„u n v e r ä n d e r t“ – Zur politischen Entscheidung für die Beibehaltung der Verfassungs- und Europarechtswidrigkeit des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes
Gespeichert von Prof. Dr. Marc Liesching am
Die von Herrn Maas als „Klarstellungen“ und von Journalisten als „Durchbruch“ oder „Kompromiss“ bezeichneten marginalen Änderungsvorschläge des NetzDG berühren die bisherigen Kritikpunkte der Verfassungs- und Europarechtswidrigkeit nicht. Teilregelungen und Äußerungen in der neuen Entwurfsbegründung offenbaren Praxisferne und Sachunkenntnis, insbesondere über Grundlagen und Funktionsweise der regulierten Selbstregulierung. Nach dem Scheitern einer sachverstandsoffenen parlamentarischen Kontrolle bewendet es dabei, dass voraussichtlich erst das Bundesverfassungsgericht das NetzDG stoppen wird.
I. Wesentliche Änderungsvorschläge
Die nunmehr durch Fachpolitiker der Koalitionsfraktionen vorgeschlagenen Änderungen betreffen im Wesentlichen eine geringfügige Verengung des Begriffs der sozialen Netzwerke und der erfassten Anbieter sowie eine ausnahmsweise Abweichung von den Löschfristen (7 Tage). Letzteres soll nun insbesondere dann möglich sein, wenn „das soziale Netzwerk die Entscheidung über die Rechtswidrigkeit innerhalb von 7 Tagen nach Eingang der Beschwerde einer (…) anerkannten Einrichtung der Regulierten Selbstregulierung überträgt und sich deren Entscheidung unterwirft“. Die Anerkennung der Selbstkontrolleinrichtung soll staatlich durch das Bundesamt der Justiz erfolgen, die Entscheidungsgremien sollen nach der Entwurfsbegründung „plural besetzt werden unter Einbeziehung der (…) zuständigen Aufsichtsbehörden (Landesmedienanstalten)“. Die Regelung orientiere sich damit an § 19 des Jugendmedienschutz-Staatsvertrages (JMStV).
Die ausnahmsweise Abweichung gilt weiterhin nicht für so genannte „offensichtliche Fälle“, welche nach wie vor von den Betreibern innerhalb von 24 Stunden zu löschen sind. Was „offensichtlich“ ist, wird nach wie vor nicht im Gesetz geregelt und bleibt auch in der Begründung unklar. Auch für die übrigen, nicht „offensichtlich“ rechtswidrigen Inhalte bewendet es im Regelfall bei der 7 Tage Frist („in der Regel“). Auch die erheblichen Bußgelddrohungen bleiben unverändert und werden durch einen neu eingefügten weiteren Tatbestand in § 4 Abs. 1 Nr. 8 nochmals verschärft.
Darüber hinaus sieht der Änderungsvorschlag einen anderen Berichtsturnus (nunmehr sechs Monate statt vormals drei Monate), Ausweitungen der Vorschriften zum inländischen Zustellungsbevollmächtigten sowie etwas höhere Anforderungen bei der Bestandsdatenauskunft nach § 14 TMG durch Anfügung der Absätze 3 bis 5 (Erforderlichkeitsklausel, gerichtliche Anordnung, Beteiligtenhinzuziehung des Diensteanbieters), vor.
II. Perpetuierung der Verfassungswidrigkeit
Die vielfältigen verfassungsrechtlichen Bedenken, welche das NetzDG – etwa auch unter dem Gesichtspunkt der Gesetzgebungskompetenz – aufwirft, wurden mittlerweile in mehreren Gutachten und Sachverständigenaussagen und zum Teil auch durch den wissenschaftlichen Dienst des Bundestages dargelegt. M.E. ändern die nunmehr vorgeschlagenen Änderungen hieran nichts.
Konzentrieren möchte ich mich in diesem Blog auf die bereits anderweit ausgeführten Aspekte des NetzDG, welche die Meinungsäußerungs- und die Informationsfreiheit sowie die Rundfunk- und Pressefreiheit verletzen. Denn gerade hier soll nun vermeintlich der „Kompromiss“ der Einführung einer „regulierten Selbstregulierung“ Abhilfe schaffen. Dies ist freilich nicht der Fall, da die Kombination der Löschpflichten mit engen Fristen und exorbitanten Bußgelddrohungen gerade erhalten bleibt. Die Ausnahmeregelung der Konsultation einer Selbstkontrolleinrichtung ändert aufgrund der folgenden Aspekte nichts:
Zunächst unterliegt die nach dem Entwurf angedachte Etablierung selbst verfassungsrechtlichen Bedenken. Dies ergibt sich daraus, dass die Selbstkontrolle (mit vorgesehener eigener Beschwerdestelle) nicht staatsfern etabliert werden kann, da die Anerkennung unmittelbar durch das Bundesamt für Justiz erfolgt. Nach dem JMStV erfolgt die Anerkennung der Selbstkontrollorganisationen in verfassungskonformer Weise durch das staatsferne Gremium der KJM als Organ der Landesmedienanstalten. Das Bundesamt kann eine Anerkennung bei einem ausgemachten "Missstand" jederzeit widerrufen.
Für den Fall der tatsächlichen Konsulation der Selbstkontrolleinrichtung ergeben sich für die Netzwerkbetreiber weitere Rechtsunsicherheiten und Bußgelddrohungen. Die Entwurfsbegründung macht hieraus auch keinen Hehl, soweit es im Wortlaut heißt: "Wenn soziale Netzwerke Entscheidungen zum Entfernen oder Sperren an die Einrichtung abgeben, obwohl die Voraussetzungen hierfür nicht gegeben sind, z.B. bei offensichtlicher Rechtswidrigkeit des Inhalts (...) so ist dieses Verhalten mit der Compliance-Vorgabe nach § 3 Abs. 2 Nr. 3 nicht vereinbar und kann, wenn sich hier ein systemischer Mangel des Netzwerks offenbart, Grundlage für ein Bußgeld nach § 4 Absatz 1 Nummer 2 NetzDG-E sein".
Zudem sollen die Entscheidungsgremien der zu schaffenden Selbstkontrolle „unter Einbeziehung der zuständigen Aufsichtsbehörden (Landesmedienanstalten)“ besetzt werden. Es scheint gar nicht bekannt zu sein, dass die Landesmedienanstalten selbst gegenüber den Netzwerkbetreibern bei Verletzungen gegen §§ 86, 86a, 130, 131, 184b i.V.m. § 184d StGB Bußgelder nach § 24 JMStV verhängen können und damit staatlich repressiv gegen die Anbieter vorgehen. Die Landesmedienanstalten sind nach dem JMStV nicht Teil der Selbstkontrolle, sondern sitzen auf der anderen Seite, namentlich der staatlichen Aufsicht mit Sanktionsmöglichkeiten gegen Diensteanbieter. Möglicherweise aufgrund der Eile des parlamentarischen Prozesses ist es hier nicht gelungen, die offenkundige Konfusion darüber auszuräumen, was regulierte Selbstregulierung nach dem JMStV überhaupt ist.
Entsprechend passt es nicht, dass der Änderungsentwurf in der Begründung fordert, dass die Gremien der Selbstkontrolle „plural“ besetzt sein sollen. Eine pluralistische Besetzung (z.B. durch Kirchenvertreter, Jugendhilfe, Bildungseinrichtungen etc.) macht nur Sinn, wenn über Jugendschutzfragen im Verfassungsrang entschieden wird, da Jugendschutzwertungen nach dem BVerfG dem gesellschaftlichen Wandel unterliegen. Beim NetzDG geht es nicht um Jugendschutzwertungen, sondern ausschließlich um die Subsumtion von diffizilen Straftatbeständen, über die keine Rechtslaien als Vertreter gesellschaftlicher Gruppen entscheiden können.
Die einzige Möglichkeit ist es, die Gremien der Selbstkontrolle durch im Medienstrafrecht qualifizierte Juristen zu besetzen. Nur dann kann deren Entscheidung auch die gewünschte Rechtssicherheit und -klarheit bringen und ausschließen, dass in einem späteren Strafgerichtsverfahren das Gegenteil herauskommt. Sind die Selbstkontrollentscheidungen aber von qualifizierten Juristen zu treffen, ist offenkundig, dass aufgrund der schieren Masse der Beschwerden die Selbstkontrolle allenfalls bei Einzelfällen im Promillebereich konsultiert werden wird. Überdies ist schon fraglich, ob angesichts der erheblichen Kosten für Juristenausschüsse überhaupt eine praktische Etablierung und Konsultation erfolgen wird oder ob Wirtschaftsunternehmen wie Facebook oder Google nicht gleich bei einer Inhouse- (bzw. Arvato-) Prüfung mit Löschung im Zweifelsfall bleiben.
Die allermeisten Fälle werden jedenfalls weiterhin durch die Netzwerkbetreiber entschieden werden müssen. Um Vorwürfe eines nicht effektiven Löschverfahrens mit Bußgeldahndungen bis zu 50 Millionen weitgehend auszuschließen, bewendet es daher bei der Löschung im Zweifelsfall, spätestens nach Ablauf der 7 Tage. Auch hier ist nochmals darauf hinzuweisen, dass in der Praxis wenigstens 90% der Beschwerdefälle rechtlich unklar sein dürften, weil die Straftatbestände mit unbestimmten Rechtsbegriffen gespickt sind und Rechtfertigungstatbestände etwa des § 86 Abs. 3 StGB i.V.m. §§ 86, 86a, 130 oder des 193 StGB geprüft werden müssen; von der Rechtfertigung durch entgegenstehende Verfassungsgüter der Satire- und Kunstfreiheit ganz abgesehen.
Es führt mithin in die Irre, wenn der Änderungsentwurf vorgibt, dass „in der Regel“ nach 7 Tagen für die Netzwerkbetreiber klar sei, ob gelöscht werden muss oder nicht. In der Regel ist dies auch nach mehreren Wochen für die Netzwerkbetreiber in der überwiegenden Mehrzahl der Beschwerden nicht hinreichend rechtssicher zu beantworten. Herr Maas selbst gelangte mit seiner Einschätzung des Böhmermann-Falls zugunsten der Presse- und Meinungsfreiheit zu einer diametral anderen Einschätzung als später die Gerichte. Im Medienstrafrecht und Äußerungsrecht sind solche Konstellationen indes der Regelfall, nicht die Ausnahme. Für all diese Fälle kann und wird aber kein Juristenausschuss einer Selbstkontrolleinrichtung angerufen werden.
Von erheblicher verfassungsrechtlicher Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, dass im NetzDG auch die 24-Stunden-Löschfrist bei so genannten „offensichtlichen“ Fällen beibehalten wird. Diese Fälle "offensichtlicher" Rechtswidrigkeit dürfen in keinem Fall an Selbstkontrolleinrichtungen abgegeben werden, im Verstoßfalle drohen weitere Bußgelder (siehe oben). Wann das BMJV oder das Bundesamt der Justiz von einem offensichtlichen Fall im Nachhinein ausgehen wird, können die Netzwerkbetreiber nicht wissen. Auch die neuerliche Entwurfsbegründung lässt offen, was „offensichtlich“ sein soll. Beispiele werden nicht genannt. Eine „Präzisierung“ ergebe sich nach der Entwurfsbegründung „anhand der Frist von 24 Stunden“ (!). Difficile est saturam non scribere. Im Übrigen könne man nach der Entwurfsbegründung auf Erfahrungen aus der Rechtspraxis bei anderen Bestimmungen mit dem Begriff „offensichtlich“ zurückgreifen. Benannt wird § 101 Abs. 2 UrhG, der freilich gar keine öffentlich-rechtliche Anbieterpflicht mit Straf- oder Bußgelddrohung zum Gegenstand hat, sondern einen Auskunftsanspruch. Näherliegender wäre ein Blick auf § 15 Abs. 2 Nr. 5 JuSchG gewesen, der über § 27 JuSchG die Verbreitung „offensichtlich“ schwer jugendgefährdender Medien unter Strafe stellt. Da auch hier keiner weiß, was „offensichtlich“ ist, ist die Vorschrift seit Jahrzehnten so gut wie nie von Strafverfolgungsbehörden angewandt worden. Auch die KJM wendet die vergleichbare Regelung in § 4 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 JMStV faktisch nicht an, da im Grunde nichts „offensichtlich“ ist im Jugendmedienschutz.
Da auch nach den Änderungsvorschlägen die Netzwerkbetreiber erheblichen Bußgelddrohungen ausgesetzt bleiben werden, ohne auf der Tatbestandsseite Klarheit zu haben, wann die Bußgeldahndung aufgrund eines nicht effektiven Beschwerde- und Löschverfahrens erfolgen könnte, wird es zwangsläufig zu einer breitflächigen Löschung im Zweifelsfall kommen müssen. Denn nur so kann ein wirtschaftliches Unternehmen das enorme ordnungsrechtliche Haftungsrisiko minimieren. Die Maas´schen Beteuerungen, es gehe nicht um Einzelfälle, in denen mal falsch entschieden werde, sondern nur um ein systemisches Versagen des Löschverfahrens, sind im sokratischen Sinne lauter Wind. Denn schon der Missstand bei sozialen Netzwerken, den der Minister ausgemacht zu haben glaubt und der ihn zu eiligem Aktionismus bewogen hat, wird nur auf Einzelfälle gestützt, die in einem Monitoring-Bericht einer Jugendschutzstelle aufgeführt sind. Natürlich kann auch nach Inkrafttreten des NetzDG ein „systemisches Versagen“ und eine Bußgeldahndung wiederum nur so begründet werden, dass in mehreren Einzelfällen nicht gelöscht worden sei. Wie also handeln als betroffener Netzwerkbetreiber? – Es bleibt nur die Löschung im Zweifelsfall.
Auch die zweite, in den letzten Tagen vermehrt vorgetragene Plattitüde „Das Internet ist kein rechtsfreier Raum“, ist kein Argument für das NetzDG, sondern führt in die Irre. Das Internet war noch nie ein rechtsfreier Raum und wird es auch nie sein. Strafrechtsverstöße in sozialen Netzwerken können seit jeher im Falle zu später Löschung nach § 10 TMG sanktioniert werden. Zuständig sind hierfür die Strafjustiz und bei Jugendschutzverstößen die KJM bzw. die Landesmedienanstalten. Sofern die zuständigen Stellen nicht tätig werden, ist dies kein Defizit des geltenden Rechts, sondern des Vollzugs. Hierfür zeichnet im Strafrecht das BMJV selbst verantwortlich. Die referenzierte, von mehreren Politikern geäußerte Phrase „Das Internet ist kein rechtsfreier Raum“ stimmt. Sie ist de lege lata Realität und legitimiert gerade deshalb keinen rechtspolitischen Exzess im Sinne einer Privatisierung des Strafrechts. Ihrer so häufigen Artikulierung ist das Postulat entgegenzuhalten, dass die Sachpolitik gerade im parlamentarischen Prozess nicht zum verfassungs- und sachverstandsfreien Raum werden darf, auch nicht im Bundestagswahlkampf.
Verfassungswidrig bleibt der Entwurf des NetzDG im Übrigen auch aufgrund der Missachtung des Gleichbehandlungsgebotes nach Art. 3 GG. Die Unterscheidung, welche Netzwerkbetreiber den erheblichen wirtschaftlich belastenden Restriktionen unterfallen und welche nicht, erfolgt weiterhin nicht an Sachkriterien. Insbesondere ist die Zahl der (registrierten) Nutzer keine sachliche Unterscheidung, da Netzwerkbetreiber mit 1,9 Millionen Nutzern wirtschaftlich wesentlich potenter sein können als Netzwerke mit z.B. 2,1 Millionen Nutzern, von denen möglicherweise 500.000 so genannte Karteileichen sind (registrierte, aber längst nicht mehr aktive Nutzer).
III. Weiterhin klare Europarechtswidrigkeit
Die von mehreren Kollegen – auch in der Anhörung des Rechtsausschusses – erläuterte Europarechtswidrigkeit des NetzDG wird durch die Änderungen nicht tangiert. Entsprechend wird insbesondere die europarechtliche Problematik der Umgehung des Herkunftslandprinzips in dem jetzigen Änderungsvorschlag mit den Beschlüssen des Rechtsausschusses nicht einmal erwähnt. Erst recht wird sie nicht beseitigt.
IV. Schluss
Der in dem Entwurf zur Änderung des NetzDG-E am häufigsten verwendete Terminus lautet „ u n v e r ä n d e r t“. Dies ist auch auf die dem Gesetz nach wie vor auf die Stirn geschriebene Verfassungs- und Europarechtswidrigkeit zu beziehen. Vor diesem Hintergrund gibt das NetzDG am Ende doch einen konkretisierenden Hinweis darauf, was "offensichtlich" rechtswidrig sein könnte, namentlich das Gesetz selbst.