War es wirklich Mord? Zum Urteil des LG Berlin im Fall des tödlichen Autorennens auf dem Kurfürstendamm
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Das LG Berlin hat heute die beiden Beteiligten an einem für einen unbeteiligten Autofahrer tödlich verlaufenen Autorennen auf dem Kurfürstendamm des Mordes schuldig gesprochen und zur lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt.
Vorausschicken möchte ich meiner hier erst einmal knappen Kritik, dass ich mich wie auch andere Straßenverkehrsexperten bereits vor einigen Jahren dafür ausgesprochen habe, die Teilnahme an illegalen Kraftfahrzeugrennen nicht nur mit einem Bußgeld zu bestrafen sondern einen eigenen Gefährdungstatbestand zu schaffen. Im Übrigen wäre auch endlich angezeigt, den § 315c StGB so zu erweitern, dass auch extreme Geschwindigkeitsüberschreitungen für sich strafbar sind. Ich habe das Anliegen - auch hier im Beck-Blog - mehrfach wiederholt (vgl. hier und hier). Die derzeitige Gesetzesinitiative kam für diesen besonders schwerwiegenden Fall zu spät, bei dem die Staatsanwaltschaft und das Gericht offenbar meinten, das unterhalb des Mordes bereit stehende Strafrechtsarsenal genüge nicht, um der schweren Folge dieses besonders rücksichtslosen Verhaltens gerecht zu werden.
Die Frage, wie besonders schwerwiegende Regelverstöße im Straßenverkehr zu beurteilen sind, also wann bei den dadurch bewusst hervorgerufenen Gefahren Tötungsvorsatz bejaht werden kann, wirft schwierige Abgrenzungsfragen zwischen (Lebens-)gefährdungs- und Tötungsvorsatz auf, die bislang ganz regelmäßig zur Ablehnung des Tötungsvorsatzes geführt haben. Da sich die Fahrer in dieselbe Gefahr bringen, aber keinen Suizid begehen wollen, kann geschlossen werden, dass sie zumindest hofften, es "werde noch mal gut gehen". Auch die Argumentation, sie hätten, um des egozentrischen Zieles Willen im Rennen zu gewinnen, einen Unfall (nicht nur die Gefahr eines Unfalls!) bewusst in Kauf genommen - das Argument aus dem "Lederriemenfall", ist hier unpassend, weil ein solcher Unfall auch den Sieg im Rennen auf jeden Fall vereitelt.
Ich halte die Bejahung des Tötungsvorsatzes mit der bisherigen Dogmatik daher für sehr schwierig begründbar. Beim früheren Beitrag habe ich auch zu einer ähnlichen Verurteilung aus der Schweiz argumentiert (siehe dortige Diskussion).
Aus der heutigen Presseerklärung des Gerichts lässt sich leider nicht viel entnehmen:
Die Angeklagten hätten gewusst, was ihr Verhalten für eine Auswirkung auf andere Verkehrsteilnehmer haben könnte und sie hätten diese möglichen Folgen bewusst billigend in Kauf genommen, d.h. sie hätten sich mit dem Tod anderer Verkehrsteilnehmer abgefunden.
Für eine nähere Diskussion der Argumente des LG Berlin müssen wir wohl darauf warten, wie das Urteil schriftlich begründet wird.
Sollte der BGH in der sicherlich nicht ausbleibenden Revision dieses Urteil bestätigen, würde damit jedenfalls ein neues Kapitel in der Vorsatzdiskussion aufgeschlagen, mit Folgen, die wahrscheinlich hinausreichen über die konkrete Situation "Autorennen", man denke etwa auch an Fälle, in denen Mord- oder Totschlagsversuch in Betracht zu ziehen ist.
Update (1. März 2017): inzwischen haben weitere Strafrechtslehrer-Kollegen zum Fall Stellung genommen:
Michael Kubiciel (lto) hält das Urteil für zutreffend, Auszug:
"Das Urteil ist eine Zäsur; rechtsdogmatisch überraschend ist es nicht. Wer etwa die einschlägigen Partien zum bedingten Vorsatz im Lehrbuch von Claus Roxin liest, wird keine Stelle finden, mit der er die Ablehnung des bedingten Vorsatzes begründen kann. Das Gegenteil ist der Fall. (...)
Diese Wertung aber muss Maximen folgen, die jener Rechtsgemeinschaft vermittelbar sind, für die Recht gesprochen wird bzw. deren verletztes Recht wiederhergestellt werden soll. Ein Beispiel: Wer russisch Roulette spielt und schon von der zweiten der sechs im Lauf befindlichen Kugeln getroffen wird, kann nicht sagen, er habe das Risiko nicht gekannt und dieses nicht hingenommen. Eine solche Aussage wäre nicht nur der Gesellschaft nicht vermittelbar, sondern käme auch einem sogenannten performativen Selbstwiderspruch gleich.
In Berlin haben die Angeklagten nicht nur mit dem eigenen Leben gespielt, sondern auch mit fremden. Rechtsethisch gelten damit strengere Anforderungen an die Frage, über welches Risiko sie sich hätten Rechenschaft ablegen müssen. So kann man nicht mit einer Schrotflinte in eine Menschenmenge schießen und gleichzeitig behaupten, man habe darauf vertraut, dass sämtliche Schrotkugeln vorbeifliegen. Die Raser vom Ku’damm aber sollen, laut Verteidigung, darauf vertraut haben, dass man unfallfrei an rund einem Dutzend roter Ampeln in der Innenstadt Berlins vorbeifliegen könne.
Als Teil dieser Rechtsgemeinschaft möchte ich bekennen: Ich hätte es nicht verstanden, wenn das Gericht dieser Behauptung gefolgt wäre. Ebenso kontraintuitiv schiene es mir, den Angeklagten zu attestieren, sie hätten zwar die Gefährdung von Menschen, nicht aber deren Tod in Kauf genommen (...)"
Ein paar Anmerkungen: Roxin erklärt die Abgrenzung in Strafrecht AT Band I, S. 446 und S. 450, genau so, wie ich es hier in meinem Beitrag getan habe: Wenn im Straßenverkehr eine Selbstgefährdung mit der Fremdgefährdung einher geht, dann tendiert auch Roxin zur bewussten Fahrlässigkeit statt zum Eventualvorsatz. Zitat Roxin (StrafR AT I, Rn.32): "Der Umstand, dass der Täter sich selbst am meisten gefährdet, spricht - außer bei Suizidenten - für bloßen Leichtsinn." Die Beispiele Kubiciels (Russisch Roulette, Schrotflinte) hingegen passen nicht zum hiesigen Fall. Dass es "kontraintuitiv" ist, zwischen Gefährdung und Inkaufnahme des Erfolgs zu differenzieren, will ich einräumen. Dennoch ist gerade diese Unterscheidung in unserem Strafrecht derart verankert, dass wir ihr als Juristen nicht ausweichen dürfen mit dem Verweis auf (verständliche) Emotionen.
Tonio Walter (zeit-Online) stimmt mit mir in der Bewertung des Urteils überein, Auszug:
Wichtig, wenngleich schwer zu akzeptieren: Für die Gerichte kommt es nicht darauf an, ob jemand vernünftigerweise darauf vertrauen durfte, dass es gutgehen werde. Sondern es kommt nur darauf an, ob er tatsächlich darauf vertraut hat.
Das müsste im Fall der Berliner Raser dazu führen, dass der Vorsatz fehlt. Testfrage: Haben die Täter versucht – im Rahmen ihrer Wahnsinnsfahrt – Unfälle zu vermeiden? Oder waren sie ihnen egal? Hätte von ihnen aus das Rennen auch an der ersten Ampel im Crash enden dürfen? Man möchte denken: Ja, hätte es, darauf haben sie es doch offensichtlich ankommen lassen. Aber das stimmt eben nur, wenn man überlegt, was ein vernünftiger Mensch hätte denken müssen, und nicht, was diese beiden in ihren beschränkten Hirnen tatsächlich gedacht haben. Daher dürfte es juristisch der ehrlichere Weg sein, den Vorsatz zu verneinen.
Beide Kollegen stimmen mit mir darin überein, dass die bisherigen gesetzlichen Regeln für "Raser", sei es bei Rennen, sei es auch unabhängig von Rennen, nicht ausreichen. Ich habe dies schon vor sechs Jahren so vertreten, andere sogar schon vor noch längerer Zeit.