Sabine Rückert "Unrecht im Namen des Volkes. Ein Justizirrtum und seine Folgen" ausgewählt für die "Juristischen Bücher des Jahres"
Gespeichert von Prof. Dr. Bernd von Heintschel-Heinegg am
Seit fast 15 Jahren trifft sich ein Kreis bekannter Ordinarien, um einer breiteren juristischen Öffentlichkeit "Juristische Bücher des Jahres" zur Lektüre zu empfehlen. Die aktuelle Auswahl behandelt Prof. Dr. Reinhard Zimmermann, Direktor des Max-Planck-Instituts für ausländisches und Internationales Privatrecht in Hamburg, in NJW 2008, 3331. Darunter findet sich auch das Buch von Sabine Rückert " Unrecht im Namen des Volkes. Ein Justizirrtum und seine Folgen". Gegenüber den bisherigen Empfehlungen fällt diese in gewisser Weise aus dem Rahmen; denn hier handelt es sich nicht um eine abgewogene Abhandlung oder einen pointierten Essay zu Grundfragen des Rechts oder der Rechtsentwicklung. Spannend, ja aufrüttelnd wird vielmehr aus der Perspektive einer Journalistin die erschütternde Geschichte zweier Fehlurteile beschrieben.
Das Buch, das ich schon vor einiger Zeit an anderer Stelle besprochen und jedem Juristen und angehenden Juristen zur Lektüre empfohlen habe, erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die Vater und Onkel beschuldigt, sie vergewaltigt zu haben. Beide verbüßen nach ihrer Verurteilung mehrjährige Freiheitsstrafen - zu Unrecht, wie sich später herausstellt. Wie es zu diesen beiden Justizirrtümern kommen konnte, schildert die Autorin, die maßgeblich zur Aufklärung des falls beigetragen hat, in ebenso eindringlicher wie bedrückender Weise, dass es schwer fällt, das Buch aus der Hand zu legen, wenn man mit der Lektüre begonnen hat. Das Schicksal des vermeintlichen Opfers wird "zum Spiegel der dunklen Seite des Feminismus" (S. 80). Nachdem die Gepflogenheiten, überall Kindesmissbrauch zu wittern, ihn mit großer Entschlossenheit inquisitorisch aufzudecken und das Aufgedeckte strafrechtlich zu verfolgen, in den achtziger Jahren in den Vereinigten Staaten zu einer regelrechten Zwangsvorstellung geworden war, erfasste die wahnhafte Fixierung auf den sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen auch Europa. In Deutschland kam es zu spektakulären Freisprüchen (Mainz, Münster, Worms). Zu den wenigen, die die heraufziehende Gefahr schon früh erkannten, gehören die beiden langjährigen Gerichtsreporter des Nachrichtenmagazins DER SPIEGEL, der inzwischen verstorbene Gerhard Mauz und seine Nachfolgerin Gisela Friedrichsen (ihr vor kurzem erschienenes Buch "Im Zweifel gegen den Angeklagten. Der Fall Pascal - Geschichte eines Skandals" will ich demnächst hier vorstellen).
Die Geschichte, wie die beiden Fehlurteile bei unvoreingenommener Betrachtung der Beweislage hätte vermieden werden können, sollte bereits für die Studenten an den juristischen Fakultäten gleichsam eine studienbegleitende Pflichtlektüre sein. Der Leser erfährt viel über Glaubwürdigkeitsgutachten. Mehrmals wird auf die beiden zentralen deutschen Standardwerke eingegangen: Peters "Fehlerquellen im Strafprozess" und Bender/Nack/Treuer "Tatsachenfeststellung vor Gericht".
Fehlurteile kommen in allen Ländern vor und auch die Ursachen der Fehlurteile sind in allen Ländern dieselben: Mängel in der Beweisaufnahme und im Verfahren, menschliche Fehlerquellen, Gesetzesmängel, aber auch in der Psychologie die Urteilsfindung kann die Ursache liegen. Nur: Fehlurteile sind nicht unvermeidlich. Aber nur wer die Ursachen kennt und sich mit ihnen auseinander setzt, kann dazu beitragen, dass Fehlurteile im Strafprozess möglichst vermieden werden. Noch etwas gelingt der Autorin in beeindruckender Weise, die herausragende Bedeutung der Unschuldsvermutung auch bei massiven Anschuldigungen deutlich zu machen!