Satter und ausgeruhter Richter - Freispruch!
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Ein Blogleser wies mich auf die Studie "Extrane Faktoren in juristischen Entscheidungen" (englischsprachiger Artikel als pdf-Dokument) hin, die auch Gegenstand eines Berichts auf Spiegel Online war: Israelische Forscher untersuchten die Entscheidungen von "Parole Boards", bei denen Einzelrichter, jeweils beraten von Kriminologen und Sozialarbeitern, täglich über 14 bis 35 Anträge Strafgefangener zu entscheiden hatten. Zumeist ging es um Anträge auf Strafaussetzung zur Bewährung. Die durchschnittliche Zeit der Befassung mit einem Antrag lag bei unter zehn Minuten. Die Richter waren nicht mit dem Inhalt der Anträge vorbefasst, sondern wurden erst informiert, wenn der Fall aufgerufen wurde. Im Ergebnis war auch nach Herausrechnung von anderen Variablen (einschl. der Fallgrundlagen und der Richterperson) ein signifikanter Einfluss der Pausen festzustellen. Jeweils die ersten Entscheidungen zu Beginn des Tages und nach Frühstücks- und Mittagspause fielen bei allen acht Richtern der Stichprobe statistisch wesentlich eher zugunsten des Antragstellers aus als Entscheidungen kurz vor der Pause bzw. vor dem Ende des Sitzungstages.
Nun könnte man - wie es meine Überschrift und die auf SPON nahelegen, praktisch die Regel ableiten, dass müde bzw. unterzuckerte Richtergehirne eher "gegen Angeklagte" entscheiden als gutbefrühstückte und ausgeruhte. Daraus wäre zu folgern, dass Verteidiger soweit möglich auf rechtzeitige Pausen und insofern günstige Terminierung achten sollten. Gerade für diese Folgerungen ist die Studie aber nicht ganz tragfähig: Es ging hier um repetitive Entscheidungen ohne Vorbefassung der Richter mit den Akten, zudem um verurteilte Strafgefangene. D.h. es ging um die Fähigkeit von Richtern, "aus dem Bauch" heraus schnelle Entscheidungen auf Grundlage knapper Informationen zu treffen. Ob die Ergebnisse auf andere Verfahrensweisen (z.B. dem typischen Strafprozess) übertragbar ist, bleibt daher offen. Dass ausgeruhte und satte Menschen ihrem Gegenüber wohlwollender gesonnen sind als gestresste und hungrige, ist zudem eine nicht ganz so überraschende Erkenntnis.
Aber richtig: Man sollte sich gelegentlich erinnern, dass nicht nur objektive Fakten, Recht und Gesetz juristische Entscheidungen beeinflussen, sondern auch ganz schlicht Leib und Seele des Richters.
Siehe auch schon hier