Überfallener 77jähriger erschießt einen flüchtenden Angreifer - Totschlag?
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
An prominenten und weniger prominenten Fällen zeigt sich, dass die Praxis des Notwehrrechts immer wieder gravierende Entscheidungsunsicherheiten birgt, insbesondere wenn Irrtum und/oder Exzess hinzutreten (siehe zuletzt die Diskussion zum Pistorius-Fall).
So auch in dem diese Woche entschiedenen Fall eines norddeutschen Rentners (heutiger SZ-Bericht). Der damals 77jährige und bewegungseingeschränkte Mann wurde in seinem Haus von fünf maskierten jungen Männern in Raubabsicht überfallen (damaliger taz-Bericht). Als die Alarmanlage klingelte, wendeten sich die Täter zur Flucht. Der Rentner schoss einem 16jährigen flüchtenden Täter in den Rücken – mit tödlichen Folgen.
Der Rentner gab an, er habe vorher einen Schuss gehört und habe deshalb selbst geschossen. Indes stellte sich heraus, dass die von den Tätern möglicherweise als Drohmittel mitgeführten Waffen nur geräuscharme Softair-Guns waren und der Rentner als einziger schoss.
Die Staatsanwaltschaft hatte ursprünglich eine Notwehrlage angenommen und das Verfahren eingestellt. Auf Beschwerde der Angehörigen des Opfers wurde dennoch Anklage erhoben; diesmal lehnte aber zunächst die Strafkammer die Eröffnung ab. Erst das OLG Celle ordnete schließlich die Hauptverhandlung an.
Staatsanwaltschaft und Verteidigung forderten vergangene Woche einen Freispruch des mittlerweile 81jährigen Angeklagten. Sie stellten dabei – soweit berichtet wird – auf eine Putativnotwehr (Erlaubnistatbestandsirrtum) ab: Der Rentner meinte in der unübersichtlichen Situation einen Schuss gehört zu haben und habe sich deshalb subjektiv noch in einer gegenwärtigen Notwehrlage befunden. Das Gericht war davon offenbar nicht überzeugt und verurteilte den Rentner nun wegen Totschlags (im minder schweren Fall) zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde.
Da ich die Sachaufklärung in der Hauptverhandlung nicht selbst verfolgt habe, kann ich zu den Einzelheiten hier nicht präzise Stellung nehmen (hier ausführlicher Bericht des NDR mit Video). Dennoch scheint sich an diesem Fall erneut zu zeigen: Während das geschriebene Recht zur Notwehr einschließlich der schuldbefreienden ergänzenden Vorschrift zur Überschreitung derselben (§ 33 StGB) relativ weit ist – in der Lehre meist garniert mit dem Spruch „Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen“, wird die Notwehr in der Rechtspraxis eher eingeschränkt ausgelegt, es sei denn, es handelt sich bei den Beschuldigten um Polizeibeamte.
Hier war auch zu berücksichtigen, dass der Rentner beim Überfall in seinem Haus selbst (nach seinen Angaben) mit Waffen bedroht wurde und sich einer Überzahl von jüngeren und beweglicheren Tätern ausgesetzt sah. Es scheint mir, als seien genügend Hinweise auf eine Notwehrexzess gegeben. So auch das Gericht, nach dem Bericht der SZ:
"Nach Überzeugung des Gerichts gab der Rentner die Schüsse aus Angst um sein Leben bewusst ab, überschritt dabei aber die Grenzen der Notwehr. "Ein gezielter Schuss auf Arme oder Beine wäre ausreichend gewesen und hätte auch den Angreifer gestoppt", sagte der Vorsitzende Richter Berend Appelkamp in seiner Urteilsbegründung."
In einigen Berichten heißt es, die Täter hätten die Geldbörse ihres Opfers bereits an sich genommen - in diesem Fall wäre der Raubangriff bei der Flucht (mit Geldbörse) möglicherweise noch nicht beendet gewesen. Es käme dann (wie im Wortlaut des oben zitierten Berichts angedeutet) ein intensiver Notwehrexzess (Überschreitung der Erforderlichkeitsgrenze) in Betracht. Sieht man den Angriff als nicht mehr gegenwärtig an, dann kommt noch ein extensiver Notwehrexzess (also die Überschreitung der Gegenwärtigkeitsgrenze) in Frage. Indes ist immer noch umstritten, ob der extensive Notwehrexzess in § 33 StGB zu berücksichtigen ist. Mit einer großen Zahl von Strafrechtslehrern (statt vieler: Erb in MüKo-StGB § 33 Rn. 14) bin ich der Ansicht, § 33 StGB müsse auch den extensiven Notwehrexzess berücksichtigen, sofern ein realer rechtswidriger Angriff vorliegt. Die Rechtsprechung (und so offenbar auch das LG Stade) hingegen begrenzt § 33 StGB auf den intensiven Notwehrexzess.
Nach meiner Einschätzung (beruhend auf den Informationen aus der Berichterstattung) wäre ein Freispruch wegen § 33 StGB naheliegend gewesen.
Ergänzung (29.10.): Hier noch der Link zur Entscheidung des OLG Celle. (Dank an den Leser Gloeckner für den Hinweis)
Eine sehr aktuelle Entscheidung des zweiten Senats zum Notwehrexzess in einem anderen Fall findet sich hier: BGH 2 StR 113/14