Manipulationen bei Organtransplantation - kein Totschlagsversuch
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Der in Göttingen wegen Versuchs des Totschlags in elf Fällen angeklagte Arzt, der seinen Patienten bei der Vergabe von gespendeten Organen einen Vorteil verschafft hatte, ist freigesprochen worden. Die Staatsanwaltschaft hat Revision angekündigt. Soweit die Gründe in der Presse mitgeteilt wurden, hat das Gericht zwar in den Abweichungen von den Richtlinien moralisch verwerfliches Handeln gesehen, meinte aber, in der notwendigen Benachteiligung anderer Patienten auf der Organspendenwarteliste sei kein Totschlagsversuch festzustellen. Der bloße Verstoß gegen die Richtlinien der Ärztekammer sei nicht strafbar gewesen (jetzt gilt § 19 TPG). Hintergrund ist wohl, dass eine Kausalität der Bevorzugung des einen Patienten für den konkreten Todesfall eines anderen kaum nachweisbar ist, ja nicht einmal für eine das Leben gefährdende Verzögerung der Transplantation bei einem anderen genügen die Beweise. Und daher ist auch nicht ohne Weiteres von einem entsprechenden Tatentschluss auszugehen. Hier Auszüge aus der Berichterstattung der Süddeutschen:
Steht man auf der Rangliste der Patienten, die dringend eine neue Leber brauchen, nur weit genug oben, dann gibt es Lebern im Überfluss. "Die Angebote an Lebern kommen dann wie die Flugzeuge am Frankfurter Flughafen", sagt Aiman O. "Eine nach der anderen. Manchmal zehn am Tag. Der Operateur kann da ganz entspannt sein." Oft lehne ein Arzt 20, 30 Lebern ab, bevor er eine Leber für gut genug erachte für seinen Patienten. Bei einem Patienten seien sogar 99 Lebern abgelehnt worden.
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"Bedeutet das, dass man, salopp gesagt, ein Organ einfach sausen lassen kann? Ist das Praxis in Deutschland?" "Das ist mehr als eine Praxis", sagt der Angeklagte O., "das wird überall in Deutschland so gehandhabt." Seit 2006 gebe es dieses Überangebot für Patienten, die sehr krank seien. Doch, das sagt der Angeklagte Doktor O. auch, diese Menschen seien schon so mitgenommen von ihrer Krankheit, dass sie oft mit ihrem neuen gesunden Organ schnell sterben, "das ist das eigentlich Tragische."
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Die Kammer hat sich die Mühe gemacht, für jeden angeklagten Fall der Manipulation zu recherchieren, was aus denjenigen Kranken wurde, denen die Patienten von O. vorgezogen wurden. Einer dieser bevorzugten Patienten sprang durch die Manipulationen gleich von Rang 34 auf Rang 2 und erhielt binnen Tagen eine Leber. Der Richter fasst die Recherchen zusammen: Der Patient auf Rangnummer 3 bekam ein Organ und lebt. Nummer 4 bekam ein Organ und starb nach der Operation. Nummer 5 bekam ein Organ und lebt, Nummer 6 bekam ein Organ und ist gestorben. Nummer 7 bekam ein Organ, er hatte sogar sieben Angebote. Nummer 8 wurde von der Liste genommen, weil sich sein Zustand besserte. Nummer 9 bekam ein Organ und starb, Nummer 10 lebt. Es ist nicht einfach zu klären, ob die Verzögerung durch die Manipulationen schuld am Tod anderer Kranker war, weil die Ursache für deren Tod ja auch anderswo liegen kann.
Und aus der Badischen Zeitung:
Das Gericht ging jedoch davon aus, dass Aiman O. keinen Tötungsvorsatz hatte. Denn sobald ein Patient auf der Warteliste in Lebensgefahr geriet, bekam er stets sofort ein Organ zugeteilt. O. habe auf diesen Mechanismus vertraut, jedenfalls konnte ihm dies im Prozess nicht widerlegt werden, so die Richter.
Nach allem scheint der eigentliche Schaden, den der Angeklagte anrichtete, woanders zu liegen: Nach Bekanntwerden der Manipulationen hat die Spendebereitschaft stark abgenommen und dies hat statistisch abstrakt sicherlich Menschenleben gekostet. Aber auch diese Folgen können wohl den konkreten Handlungen des Angeklagten nicht zugerechnet werden.