Kommt jetzt die virtuelle Versammlungsfreiheit?
Gespeichert von Dr. iur. Fiete Kalscheuer am
Es ist eine Binse: Die Covid-19-Pandemie beschleunigt die Digitalisierung der Gesellschaft. Gemeint ist hiermit lediglich, dass die Nutzung digitaler Geräte und Anwendungen aufgrund der Pandemie stark zunimmt. Video- sowie Telefonkonferenzen ersetzen vielfach die physische Begegnung. Es drängt sich die Frage auf, ob es nunmehr nicht noch mehr angebracht ist als bisher, Regeln und Prinzipien, die für die physische Welt entwickelt worden sind, auf die virtuelle Welt zu übertragen. Klar ist dabei: Dieser Übertragungsvorgang ist bereits im vollen Gange. So ist mittlerweile in der Rechtsprechung anerkannt, dass Hoheitsträger nicht ohne Weiteres Twitter-Nutzer blockieren oder Facebook-Nutzer sperren dürfen. Stattdessen unterliegen Hoheitsträger hierbei einem virtuellen (oder digitalen) Hausrecht. Rechtmäßig ist der Erlass des (virtuellen) Hausverbots daher nur dann, wenn sich der Hoheitsträger bei seiner Entscheidung von sachgerechten Erwägungen leiten lässt, und der Hoheitsträger sowohl im Hinblick auf das „Ob“ als auch das „Wie“, also der Ausgestaltung des Verbots, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet.
Bietet es sich vor diesem Hintergrund nicht auch an, Art. 8 GG, die Versammlungsfreiheit, auf die virtuelle Welt zu übertragen? – Die Kommentarliteratur ist diesbezüglich skeptisch, was allerdings auch daran liegen mag, dass die GG-Standardkommentare in der Regel noch keine Personen schreiben, die mit und in der virtuellen Welt aufgewachsen sind. So lässt sich die Auffassung, ein Internet-Diskussionsforum sei eher mit einer Telefonkonferenz vergleichbar, die ebenfalls nicht der Versammlungsfreiheit unterfalle, nur schwer mit der Twitter-Wirklichkeit in Einklang bringen, in der sich häufig Diskutanten unter einem gemeinsamen (politischen) Hashtag (machtvoll) versammeln. Vertreten wird die genannte Auffassung etwa von Depenheuer im Maunz/Dürig-Kommentar unter Art. 8 GG Rn. 45.
Nicht nur auf den ersten Blick, sondern auch auf den zweiten scheinen hingegen ebenso bei einer virtuellen politischen Diskussion die Voraussetzungen einer Versammlung gegeben zu sein: Eine Versammlung ist nach der Grunddefinition eine
Zusammenkunft mehrerer Personen zu einem gemeinsamen Zweck.
Streitig sind bezüglich dieser Grunddefinition nicht nur der hier problematische Begriff der Zusammenkunft, sondern ebenso die notwendige Anzahl der Personen und die Art des Zwecks. Es ist dabei nicht einleuchtend, für den Begriff der Zusammenkunft zwingend eine körperliche Anwesenheit vorauszusetzen.
Die berechtigte Frage lautet aber: Was ist dadurch gewonnen, wenn man virtuelle politische Diskussionen als Versammlungen im Sinne von Art. 8 GG anerkennt? – Zum einen würde dies den heutigen Stellenwert virtueller politischer Diskussionen verdeutlichen; zum anderen müsste aber etwa das NetzDG an die Vorgaben des Art. 8 GG angepasst werden. So wäre z.B. auch im NetzDG - entsprechend der Regelung in Art. 8 Abs. 2 GG - zwischen (virtuellen) politischen Diskussionen ohne individueller Zugangskontrolle (Versammlungen unter freiem Himmel) und mit individueller Zugangskontrolle (geschlossene Chaträume) zu unterscheiden.
Kurz gesagt: Übertragt man die Versammlungsfreiheit auf die virtuelle Welt, so ist einiges an Anpassungsarbeit zu leisten. Diese Arbeit lohnt sich aber, da nur so dem Stellenwert der virtuellen Welt angemessen entsprochen wird.