Europäischer Haftbefehl - Missbrauch im Fall Assange? (mit Updates 9.12. und 10.12.)
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Vorausgeschickt: Ich stehe wikileaks und ihrem "Macher" Assange durchaus kritisch gegenüber und hätte mir gewünscht, Wikileaks / Assange wären etwas (selbst)kritischer bei der Veröffentlichung dieser Leaks vorgegangen (siehe hier ). Aber die derzeitigen Vorgänge in London, Schweden und den USA eröffnen einen besonderen Blick über die Möglichkeiten der diplomatischen Einflussnahme in Justizangelegenheiten, auch über diesen Fall hinaus.
Die Regeln über den Europäischen Haftbefehl ermöglichen es der Exekutive des ersuchenden Staates, darauf Einfluss zu nehmen, ob ein Haftbefehl erlassen wird - sofern die Anklagebehörden hierarchisch in die Exekutive eingeordnet sind. Dies stellt ein mögliches Einfallstor für außenpolitische Interessen im Ermittlungsverfahren dar: Wenn ein wirtschaftlich und politisch starker (auch außereuropäischer) Staat es darauf anlegt, kann er einen EU-Staat dazu "ermuntern", einen Haftbefehl gegen eine Person zu erlassen, die sich in einem weiteren EU-Staat aufhält. Die Möglichkeit einer außenpolitischen Einflussnahme bestand natürlich auch schon vor der Installation des Europäischen Haftbefehls, doch beschränkte sie sich weitgehend auf die bilateralen Beziehungen (Auslieferungsabkommen) zwischen zwei Staaten. Der Europäische Haftbefehl erleichtert es jetzt, sozusagen "im Dreieck" vorzugehen. Das ist in etwa das Szenario, das Assange und sein Verteidiger wohl beklagen.
Dass ähnliche Einflussnahmen seitens der USA in Europa schon mit teilweisem Erfolg stattgefunden haben, ist - mit umgekehrter Tendenz - gerade von einem der Wikileaks-Diplomatenberichte - belegt worden (dazu mehr hier). In der Tat wäre es wohl eine Illusion anzunehmen, demokratische Staaten würden untereinander jederzeit die Unabhängigkeit ihrer jeweiligen Justizorgane respektieren.
Ob aber im konkreten Fall diplomatischer Druck auf die schwedische Regierung ausgeübt wurde, die Ermittlungen gegen Assange wieder aufzunehmen und einen Europäischen Haftbefehl zu erlassen, ist derzeit noch Spekulation. Deren zukünftige mögliche Bestätigung oder Widerlegung muss wikileaks oder anderen leakern vorbehalten bleiben, der schwedische Außenminister hat entsprechende Vermutungen selbstverständlich zurückgewiesen (Quelle). Aber es ist schon "merkwürdig", dass das aufgrund der Strafanzeigen der beiden Frauen in Schweden aufgenommene Ermittlungsverfahren zunächst noch innerhalb eines Tages eingestellt wurde, um sodann wieder aufgenommen zu werden (Spiegel Online Anfang September).
Die bislang bekannt gewordenen Anschuldigungen (detailreiche Darstellung hier) würden wohl in den meisten europäischen Ländern den Vorwurf der Vergewaltigung nicht erfüllen; von einer Gewaltanwendung oder -drohung ist jedenfalls bisher nicht die Rede. Nach den Regeln über den Europäischen Haftbefehl (pdf-Link) ist aber unerheblich, ob nach britischem Recht eine Vergewaltigung gegeben wäre, denn nach Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses kommt es für 32 Delikte (einschl. Vergewaltigung) ausdrücklich nicht auf die beiderseitige Strafbarkeit an: Großbritannien muss also ausliefern, wenn der Haftbefehl auf einem Vergewaltigungsverdacht nach schwedischer Gesetzesversion beruht. Das Europäische Haftbefehlsverfahren sieht vor der Auslieferung zudem nur eine formelle Prüfung vor. Nicht geprüft wird, ob der hinreichende Tatverdacht tatsächliche Grundlagen hat. Der dem Haftbefehl zugrunde liegende Tatvorwurf wird lediglich auf Schlüssigkeit und "offensichtlichen Missbrauch" geprüft. Für eine auch materielle Prüfung spricht zwar Art. 8 lit e) des Rahmenbeschlusses, doch ist diese nach allg. Auffassung auf "evidenten Missbrauch" beschränkt. Diese Evidenz ist hier sicherlich nicht erreicht, und selbst wenn sie es aus Sicht der britischen Behörden wäre, würde es der europa- und außenpolitische Comment verbieten, die schwedische Justiz eines missbräuchlichen Vorgehens zu bezichtigen.
Einer Weiter-Auslieferung an die USA durch Schweden stehen allerdings (so zutreffend Kommentator OG und Stadler, s.u.) Art. 27 Abs. 2 und Art. 28 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses entgegen, wonach die Auslieferung auf den im Haftbefehl bezeichneten Tatvorwurf und auf den ersuchenden Staat beschränkt ist). Auch die schwedische (und auch die europäische) öffentliche Meinung würden entgegenstehen, zudem ist bislang fraglich, ob Assange in den USA verurteilt werden könnte oder als Journalist die dort traditionell weite Meinungsfreiheit genösse. Sarah Palin ficht das nicht an - ganz in der Art und Weise einer muslimischen Fatwa hat sie Assange bereits praktisch für vogelfrei erklärt (Quelle).
Update 1: Hier die schwedischen Vorschriften in engl. Übersetzung (Quelle):
On Sexual Crimes
Section 1
A person who by violence or threat which involves, or appears to
the threatened person to involve an imminent danger, forces another
person to have sexual intercourse or to engage in a comparable
sexual act, that having regard to the nature of the violation and the
circumstances in general, is comparable to enforced sexual
intercourse, shall be sentenced for rape to imprisonment for at least
two and at most six years. Causing helplessness or a similar state of
incapacitation shall be regarded as equivalent to violence.
If having regard to the nature of the violence or the threat and
the circumstances in general, the crime is considered less serious, a
sentence to imprisonment for at most four years shall be imposed.
If the crime is gross, a sentence to imprisonment for at least four
and at most ten years shall be imposed for gross rape. In assessing
whether the crime is gross, special consideration shall be given to
whether the violence involved a danger to life or whether the
perpetrator caused serious injury or serious illness or, having regard
to the method used or the victim's youth or other circumstances,
exhibited particular ruthlessness or brutality. (Law 1998:393)
Section 2
A person who, under circumstances other than those defined in
Section 1, makes someone engage in a sexual act by unlawful
coercion shall be sentenced for sexual coercion to imprisonment for
at most two years.
If the person who committed the act exhibited particular
ruthlessness or if the crime is otherwise considered gross, a sentence
of at least six months and at most four years shall be imposed for
gross sexual coercion. (Law 1992:147)
Schwedisch-deutsche Übersetzung (von hier)
Brottsbalken, Kap. 6, §1
Den som genom misshandel eller annars med våld eller genom hot om brottslig gärning tvingar en person till samlag eller till att företa eller tåla en annan sexuell handling som med hänsyn till kränkningens art och omständigheterna i övrigt är jämförlig med samlag, döms för våldtäkt till fängelse i lägst två och högst sex år.
Schwedisches Strafgesetzbuch, Kapitel 6, §1
Wer einen Menschen durch Mißhandlung oder sonstwie mit Gewalt oder durch Androhung von Verbrechen zum Geschlechtsverkehr oder dazu zwingt, eine andere sexuelle [körperliche] Handlung vorzunehmen oder an sich zu dulden, die im Hinblick auf die Art der Erniedrigung und die Umstände mit Geschlechtsverkehr zu vergleichen ist, wird wegen Vergewaltigung zu mindestens zwei und höchstens sechs Jahren verurteilt.
Update 2: Nach einem Bericht der Deutschen Welle erwägen die USA unmittelbar die Auslieferung aus Großbritannien zu verlangen.
Update 3: Hintergründe der Vorwürfe gegen Assange in diesem RTL/SpiegelTV-Report (via YouTube)