Kehrtwende des BAG zur teilweisen Arbeitsunfähigkeit?
Gespeichert von Prof. Dr. Christian Rolfs am
Das Urteil ist auf den ersten Blick ein Sieg für die betroffene Arbeitnehmerin. Aber ein solcher, der teuer erkauft sein könnte:
Mit Urteil vom 9.4.2014 (10 AZR 637/13) hat das BAG entschieden, dass eine Krankenschwester, die aus gesundheitlichen Gründen keine Nachtschichten im Krankenhaus mehr leisten kann, deshalb nicht arbeitsunfähig krank ist. Sie hat vielmehr Anspruch auf Beschäftigung, ohne für Nachtschichten eingeteilt zu werden.
Die Beklagte betreibt ein Krankenhaus der sog. Vollversorgung mit etwa 2.000 Mitarbeitern. Die Klägerin ist bei der Beklagten seit 1983 als Krankenschwester im Schichtdienst tätig. Arbeitsvertraglich ist sie im Rahmen begründeter betrieblicher Notwendigkeiten zur Leistung von Sonntags-, Feiertags-, Nacht-, Wechselschicht- und Schichtarbeit verpflichtet. Nach einer Betriebsvereinbarung ist eine gleichmäßige Planung ua. in Bezug auf die Schichtfolgen der Beschäftigten anzustreben. Das Pflegepersonal bei der Beklagten arbeitet im Schichtdienst mit Nachtschichten von 21.45 Uhr bis 6.15 Uhr. Die Klägerin ist aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr in der Lage, Nachtdienste zu leisten, weil sie medikamentös behandelt wird.
Nach einer betriebsärztlichen Untersuchung schickte der Pflegedirektor die Klägerin am 12.6.2012 nach Hause, weil sie wegen ihrer Nachtdienstuntauglichkeit arbeitsunfähig krank sei. Die Klägerin bot demgegenüber ihre Arbeitsleistung - mit Ausnahme von Nachtdiensten - ausdrücklich an. Bis zur Entscheidung des Arbeitsgerichts im November 2012 wurde sie nicht beschäftigt. Sie erhielt zunächst Entgeltfortzahlung und bezog dann Arbeitslosengeld.
Die auf Beschäftigung und Vergütungszahlung für die Zeit der Nichtbeschäftigung gerichtete Klage war beim Zehnten Senat des Bundesarbeitsgerichts, ebenso wie in den Vorinstanzen, erfolgreich. Die Klägerin ist weder arbeitsunfähig krank noch ist ihr die Arbeitsleistung unmöglich geworden. Sie kann alle vertraglich geschuldeten Tätigkeiten einer Krankenschwester ausführen. Die Beklagte muss bei der Schichteinteilung auf das gesundheitliche Defizit der Klägerin Rücksicht nehmen. Die Vergütung steht der Klägerin unter dem Gesichtspunkt des Annahmeverzugs zu, weil sie die Arbeit ordnungsgemäß angeboten hat und die Beklagte erklärt hatte, sie werde die Leistung nicht annehmen.
Die Entscheidung wirft aus meiner Sicht zwei Probleme auf:
Erstens handelt es sich zwar prozessual um einen Sieg gegen die Arbeitgeberin. In Wahrheit betroffen sind aber die Kolleginnen und Kollegen der Klägerin, die in Zukunft deren Nachtschichten mit übernehmen müssen. Die Arbeitgeberin hat (nur) den organisatorischen Mehraufwand. Das gilt insbesondere dann, wenn künftig mehrere Arbeitnehmer die gesundheitlich belastendere Nacht- oder Wechselschicht nicht mehr ausüben können. Die gesünderen, die das noch können, werden dann entsprechend mehr die unbeliebten Arbeitszeiten übernehmen müssen.
Zweitens bricht das Urteil zumindest der Sache nach mit dem bisherigen Grundsatz, dass es keine Teil-Arbeitsunfähigkeit gibt (etwa BAG, Urt. vom 29.1.1992 - 5 AZR 37/91, NZA 1992, 643). Danach galt: Entweder kann ein Arbeitnehmer die - gesamte - geschuldete Arbeitsleistung erbringen, oder er kann es nicht. Ist er dazu auch nur teilweise aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage, ist er - vollständig - arbeitsunfähig i.S. des EFZG. Mit diesem neuen Urteil gibt es jetzt plötzlich eine Teil-Arbeitsfähigkeit, zwar nicht hinsichtlich einzelner Teilaufgaben, aber einzelner Arbeitszeiten. Konsequent müsste dann ein Arbeitnehmer, der eine Vollzeitstelle hat, nach ärztlichem Zeugnis aber maximal vier Stunden täglich arbeiten kann, ebenfalls teil-arbeitsfähig sein.