§ 13 Abs. 3a SGB V: Alles Neu macht der Mai
Gespeichert von Prof. Dr. Christian Rolfs am
Heute mal ein kleiner Ausflug in das Sozialrecht, genauer: das Recht der gesetzlichen Krankenversicherung. Dort existiert mit § 13 Abs. 3a SGB V seit 2013 eine Vorschrift, deren bisherige Interpretation durch das BSG für viel Verdruss bei den Krankenkassen geführt hat.
(3a)1Die Krankenkasse hat über einen Antrag auf Leistungen zügig, spätestens bis zum Ablauf von drei Wochen nach Antragseingang oder in Fällen, in denen eine gutachtliche Stellungnahme, insbesondere des Medizinischen Dienstes, eingeholt wird, innerhalb von fünf Wochen nach Antragseingang zu entscheiden. 2Wenn die Krankenkasse eine gutachtliche Stellungnahme für erforderlich hält, hat sie diese unverzüglich einzuholen und die Leistungsberechtigten hierüber zu unterrichten. 3Der Medizinische Dienst nimmt innerhalb von drei Wochen gutachtlich Stellung. 4Wird ein im Bundesmantelvertrag für Zahnärzte vorgesehenes Gutachterverfahren gemäß § 87 Absatz 1c durchgeführt, hat die Krankenkasse ab Antragseingang innerhalb von sechs Wochen zu entscheiden; der Gutachter nimmt innerhalb von vier Wochen Stellung. 5Kann die Krankenkasse Fristen nach Satz 1 oder Satz 4 nicht einhalten, teilt sie dies den Leistungsberechtigten unter Darlegung der Gründe rechtzeitig schriftlich mit. 6Erfolgt keine Mitteilung eines hinreichenden Grundes, gilt die Leistung nach Ablauf der Frist als genehmigt. 7Beschaffen sich Leistungsberechtigte nach Ablauf der Frist eine erforderliche Leistung selbst, ist die Krankenkasse zur Erstattung der hierdurch entstandenen Kosten verpflichtet. 8Die Krankenkasse berichtet dem Spitzenverband Bund der Krankenkassen jährlich über die Anzahl der Fälle, in denen Fristen nicht eingehalten oder Kostenerstattungen vorgenommen wurden. 9Für Leistungen zur medizinischen Rehabilitation gelten die §§ 14 und 24 des Neunten Buches zur Koordinierung der Leistungen und zur Erstattung selbst beschaffter Leistungen.
Der 1. Senat des BSG war hier bislang sehr patientenfreundlich, hat das Fristenregime eng ausgelegt und, wenn die Fristen versäumt wurden, den Versicherten einen Anspruch auf Leistungen schon dann zugestanden, wenn die begehrte Behandlung nur irgendwie in Beziehung zum Leistungssystem der Gesetzlichen Krankenversicherung stand. Möglich war dann auch eine Behandlung, die man landläufig eher als Schönheitsoperation bezeichnen würde, durch einen nicht zugelassenen Leistungserbringer (zB reiner Privatarzt), mit einer nicht zugelassenen Behandlungsmethode und sogar im Nicht-EU-Ausland. Der Versicherte musste auch nicht in Vorleistung treten und sich auf einen Kostenerstattungsanspruch verweisen lassen, sondern konnte direkt auf die begehrte Leistung klagen. Dies alles auf Kosten der Gesetzlichen Krankenkassen, also letztlich der Pflicht-Beitragszahler (statt aller BSG vom 8.3.2016, NZS 2016, 464; vom 11.7.2017, BeckRS 2017, 122324; vom 7.11.2017, NZS 2018, 941; vom 11.9.2018, NZS 2019, 257). Neben viel Zustimmung gab es in Rechtsprechung und Literatur durchaus Kritik an dieser Linie des BSG (vgl. Rolfs/Witschen NZS 2020, 121, 127).
Mit dieser Großzügigkeit ist nun Schluss. Der seit Jahresbeginn personell neu besetzte 1. Senat des BSG hat mit Urteil vom 26.5.2020 gleich mehrere der früheren Entscheidungen über Bord geworfen und zeigt sich nun deutlich restriktiver. Das Gericht selbst fasst in seiner Pressemitteilung wie folgt zusammen:
Stellen Versicherte bei ihrer Krankenkasse einen Antrag auf Leistungen, muss die Krankenkasse hierüber innerhalb kurzer Fristen entscheiden. Versäumt sie diese Fristen, gilt die Leistung als genehmigt (§ 13 Absatz 3a Satz 6 SGB V). Wie der 1. Senat des Bundessozialgerichts am 26. Mai 2020 (Aktenzeichen B 1 KR 9/18 R) unter Aufgabe seiner früheren Rechtsprechung entschieden hat, begründet die Genehmigungsfiktion keinen eigenständigen Anspruch auf die beantragte Sachleistung.
Sie vermittelt dem Versicherten (nur) eine vorläufige Rechtsposition. Diese erlaubt es ihm, sich die Leistung selbst zu beschaffen. Das bewirkt die vom Gesetzgeber beabsichtigte Verfahrensbeschleunigung und sanktioniert verspätete Entscheidungen der Krankenkasse. Sie muss die Kosten der selbstbeschafften Leistung nämlich auch dann erstatten, wenn nach allgemeinen Grundsätzen der gesetzlichen Krankenversicherung kein Rechtsanspruch auf die Leistung besteht. Dies gilt allerdings nur dann, wenn der Versicherte im Zeitpunkt der Selbstbeschaffung "gutgläubig" war. Gutgläubig war er dann, wenn er weder Kenntnis noch grob fahrlässige Unkenntnis vom Nichtbestehen des Anspruchs hatte. Die eingetretene Genehmigungsfiktion ist kein Verwaltungsakt und schließt das Verwaltungsverfahren nicht ab. Die Krankenkasse ist deshalb weiterhin berechtigt und verpflichtet, über den Leistungsantrag zu entscheiden. Die durch die Genehmigungsfiktion eröffnete Möglichkeit der Selbstbeschaffung endet, wenn über den materiell-rechtlichen Leistungsanspruch bindend entschieden worden ist oder sich der Antrag anderweitig erledigt hat. Die bestandskräftige Entscheidung über den Leistungsantrag vermittelt dem Versicherten positive Kenntnis darüber, ob er die beantragte Leistung beanspruchen kann. Während eines laufenden Widerspruchs- oder Gerichtsverfahrens bleibt das Recht, sich die Leistung selbst zu beschaffen, erhalten, solange der Versicherte gutgläubig ist.
Dem lag folgender Sachverhalt zugrunde: Der bei der beklagten Krankenkasse versicherte Kläger beantragte zur Behandlung seiner Gangstörung die Versorgung mit dem Arzneimittel Fampyra. Dieses Medikament ist nur zur Behandlung einer Gangstörung bei Multipler Sklerose zugelassen; der Kläger leidet jedoch an einer anderen Krankheit. Die Beklagte lehnte den Antrag erst nach Ablauf der maßgeblichen Frist ab. Der Kläger hat sich das Medikament nicht selbst beschafft, sondern verlangt die zukünftige Versorgung im Wege der Sachleistung auf "Kassenrezept".
Die Vorinstanzen haben - gestützt auf die bisherige Rechtsprechung des 1. Senats zur Genehmigungsfiktion - die Beklagte verurteilt, den Kläger entsprechend ärztlicher Verordnung mit einem Arzneimittel zu versorgen. Das BSG hat das Urteil des Landessozialgerichts aufgehoben, weil sich allein aus der Genehmigungsfiktion kein Sachleistungsanspruch ergibt, und die Sache an das Landessozialgericht zurückverwiesen. Es bleibt nur ein möglicher Anspruch nach den vom Bundessozialgericht entwickelten Grundsätzen zum Off-Label-Use. Dazu hat das Landessozialgericht - nach seiner Rechtsauffassung folgerichtig - bisher keine Feststellungen getroffen.
BSG, Urt. vom 26.5.2020 - B 1 KR 9/18 R, Pressemitteilung hier.