"Freiwillige" Kontrolle von Schülerhandys?
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Ein Fall in einer hessischen Kleinstadt hat – für die Ermittler wohl unerwartet – eine breite Diskussion im Netz ausgelöst.
Hintergrund ist der Verdacht einer nicht näher bezeichneten Sexualstraftat an einer Schülerin, die vom Täter bzw. den Tätern gefilmt worden sein soll. Es bestand offenbar der Verdacht, dass dieser Film unter Schülern eines hessischen Gymnasiums verbreitet wurde. (Quelle: Usinger Anzeiger, 5.2.20, Pressemitteilung der Polizei vom 31.01.)
Die polizeilichen Ermittler gingen in die betr. Schulklassen ( 6. bis 8. Klasse, hier: FAZ) und forderten die Schüler auf, ihre Handys/Smartphones zu entsperren und für eine Durchsicht zur Verfügung zu stellen. So sollte wohl festgestellt werden, ob sich der Verdacht, das Video sei unter den Schülern verbreitet worden, bestätigen ließ. Ggf. sollte auch die weitere Verbreitung verhindert werden.
Eltern einiger der betroffenen Schüler äußerten im Netz (u.a. auf Twitter) ihr Unverständnis. Sie seien vorab nicht gefragt oder informiert worden. Dass die Herausgabe der Telefongeräte durch die Schüler wirklich „freiwillig“ erfolgt sei, stellten sie in Frage.
Im Usinger Anzeiger wird die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt a.M heute so zitiert:
"Tatsächlich ist es so, dass die Durchsicht auf freiwilliger Basis eine normale strafprozessuale Maßnahme und ein gebilligtes Mittel der Durchsuchung ist" sagte der Vertreter der Frankfurter Generalstaatsanwaltschaft im Gespräch mit dem UA. Und diese Maßnahme sei angesichts einer Sexualstraftat auch entsprechend verhältnismäßig." Da der Staatsanwaltschaft noch nicht bekannt ist, um welche Form von sexuellen Übergriff es geht, kann damit alles gemeint sein: von einer einfachen unsittlichen Berührung bis hin zu der Vergewaltigung in einer Gruppe. Gerade in einem solchen Fall kann schnelles Handeln mitunter unerlässlich sein, um zu verhindern, dass sich strafrechtlich relevante Videos weiterverbreiten."
(Quelle: Usinger Anzeiger vom 7.2.2020)
Zumindest auf Twitter wurde jedoch auch unter Juristen heftig diskutiert, ob die polizeiliche Maßnahme rechtmäßig gewesen sei.
Max Ballauf und Freddy Schenk vom Kölner Tatort hätten wohl nicht lange gefackelt und sich das Smartphone eines irgendwie beteiligten Jugendlichen einfach gegriffen und nachgeschaut. In der polizeilichen Wirklichkeit müssen Ermittlungsbeamte wissen, dass es so einfach nicht ist: Das Smartphone ist mittlerweile als umfassendes Kommunikations-, Speicher- und elektronisches Allroundmedium das Werkzeug, das die alltäglichen Aktivitäten, Kontakte und Lebensgewohnheiten eines Menschen am besten wiedergibt: Es enthält Notizen, Kalender, Telefondaten, Chats und die Bedienungsdaten von Apps verschiedenster Funktionen. Es ist daher viel mehr als ein bloßes Telefon mit Fotoapparat und neben den unzähligen banalen Daten sind darauf bei vielen Menschen, und gerade bei pubertierenden Schüler-inne-n, private und initime Daten gespeichert, die teilweise auch über das hinausgehen, was immer noch kontroverser Gegenstand der „Tagebuch“-Diskussion über Beweisverwertungsverbote ist. Fazit: Einfach so polizeilich sich das Handy geben lassen um „mal zu gucken“, ob sich dort irgendeine ermittlungsrelevante Tatsache findet, das geht nicht.
Dass sich eine solche Maßnahme (allein) auf § 160 StPO stützen lässt, ist daher zu verneinen. Für die „Durchsicht“ eines Smartphone -Speichers (etwa Chatverläufe und Fotogalerien), selbst wenn dies nur oberflächlich geschieht und nicht in sachverständiger Weise (aufwändige Komplettuntersuchung unter Einbezug z.B. früher gelöschter Daten), bedarf es einer hinreichend bestimmten konkreten Rechtsgrundlage. Es liegt nahe, diese in § 94 Abs.2 StPO zu sehen, zumal, jedenfalls bei beschlagnahmten Computern sich die Rechtsgrundlage für die „Durchsicht von … elektronischen Speichermedien“ in einer gesonderten Norm, § 110 StPO, in demselben Abschnitt der StPO befindet. Dem Gesetzgeber war also die Problematik bekannt. § 94 Abs.2 sieht jedoch vor, auf die förmliche Beschlagnahme von Gegenständen, die als Beweismittel von Bedeutung sein können, zu verzichten, wenn diese "freiwillig" herausgegeben werden. Ob damit auch alle anderen Kautelen der förmlichen Beschlagnahme derogiert werden können, ist m.E. zu bestreiten, aber es ist eine Frage, auf die die Kommentarliteratur mE nur unzureichend Antwort gibt. Aber jedenfalls das Verhältnismäßigkeitsprinzip wird schon für die bloße Aufforderung zur Herausgabe gelten müssen.
Auch ob die „Freiwilligkeit“ bei strafprozessualen Ermittlungsmaßnahmen mit der nach § 51 i.V.m. § 46 Nr.17 BDSG für Datenerhebungen erforderlichen „Einwilligung“ identisch ist, wird kontrovers beurteilt. Teilweise wird bestritten, dass § 51 BDSG überhaupt für die bloße visuelle Durchsicht eines Smartphonespeichers Geltung habe, denn diese stelle selbst noch keine Datenverarbeitung dar, gehe derselben allenfalls voraus. Andere meinen, das BDSG gelte ohnehin nicht für strafprozessuale Maßnahmen, die in der StPO ihre (abschließende) Regelung fänden.
Nach längerem Nachdenken meine ich, dass sich aus dem § 51 BDSG für diesen Fall keine spezifischen Einschränkungen ergeben: Ich bitte ggf. die datenschutzrechtlich gebildeteren Leser um ihre Argumente und Einwände in der Diskussionsspalte (siehe jetzt unten den Kommentar von Tobias Singelnstein und meine Antwort).
Wird man im vorliegenden Fall die Freiwilligkeit des Gewahrsamsinhabers als Mindestvoraussetzung ansehen, dann kann man aus zwei Gründen im vorliegenden Fall an der Voraussetzung „freiwillig“ zweifeln:
1. Die Situation, in der die „freiwillige“ Herausgabe einschl. Entsperrung der Geräte gefordert wurde, schien eine Weigerung nicht zuzulassen, denn ggf. mussten die Smartphone-Besitzer damit rechnen, dass man ihnen das Smartphone dann beschlagnahmt mit weit ausgeprägteren praktischen Folgen (wochenlanges Warten auf Rückgabe dieses heute nahezu lebenswichtigen Geräts) . Aber dieses Herausgabemotiv – Vermeidung einer Beschlagnahme – ändert nach allg. Auffassung nichts an der Freiwilligkeit der Herausgabe. Dies zeigt natürlich auch, dass die Freiwilligkeit ggf. nur eine Arbeitserleichterung für die Strafverfolgungsbehörden bedeutet, aber nichts mit der Bedeutung zu tun hat, die die meisten juristischen Laien damit verbinden.
Bei einem Smartphone handelt es sich aber nicht um ein offenkundiges (mögl.) Beweismittel wie etwa ein Tatwerkzeug (Messer), ein Glas mit Fingerabdrücken o.ä. Daher kann es leicht vorkommen, dass sich ein freiwillig sein Telefon herausgebender Schüler gar nicht bewusst ist, welchen Zugriff auf sein Privatleben er den Verfolgungsbehörden damit gewährt. Und ebenso leicht kann es sein, dass sich ein Polizeibeamter oder ein Staatsanwalt gar keine Gedanken über die Verhältnismäßigkeit macht, wenn sie darum bitten, ein Smartphone "freiwillig" herauszugeben. Ist ja auch gar nicht nötig, denn was freiwillig herausgegeben wird, bedarf keiner näheren juristischen Prüfung. Die wäre ja erst bei einer Weigerung nötig und würde dann möglicherweise auch zu einem anderen Ergebnis führen.
2. Es handelte sich bei den Gewahrsamsinhabern um Minderjährige.
Ob der möglicherweise schon strafmündige, aber jedenfalls noch minderjährige Gewahrsamsinhaber eine solche (ausdrückliche oder konkludente) Erklärung überhaupt allein „freiwillig“ abgeben kann, ist umstritten. Während Gerhold (BeckOK StPO § 94 Rn.16) generell das Einverständnis des gesetzlichen Vertreters für erforderlich hält, lässt die Mehrheit der Kommentare die Freiwilligkeit des Minderjährigen genügen, sofern er verfügungsberechtigt ist (z.B. Meyer-Goßner/Schmitt § 94 Rn. 12; LR-Menges § 94 Rn.35). Nach Eisenberg (Beweisrecht Rn. 2330c) schließlich soll regelmäßig die Einwilligung des verständigen minderjährigen Gewahrsamsinhabers den Ausschlag geben. Allerdings beziehen sich alle diese Kommentierungen auf § 94 insgesamt und damit generell auf alle Gegenstände, nicht speziell auf Smartphones. Ein bereits strafmündiger Jugendlicher, über dessen private und intime Aktivitäten auf dem Computer oder Smartphone wahrscheinlich nur er selbst Bescheid weiß, muss über die Herausgabe des Telefons mitentscheiden können, aber ohne dass dadurch die Schutzfunktion der Erziehungsberechtigten ausgehebelt wird. Deshalb müssen diese m.E. zusätzlich ihr Einverständnis geben, wenn der Jugendliche zur Herausgabe bereit ist. Der Einwand, dies werfe ggf. erhebliche praktische Probleme auf, muss demgegenüber zurücktreten: Gibt der Jugendliche sein Smartphone freiwillig heraus, muss dann eben vor der Durchsicht auch noch ein Erziehungsberechtigter zustimmen; dieser kann in der Regel angerufen werden. Ein solcher Anruf entfällt, wenn der Jugendliche ohnehin nicht zur freiwilligen Herausgabe bereit ist.
Merkwürdig erscheint mir, dass es einerseits hieß, die Polizei habe sich diese Maßnahme in dem Neu-Anspacher Gymnasium vorab von der Staatsanwaltschaft genehmigen lassen (FAZ vom 6.2.), doch die GenStA noch immer davon spricht, man wisse gar nicht „um welche Form des sexuellen Übergriffs“ es sich handele (Usinger Anzeiger, wie oben zitiert). Für eine Entscheidung über die Maßnahme ist aber die (vermutete) Schwere der Tat enorm wichtig.
Auch weitere Fragwürdigkeiten in diesem Fall müssen im Prinzip über das Verhältnismäßigkeitsprinzip verhandelt werden. War die konkrete Tat so schwer, dass damit ggf. Eingriffe in die Intimsphäre einer großen Gruppe von Schülern legitimiert werden konnte? Erfolgte die Durchsicht mit „größtmöglicher Zurückhaltung“, die das BVerfG (BVerfGE 80, 367, 375) als geboten ansieht, wenn ein Verwertungsverbot in Betracht kommt, insbes. bei höchstpersönlichen Eintragungen/Notizen/Fotografien, die die Intimsphäre des Inhabers betreffen, und im Smartphonespeicher keine Seltenheit sind?
Die Beantwortung dieser Fragen ist angesichts der (noch) nicht völlig bekannt gewordenen Einzelheiten an dieser Stelle nicht möglich.