Grundgesetz und Ausgangssperre
Gespeichert von Dr. iur. Fiete Kalscheuer am
Souverän ist, wer über die Ausgangssperre entscheidet. Das liest sich gut, - schön raunend. Der Satz stimmt aber nicht. Im Verfassungsstaat gibt es keinen Souverän: "Im Verfassungsstaat gibt es nur Kompetenzen, die vom vorgegebenen Verfassungsrecht umgrenzt sind. Die Staatsgewalt ist auf Organe verteilt, und jedes Organ hat nur diejenige Rechtsmacht, die ihm von der Verfassungsordnung zugewiesen ist" (Martin Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 112). So verhält es sich auch hier. Die Bundeskompetenz zum Erlass eines Infektionsschutzgesetzes (IfSG) folgt aus Art. 74 I Nr. 19 GG. Es handelt sich hierbei nicht um einen Fall der Bundesauftragsverwaltung (Art. 85 GG), sondern um ein Gesetz, das nach Art. 83 f. GG von den Ländern in eigener Angelegenheit ausgeführt wird. Dies bedeutet, dass der Bund in diesem Falle kein umfassendes Weisungsrecht hat.
Rechtsgrundlage für die Ausgangssperre ist nach der derzeitigen Rechtslage § 28 I 2, 1 IfSG. Danach kann die zuständige Behörde unter bestimmten Voraussetzungen Veranstaltungen oder sonstige Ansammlungen einer größeren Anzahl von Menschen beschränken oder verbieten; sie kann auch Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte nicht zu betreten, bis die notwendigen Schutzmaßnahmen durchgeführt worden sind.
Es ist schwer vorstellbar, dass diese weite Rechtsgrundlage mit dem Parlamentsvorbehalt und der Wesentlichkeitstheorie vereinbar ist. Die Wesentlichkeitstheorie hat zwei Funktionen: Die Wesentlichkeit einer Maßnahme bestimmt zunächst, ob überhaupt eine (formell-)gesetzliche Regelung erforderlich ist. Steht - wie hier - fest, dass ein Gesetzesvorbehalt besteht, ist die "Wesentlichkeit" darüber hinaus aber auch Maßstab dafür, wie detailliert die gesetzliche Regelung sein muss. Die Anforderungen an die Detailliertheit steigen dabei proportional mit dem Ausmaß oder der Schwere der Betroffenheit aufseiten des Einzelnen oder der Allgemeinheit. Vorliegend lässt sich kaum bestreiten, dass der Einzelne und die Allgemeinheit schwer von einer Ausgangssperre betroffen sind, sodass die Einzelheiten einer Ausgangssperre detailliert im Parlamentsgesetz geregelt sein müssen.
Ist eine Ausgangssperre daher nach derzeitiger Rechtslage rechtswidrig? - Nein. Hier lässt sich mit dem sog. Chaosgedanken argumentieren. Das BVerwG führt hierzu etwa in der Haar- und Barterlass-Entscheidung vom 31.01.2019 (1 WB 28.17) aus, man könne sich für einen Übergangszeitraum auf eine rechtswidrige (oder unzureichende) Rechtsgrundlage stützen, wenn ansonsten ein Zustand entstünde, der von der verfassungsmäßigen Ordnung noch weiter entfernt ist als die bisherige Lage. Dies trifft hier zu, bedeutet aber nicht, dass der Bundesgesetzgeber nicht zügig eine hinreichend detaillierte gesetzliche Grundlage für eine Ausgangssperre schaffen sollte.