zehn Jahren mitliest, wird nicht viel neues erfahren, aber wie Gerlach in klaren, knappen Worten, einschließlich immer wieder aus der Perspektive der Besucher-innen berichtend, die Entstehung der Katastrophe bzw. der Massenturbulenz schildert, ist sehr gelungen. Eine Empfehlung:
podcast WAZ zur Loveparade, Folge 3, "Das Gutachten einer Katastrophe"
-----------------------------------------------------------------------------------------
Hier folgen die Links zu den früheren Beiträgen und Diskussionen hier im Beck-Blog und zu weiteren wichtigen Informationen, die im Netz verfügbar sind:
Mai 2020: Loveparade 2010 - Einstellung des Verfahrens! (Ca. 3000 Aufrufe)
November 2019: Loveparade 2010 - doch keine Verjährung im Juli 2020 (ca. 3000 Abrufe)
Februar 2019: Loveparade 2010 - das letzte Kapitel des Verfahrens hat begonnen (ca. 8000 Abrufe)
Januar 2019: Loveparade 2010 - "The Art of the Deal" in der Hauptverhandlung? (ca. 10500 Abrufe)
Juli 2018: Loveparade 2010 in Duisburg - acht Jahre später (11 Kommentare, ca. 5100 Aufrufe)
Dezember 2017: Loveparade 2010 - die Hauptverhandlung beginnt (69 Kommentare, ca. 12800 Aufrufe)
Februar 2015: Was wird aus dem Prozess? (72 Kommentare, ca. 10600 Aufrufe)
August 2014: Zweifel am Gutachten (50 Kommentare, ca. 12000 Abrufe)
Februar 2014: Anklageerhebung (50 Kommentare, ca. 18300 Abrufe)
Mai 2013: Gutachten aus England (130 Kommentare, ca. 19100 Abrufe)
Juli 2012: Ermittlungen dauern an (68 Kommentare, ca. 16500 Abrufe)
Dezember 2011: Kommt es 2012 zur Anklage? (169 Kommentare, ca. 34000 Abrufe)
Mai 2011: Neue Erkenntnisse? (1100 Kommentare, ca. 45000 Abrufe)
Dezember 2010: Fünf Monate danach (537 Kommentare, ca. 31900 Abrufe)
September 2010: Im Internet weitgehend aufgeklärt (788 Kommentare, ca. 51200 Abrufe)
Ergänzend:
Link zur großen Dokumentationsseite im Netz:
speziell: Illustrierter Zeitstrahl
Link zur Seite von Lothar Evers: DocuNews Loveparade Duisburg 2010
Link zur Prezi-Präsentation von Jolie van der Klis (engl.)
Weitere Links:
Zur Veröffentlichung vorgesehene Kurzfassung des Gutachtens Prof. Gerlach
Artikelsammlung zur Loveparade auf LTO
Große Anfrage der FDP-Fraktion im Landtag NRW
Kurzgutachten von Keith Still (engl. Original)
Kurzgutachten von Keith Still (deutsch übersetzt)
Analyse von Dirk Helbing und Pratik Mukerji (engl. Original)
Multiperspektiven-Video von Jolie / September 2014 (youtube)
Interview (Januar 2013) mit Julius Reiter, dem Rechtsanwalt, der eine ganze Reihe von Opfern vertritt.
Blog des WDR zur Hauptverhandlung (Berichte über jeden Prozesstag)