BGH: Fahrlässige Tötung durch Brechmitteleinsatz
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Der Leipziger 5. Senat des BGH hat mit seinem gestrigen Urteil den Freispruch eines Arztes aufgehoben, der im Jahr 2004 zwangsweise einem vermuteten Drogendealer per Magensonde Brechmittel zugeführt und ihn damit getötet hatte (Meldung bei Beck Aktuell; Meldung in der SZ).
Der vorherige Freispruch des Arztes war angesichts der Geschichte des polizeilichen Brechmitteleinsatzes kaum nachvollziehbar. Brechmittel wurden vor allem in den 90er Jahren verbreitet eingesetzt, um Drogenpäckchen, die häufig von Kleindealern im Mund getragen werden und bei einer Festnahme heruntergeschluckt werden, als Beweismittel zutage zu fördern. Rechtlich umstritten war ein zwangsweiser Einsatz dieser Methode (die bei Inhaftierung samt überwachtem Stuhlgang nicht erforderlich ist), spätetestens seit das OLG Frankfurt 1996 diese Methode als Verstoß gegen § 136a StPO gewertet und auch die Rechtsgrundlage § 81a StPO in Frage gestellt hatte (OLG Frankfurt NJW 1997, 1647; StV 1996, 651). Im Jahr 2001 starb in Hamburg (ausführlich dazu hier) ein afrikanischer Beschuldigter an der Methode, die der vorherige rotgrüne Senat zugelassen und der spätere (Schill/Kusch-)Senat noch erleichtert hatte (Bericht). 2002 fasste der 105. Deutsche Ärztetag einen Beschluss, der klarstellte, dass das Einführen der Magensonde gegen den Willen eines Menschen hoch riskant ist und deshalb aus ärztlicher Sicht unvertretbar sei (Quelle). Seither war es in der medizinischen Fachöffentlichkeit verbreitete Ansicht, dass eine Mitwirkung bei einem solchen Verfahren ärztlicherseits nicht kunstgerecht sei und zudem gegen den hippokratischen Eid verstoße. Dass es dennoch in Bremen Jahre später (und ja offenbar nicht nur ausnahmsweise) zur zwangsweisen Verabreichung von Brechmitteln per Magensonde kommen konnte, ist vor diesem Hintergrund schon fast unglaublich. Der damalige Innensenator Röwekamp (CDU) führte den Tod des Afrikaners zunächst tatsachenfern auf Eigenverschulden zurück (dieser habe auf ein Kokainpäckchen gebissen) und musste sich später einem Misstrauensantrag stellen. Er ist heute Oppositionsführer in Bremen. Erstmals zugelassen hatte den Bremer Brechmitteleinsatz 1995 der damalige Justizsenator Scherf (SPD).
Nachvollziehbar erscheint allenfalls, dass man seitens der Bremer Staatsanwaltschaft (und dann auch seitens des LG Bremen) einen jungen Arzt schonend behandeln wollte, den erst Polizei und Justiz in die missliche Lage gebracht hatten, diese hochgefährliche und menschenunwürdige Praxis im Dienst der Strafverfolgung durchzuführen. Das LG Bremen gestand dem Arzt "Überforderung" zu: Er habe “mehrere objektive Pflichtverletzungen” begangen, aber dies mangels "Ausbildung und Erfahrung mit Brechmittelvergabe subjektiv nicht erkennen” können. Er habe weder über klinische Erfahrung verfügt noch sei er für die zwangsweise Brechmittelvergabe qualifiziert gewesen. Dass diese Begründung nicht überzeugen kann, wird Jurastudenten im zweiten Semester erklärt: Der Fahrlässigkeitsvorwurf kann an ein "Übernahmeverschulden" geknüpft werden. Gerade ein Arzt darf keineswegs eine Maßnahme durchführen, deren Beherrschung er nicht gelernt hat und deren Folgen er nicht absehen kann.
Erst nach des hier zu beurteilten tödlichen Fall wurde auch in Bremen die Praxis aufgegeben - 4 Jahre nach dem Todesfall in Hamburg, drei Jahre nach dem Beschluss des Ärztetags. Kurze Zeit später hat der EGMR den zwangsweise Brechmitteleinsatz als Verstoß gegen die Menschenrechtskonvention beurteilt (EGMR NJW 2006, 3117).
Weitere Blog-Beiträge zum Thema:
Dissertation von Achim Hackethal: Der Einsatz von Vomitivmitteln zur Beweissicherung im Strafverfahren, Berlin 2005 (Verlagslink)