Eindrücke vom neunten Tag der Hauptverhandlung gegen Gustl Mollath
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Nach achteinhalb von siebzehn (geplanten) Tagen füllt sich noch einmal der Gerichtssaal. Immerhin soll mit B. der Vorsitzende des Gerichts als Zeuge gehört werden, das Herrn Mollath im Jahr 2006 auf unbestimmte Zeit in der Psychiatrie unterbrachte. Die damalige Verhandlung dauerte nur einen halben Tag.
B., seit einigen Jahren Richter im Ruhestand, stellt gleich zu Beginn klar, dass er sich an nichts erinnere. Er habe das Urteil noch einmal gelesen, aber auch da sei ihm keine originäre Erinnerung an das Verfahren gekommen. Er weiß natürlich, dass damit seine Vernehmung eigentlich schon am Ende ist. Alle Versuche, ihn durch Vorhalt aus dem Urteil oder anderen Aktenbestandteilen doch noch zu einer Erinnerung zu bringen, werden scheitern. Für die Frage, ob die angeklagten Taten Herrn Mollath nachgewiesen werden können, ergibt sich nichts aus dieser Vernehmung.
Immerhin lässt er sich ein, dass er selbst mittlerweile Fehler im Urteil erkannt hat: Die Verwechslung der Festnahmesituationen und die jedenfalls aus dem Wortlaut erkennbare „Unlogik“, dass die Ehefrau auch während ihrer Bewusstlosigkeit noch die Tritte gespürt habe. Er wolle sich dafür nicht entschuldigen, das sei eben „passiert“ und könne nicht mehr rückgängig gemacht werden. Wenn er nur diese beiden Fehler erkennt, dann lässt sich schließen, dass er mit dem Urteil auch jetzt noch zufrieden ist – nur ein paar Formulierungsfehler seiner Berichterstatterin hat er übersehen, als er das Urteil unterzeichnete. Und „dem BGH hat das Urteil gereicht.“ Das klingt wie ein Echo der „handwerklichen Fehler“, die Anfang 2013, als das Dach ihres Hauses schon lichterloh in Flammen stand, auch die Nürnberger Gerichtspressestelle öffentlich einräumte, um wenigstens Teile des Dachstuhls zu retten.
Auch als RA Strate ihn damit konfrontiert, dass B. die Entpflichtung des Verteidigers abgelehnt habe, obwohl dieser doch in einem Interessenkonflikt gestanden habe, bleibt er bei seiner Rechtsauffassung: Schließlich könne es nicht sein, dass ein Angeklagter durch sein Verhalten die Auswechslung des Pflichtverteidigers herbeiführe. Allerdings müsste er – nicht nur in diesem Fall – bei der Lektüre des Wiederaufnahmeantrags Strates (von ihm als „Pamphlet“ bezeichnet) doch auch weitere Fehler erkannt haben. Fehler, die sich darauf beziehen, dass wesentliche Teile der Würdigung sich auf Beweise beziehen, die in die damalige Hauptverhandlung gar nicht ordnungsgemäß eingeführt wurden oder schlicht im Urteil verfälscht wurden. Fehler, die sich aus mangelnder oder ausfallender Beschwerdebearbeitung ergeben, und insbesondere auch die dreiwöchige Verzögerung der nach Menschen- und Grundrechten unverzüglich zu gewährenden Eröffnung des Unterbringungsbefehls. Letzteres war auch nach Ansicht des Vertreters der Staatsanwaltschaft in der laufenden Hauptverhandlung ein schwerwiegendes Versäumnis. All das ist kein Thema dieses Prozesses und dieser Vernehmung, man ahnt aber auch schon, wie er im Falle einer Befragung antworten würde: Ich erinnere mich nicht, oder, wie bei der Frage nach Martin M., dem neuen Mann der ehem. Frau Mollath: Klar kenne ich den vom Handball, aber da war kein privater Kontakt, das hatte keine Bedeutung.
Allgemein beklagt B., dass man in der Justiz immer mehr Boote mit derselben Anzahl Ruderer bewegen solle – aber er will den entstehenden Zeit- und Termindruck nicht als Entschuldigung für Fehler im konkreten Fall vorbringen.
Ansonsten offenbart sich hier ein Richter „alter Schule“, der sich nicht in den Terminkalender pfuschen lässt, es sei denn, dass einer noch einen Beweisantrag stellt, den man nicht nach § 244 Abs.3 StPO ablehnen kann. Man hätte als Verteidiger den Lauf des Geschehens mit der Stellung eines Beweisantrags vielleicht etwas aufhalten können. Oder damit, dass man der Verlesung des Attests widersprochen hätte. Oder dass man auf der Vorführung des Videos vom Reifenstecher bestanden hätte. Die Chancen einer Revision hätten sich vergrößert, vielleicht hätte man auch die Schöffen beeinflussen können. Aber die Überzeugung dieses Vorsitzenden hätte sich wohl kaum geändert. Der Schöffe W. hat zuletzt bekundet, Herr B. habe schon während der Verhandlung geäußert, dem Mollath schaue der Wahnsinn aus den Augen. B. drückt jetzt hierzu seine Empörung aus – nicht durch Abstreiten (denn das würde ja Erinnerung implizieren) sondern durch den Hinweis, der Schöffe habe mit dieser Äußerung gegen das Beratungsgeheimnis verstoßen.
Ein Rätsel lässt sich wohl nicht mehr lösen: Wie kam es überhaupt dazu, dass die Sache Mollath in der Kammer des Zeugen landete? Strate hatte vermutet, die Akten seien gezielt verzögert worden, damit die Kammer des Vors RiLG B. zuständig werden würde. Nach der Vernehmung der Richterin H. in der vorigen Woche hatte ich kurz gedacht, das Rätsel sei gelöst. Denn H. sagte, die Kammer sei für die Unterbringungen zuständig gewesen - möglicherweise also eine Spezialzuständigkeit in der Geschäftsverteilung. B hingegen meint, seine Zuständigkeit („reiner Zufall“) habe sich strikt aus der Eingangsreihenfolge ergeben; er halte für „ völlig ausgeschlossen“, dass da in der Justiz manipuliert worden sei.
Im Anschluss, die Zuhörerreihen sind schon wieder deutlich gelichtet, werden Schreiben Herrn Mollaths verlesen. Schreiben, die in seinem zur Verteidigung übergebenen Ordner enthalten waren. Zur Erinnerung: In der Frühzeit des Verfahrens gegen Mollath waren es u.a. diese Schreiben, die einige zu der Ansicht brachten, man habe es mit einem psychisch Gestörten zu tun. Es ist vielleicht sinnvoll, sich durch Zuhören einmal ganz auf den Inhalt statt auf das Lay-Out zu konzentrieren. Im Grunde sind diese Schreiben Mollaths aus (überwiegend) dem Jahr 2002 der interessantere Teil der Hauptverhandlung am heutigen Tage. Jedenfalls für die, die diese Schreiben noch nicht kennen. Es ergibt sich das Bild einer Beziehung nach ihrem Scheitern: Vorwürfe des Verlassenen an die Frau, die sich nach über zwei Jahrzehnten von ihm abgewendet hat, nicht mehr auf seine Briefe und seine Anrufe reagiert oder nur noch sporadisch auf den Anrufbeantworter spricht. Der verzweifelte und zum Scheitern verurteilte Versuch, sie dazu zu bewegen, auf seine Warnungen zu reagieren, ein Gespräch mit ihm zu führen. Die Not, die sich daraus ergibt, dass sie die Rechnungen nicht mehr bezahlt. Man kann sich denken, dass ein klärendes Gespräch zu diesem Zeitpunkt längst unrealistisch geworden ist. Aber es geht auch weitschweifig um Einzelheiten der Banktätigkeiten seiner Frau, die ihm unrechtmäßig und darum gefährlich vorkommen, und die Zurückweisung des Angebots einer Art "Schweigegeld", wie er es empfindet.
Ob diese Briefe inhaltlich Hinweise auf eine Psychose bzw. einen Wahn geben, mögen Fachleute bewerten. Ich erkenne das nicht darin.