Fall Kassandra - Folgen fragwürdiger Informationspolitik der Ermittlungsbehörden
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Der Fall des Mädchens, das schwer misshandelt in einem Abwassergulli mit aufgesetztem Deckel gerade noch rechtzeitig aufgefunden wurde, hat die Öffentlcihkeit erschüttert.
Tatverdächtig ist ein 14jähriger Junge. Er ist seit dem 3. Oktober in Untersuchungshaft. Gegen ihn sprechen eine Reihe von Indizien, unter anderem Faserspuren. Der Junge bestreitet die Tat. Das LG Wuppertal hat die Haftbeschwerde zurückgewiesen.
Polizei und Staatsanwaltschaft standen vor der Festnahme des Tatverdächtigen unter großem Druck der Öffentlichkeit bzw. der Medien. Es ist daher in gewissem Grade nachvollziehbar, wenn kurz nach der Festnahme eine Pressekonferenz stattfand, in dem die Tatsache, dass der Fall aus Sicht der Polizei aufgeklärt sei, mitgeteilt wurde. (Quelle)
Allerdings wurden nach meiner Auffassung dabei Persönlichkeitsrechte des - bislang nicht eindeutig überführten immerhin noch Minderjährigen - missachtet. Offenbar war man seitens Polizei und Staatsanwaltschaft der Ansicht, man solle schon vor Abschluss der Ermittlungen die Überzeugung von der Täterschaft mitteilen ("Wir haben den Richtigen") und auch dessen persönliche Verhaltensauffälligkeiten bei der Polizeivernehmung ("kaltblütig", "gefühllos") und weitere personenbezogene Daten (Schulbesuch, familiärer Hintergrund, weitere angebliche Auffälligkeiten) an die Öffentlichkeit geben. Dies sind teilweise möglicherweise Anhaltspunkte, die für die Frage der Verantwortungsreife nach § 3 JGG eine Rolle spielen - der Vernehmungsbeamte könnte diesbezüglich also noch als Zeuge gebraucht werden. Eine solche Vorabäußerung erscheint deshalb schon prozessual unangemessen.
Zudem wurden, wenn man dieser Darstellung vertraut, der Presse gegenüber auch fehlerhafte Rechtsausführungen gemacht:
"Derweil prüft die Staatsanwaltschaft Wuppertal, inwieweit der 14-Jährige überhaupt strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen wäre. Zwar ist nach deutschem Recht ein Mensch nach Vollendung des 14. Lebensjahres grundsätzlich strafmündig, doch aufgrund einer "Reife- und Entwicklungsverzögerung"‘ könnte es sein, dass eine "strafrechtliche Verantwortlichkeit nicht gegeben wäre"‘, sagte Staatsanwalt Rüdiger Ihl der Süddeutschen Zeitung." (Quelle)
§ 3 JGG sieht eben nicht vor, dass ein 14jähriger regelmäßig verantwortungsreif ist und nur bei Reife- und Entwicklungsverzögerungen die Schuldfähigkeit entfällt. Umgekehrt ist (wie dem Gesetzestext und jedem Kommentar zu entnehmen ist) die Verantwortungsreife neben dem Alter von mindestens 14 Jahren zusätzlich positiv festzustellen.
Die "Anklage" in einer Pressekonferenz ist - sogar ohne Berücksichtigung der Tatsache, dass es sich um einen Minderjährigen handelt - ein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung und damit ein Menschenrecht (Art. 11 Abs.1 Allg. Erkl. der Menschenrechte der UN; Art. 6 Abs.2 Europäische Menschenrechtskonvention). Für personenbezogene Mitteilungen der Ermittlungsbehörden gibt es - außerhalb der öffentlichen Fahndung nach § 131 Abs.3 StPO - keine Rechtsgrundlage. Dass bei Minderjährigen besondere Vorsicht geboten ist, versteht sich eigentlich von selbst - ist aber hier nicht beachtet worden. Die vorzeitigen weitreichenden Äußerungen haben möglicherweise mit dazu geführt, dass für den 14jährigen keine andere Unterbringungsmöglichkeit als die Untersuchungshaftanstalt gefunden wurde, wie dieser Pressebericht andeutet:
Die vom Gesetz vorgesehene Unterbringung des 14-Jährigen in einer Einrichtung der Jugendhilfe statt in einer JVA war gescheitert. Verschiedene Einrichtungen sollen eine Aufnahme des Jungen verweigert haben mit dem Hinweis, dessen Sicherheit aufgrund seiner erlangten medialen Prominenz nicht gewährleisten zu können. (Quelle)