Der Einbürgerungstest – ist das alles so richtig?
Gespeichert von Prof. Dr. Thomas Hoeren am
Als die Fragen für den Einbürgerungstest veröffentlicht wurden, hat es auch mich gereizt, die mehr als 300 Fragen einmal zu beantworten. Wäre ich eingebürgert worden? Wie groß ist mein Wissen über Deutschland? Also machte ich mich an die Arbeit. Zunächst schien vieles einfach, manchmal banal beantwortet werden zu können. Doch allmählich kam ich ins Grübeln.
Einzelne Fragen hatten es „in sich“, waren nicht mit einer einfachen Antwort zu klären. In den Fragen 6 und 11 wird eruiert, wie die deutsche Verfassung heiße. Richtige Antwort soll sein: Grundgesetz. Streng genommen hat Deutschland aber keine Verfassung. Dies ergibt sich sich aus Art. 146 GG, wonach das Grundgesetz mit dem Erlass einer Verfassung (eine vom Volk selbst gegebene verbindliche Grundordnung) außer Kraft tritt. Bedenklicher ist die Fragestellung 12: Hiernach soll die Pressefreiheit ein Grundrecht sein und deshalb nicht parlamentarisch nicht abgeschafft werden können. Diese Lösung beruht auf einer falschen Leseweise des Art. 79 Abs. 3 GG. Dieser erklärt Änderungen des Grundgesetzes u.a. für unzulässig, wenn die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden. Oft wird das „und“ zwischen Art. 1 und 20 als „bis“ gelesen, was die Artikel 1 bis 20 GG einer Änderung entziehen würde. Tatsächlich erstreckt sich die Ewigkeitsgarantie nur auf Art. 1 „und“ 20 GG. Zwar gibt es berechtigte Stimmen, die gerade Meinungs- und Pressefreiheit als „fundamentale Demokratienormen“ einer Änderung ausnehmen. Die pauschalierte Begründung, dass eine Änderung oder Abschaffung unmöglich ist, da die Pressefreiheit ein Grundrecht darstellt, ist aber nicht haltbar und schlicht falsch.
Ebenso fragwürdig ist Frage 42, wonach in Deutschland ein neues Gesetz nur das Parlament beschließen kann. In Bezug auf formelle Gesetze ist dies selbstredend auch die einzig richtige Antwort. Allerdings kann die Exekutive (z.B. die Regierung) Rechtsverordnungen (aufgrund von Ermächtigungsgesetzen nach Art. 80 GG) erlassen, welche begrifflich auch materielle Gesetze darstellen. Aber auch Frage 80 hat es in sich: „Welches Gericht in Deutschland ist zuständig für die Auslegung des Grundgesetzes?“ Die richtige Antwort soll wohl sein: Das Bundesverfassungsgericht. Aber auch das ist zumindest fragwürdig. Denn alle Gerichte sind gehalten, sich an der Auslegung des Grundgesetzes zu beteiligen, etwa im Rahmen der verfassungskonformen Auslegung oder bei der mittelbaren Drittwirkung von Grundrechten. Ferner obliegt den ordentlichen Gerichten im Rahmen von Art. 100 GG die konkrete Normenkontrolle, aufgrund derer sie ihrer Ansicht nach verfassungswidrige Gesetze dem Bundesverfassungsgericht zur Prüfung vorlegen. Art. 123 GG gibt den Fachgerichten auch die alleinige Zuständigkeit für die verfassungsrechtliche Überprüfung vorkonstitutionellem Rechts.
Andere Fragen waren schlichtweg falsch gestellt. Nehmen wir Frage 258: „Was darf das Jugendamt in Deutschland?“ Als richtige Antworten schieden aus: „Das Jugendamt entscheidet, welche Schule das Kind besucht.“ Oder „Das Jugendamt bezahlt das Kindergeld an die Eltern“. Offensichtlich als einzig richtige Antwort war gedacht: „Das Jugendamt kann ein Kind, das geschlagen wird oder hungern muss, aus der Familie nehmen.“ Das ist aber unzutreffend: Das Jugendamt hat nicht die Befugnis, ein Kind aus der Familie zu nehmen. Darüber entscheidet grundsätzlich nach § 1666 BGB das Familiengericht. Daneben kann sich das Jugendamt zwar noch auf § 42 SGB VIII und die dortigen Regeln zur Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen berufen. Nach § 42 Abs. 5 SGB VIII sind freiheitsentziehende Maßnahmen des Jugendamtes jedoch nur zulässig, wenn und soweit sie erforderlich sind, um eine Gefahr für Leib oder Leben des Kindes oder des Jugendlichen oder eine Gefahr für Leib oder Leben Dritter abzuwenden. Die Freiheitsentziehung ist nach dieser Vorschrift ohne gerichtliche Entscheidung spätestens mit Ablauf des Tages nach ihrem Beginn zu beenden. Denn das primäre Zugriffsrecht für solche Maßnahmen muß schon aus rechtsstaatlichen Gründen beim Familiengericht liegen. Irritierend ist, dass die Antwort d) nicht richtig sein soll. Die Verfasser des Einbürgerungstests gehen davon aus, dass das Jugendamt nicht den Kindergartenbesuch kontrolliert. In Deutschland gibt es zwar keine Kindergartenpflicht, so dass es dem Jugendamt nicht obliegt, zu kontrollieren, ob die Eltern ihr Kind in einen Kindergarten schicken. Es können sich aber Kontroll- und Eingriffsrechte des Jugendamtes ergeben, wenn aus dem Nichtbesuchen des Kindergartens eine Kindeswohlgefährdung durch Vernachlässigung oder stundenlanges Alleinlassen der Kinder erwächst.
Der Spitzenreiter bei den Fehlern findet sich in Frage 283: „Was tun Sie, wenn Sie eine falsche Rechnung von einer deutschen Behörde bekommen?“ Richtige Antwort nach Willen der Verfasser: „Ich lege Widerspruch bei der Behörde ein.“ In Nordrhein-Westfalen wurde durch das Bürokratieabbaugesetz II § 6 AG VwGO dahingehend geändert, dass ein Vorverfahren grundsätzlich nicht mehr erforderlich ist. Insofern gibt es gegen Kostenbescheide keine Möglichkeit eines Widerspruchs mehr. Hier muß man direkt per Anfechtungsklage vorgehen. Gerade die Tatsache, dass neben 30 aus den 300 Fragen beantwortet müssen und daneben noch landesspezifische Fragen zu beantworten sind, zeigt, dass diese landesspezifische Eigenheit bedeutsam ist. Die pauschale Begründung, dass ein Widerspruch erforderlich sei, ist auf jeden Fall unzutreffend.
Ermattet setzte ich mich im Stuhl zurück und dachte nach. Welches Bild will man hier eigentlich den Neubürgern über Deutschland vermitteln: Jugendämter, die ohne richterliche Kontrolle Kinder in Gewahrsam nehmen. Eine Verfassung, die eigentlich nur ein „Grundgesetz“ ist und über deren Reichweite nur das Bundesverfassungsgericht entscheidet. Ein Widerspruch bei Kostenbescheiden, den es in einzelnen Bundesländern nicht mehr gibt. Grundrechte, die man sämtlichst nie parlamentarisch aufheben darf. Was würde geschehen, wenn ein Neubürger tatsächlich ins Grübeln kommt und die Fragen „falsch“ =“richtig“ beantwortet? Müsste ihm anraten, nach dem Prinzip der Psychotests in Frauenzeitschriften nicht nach der Wahrheit zufragen, sondern sich vorstellen, was ein unwissender Ministerialer sich beim Abfassen des Einbürgerungstests als richtige Antwort gedacht haben mag? Und so jemanden lassen wir durchfallen?
(Langfassung eines Textes aus der FAZ vom 25. September 2008, Rubrik "Staat und Recht")