Das "Mollath-Gesetz" zur verhältnismäßigen Begrenzung der Unterbringung in der Psychiatrie - neuer Diskussionsentwurf

von Prof. Dr. Henning Ernst Müller, veröffentlicht am 22.01.2015

Eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe hat in dieser Woche einen Diskussionsentwurf zur "Novellierung des Rechts der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB" vorgelegt. Die Intention zur Novellierung entstammt der Beobachtung, dass immer mehr Personen aufgrund dieser Vorschrift untergebracht sind, vor allem, weil die durchschnittliche Unterbringungsdauer gravierend angestiegen ist. Durch die besondere Öffentlichkeit des Falls Mollath in den vergangenen zwei Jahren wurde  eine Reform zusätzlich für dringlich erachtet. In der Medienöffentlichkeit wurde und wird daher die Verbindung zum Fall Mollath regelmäßig hergestellt, auch wenn es sich durchaus nicht um Einzelfallgesetzgebung handelt, sondern tausende Untergebrachte direkt oder indirekt betroffen sind (FAZ-Interview mit dem bayerischen Justizminister).

Der Diskussionsentwurf entspricht in wesentlichen Punkten demjenigen des bayerischen Justizministers, der schon im vergangenen Jahr veröffentlicht wurde (dazu hier im Blog).

Folgende zentrale Punkte stehen auf der Agenda

Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (bisher allgemein in § 62 StGB vorangestellt) wird nun konkretisiert:
In § 63 StGB soll nicht mehr die Erwartung "erheblicher rechtswidriger Taten" genügen, sondern nur noch solche Taten, "durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird". Wenn die Anlasstat nicht selbst in diesem Sinne erheblich ist, soll eine Unterbringung nur noch möglich sein, wenn „besondere Umstände die Erwartung rechtfertigen“, dass der Täter erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird.

In § 67d Abs.6 StGB soll der bisher gegenüber § 63 StGB nicht veränderte Verhältnismäßigkeitsmaßstab verschärft werden. Dies entspricht der Rechtsprechung des BVerfG, das in mehreren Entscheidungen (u.a. auch zu Gustl Mollath) ausgeführt hat, dass mit der Dauer der Unterbringung die Verhältnismäßigkeit einer weiteren Unterbringung eine strengere Bewertung gebiete. Der jetzige Entwurf sieht vor, nach sechs Jahren seit Unterbringungsbeginn eine Gefahr von Taten, durch die "Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden oder in die Gefahr einer schweren körperlichen oder seelischen Schädigung" gebracht werden, zu fordern – also mehr als nur jeweils erhebliche personenbezogene Schäden zu befürchten sind. Ab dem Zeitpunkt zehn Jahre seit Unterbringungsbeginn soll derselbe Maßstab gelten wie für die Sicherungsverwahrung (§ 67d Abs. 3 StGB).

Auch für die Begutachtung werden schärfere Regelungen eingeführt: Bei der jährlichen Überprüfung der Unterbringung soll nun eine "gutachterliche Stellungnahme" der Maßregelvollzugseinrichtung Pflicht werden - bisher stand dies nicht im Gesetz. Nach jeweils drei Jahren (bisher fünf) muss ein externes Gutachten eines „anderen“ Sachverständigen eingeholt werden, diese Frist verkürzt sich auf zwei Jahre, wenn sechs Jahre überschritten sind.

Auch im Hinblick auf die mündliche Anhörung bei der Entscheidung über die Verhältnismäßigkeit der weiteren Unterbringung folgt der Diskussionsentwurf dem bayerischen Vorschlag. Allerdings bleibt er hinter dem bayerischen Entwurf zurück, insoweit nicht mehr – auf Antrag des Untergebrachten –die Öffentlichkeit der Anhörung vorgesehen ist.

Wegen der Tausenden von „Altfällen“ ist eine Anwendung der neuen Regeln bzw. die Überprüfung bereits bestehender Unterbringungen nur mit Übergangsmodifikationen möglich, da man sonst wohl mit einem größeren Stau rechnen müsste und einem Bedarf an Begutachtungen, der kaum ad hoc erfüllt werden könnte – man rechnet sonst mit ca. 6000 Verfahren im ersten Jahr.

Dieser Entwurf geht in die richtige Richtung: Die Entwicklung der vergangenen Jahre zu immer längeren Unterbringungsdauern wird gesetzlich gebremst, vielleicht sogar eine Trendumkehr bewirkt. Die Rechtsprechung des BVerfG zur Verhältnismäßigkeit der Unterbringung wird implementiert. Aber natürlich ist zu konstatieren, dass zentrale Fehlerursachen, die dem Fall Mollath zugrunde gelegen haben, vor allem die unzureichende gegenseitige kritische Kontrolle von Justiz und forensischer Psychiatrie (siehe schon hier), damit nicht beseitigt sind.

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76 Kommentare

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Was aber bedeutet die neue Terminologie "Taten, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird", die ja nur die derzeitige Interpretation des Begriffs "erhebliche Straftat" durch die höchstrichterliche Rechtssprechung mit anderen Worten umschreibt, im Einzelfall?

 

Nehmen wir die Feststellung aus BGHSt 27, 246: "Nach den Feststellungen hat der Angeklagte eine Frau zwei Tage lang in seiner Wohnung gewaltsam festgehalten und wiederholt zur Duldung sexueller Manipulationen genötigt. In einem weiteren Fall brach er durch Einschlagen einer Fensterscheibe in ein Bienenhaus ein, wo er Lebensmittel und drei Gewehre mit Munition entwendete. Anschließend holte er drei Kaninchen aus einem Stall und schlachtete sie. Eines der entwendeten Gewehre führte er später auf der Straße mit sich, weil er einen Käufer suchte. Nach seinem Austritt aus der katholischen Kirche richtete er Briefe an kirchliche Stellen, in denen er Rückzahlung von Kirchensteuer verlangte. In einem Schreiben an das Bischöfliche Generalvikariat in Fulda vom 5. Januar 1975 drohte er, Gegenstände von entsprechendem Wert aus katholischen Kirchen wegzunehmen, wenn ihm nicht 2.000,-- DM zurückgezahlt würden. Nach Ablehnung seines Ansinnens nahm er aus einer Kirche in H. ein vergoldetes Altarkreuz, ein Gebetbuch und mehrere Kerzen weg."

 

Damals hatte die Strafkammer Unterbringung abgelehnt, der BGH beanstandete dies. Wäre der Fall de lege ferenda anders zu entscheiden?

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@VRiLG

Gute Frage. Was § 63 StGB betrifft, so beschränkt sich der Entwurf zunächst darauf, die höchstrichterliche Rechtsprechung (BGH, BVerfG) zu kodifzieren, mit dem Ziel, die "Rechtspraxis zu sensibiliseren" (Entwurfsbegründung, Seite 4). Das ist auch nötig, wenn man sieht, daß es heute noch Richterinnen gibt, die wegen Schwarzfahrens eine Unterbringung ansteuern (http://dejure.org/2014,43163, https://gabrielewolff.wordpress.com/2014/12/13/der-fall-mollath-das-buch...).

In welchen Punkten der Entwurf die Anforderungen gegenüber der heutigen Rechtsprechungen erhöhen will, ist in der Entwurfsbegründung ausgeführt. Das gilt etwa für Vermögensdelikte, also dem Fall aus Ihrem Beispiel BGH, http://dejure.org/1977,94.

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Was aber bedeutet die neue Terminologie "Taten, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird".

 

Das würde mich auch interessieren.

Wenn Opfer so schwer psychisch geschädigt wurden, dass schwerste postraumatische Belastungsstörungen bis hin zu schweren Dissoziatioen immer wieder auftreten, die zu Arbeitsunfähigkeit geführt haben und nach 8 Jahren keine Besserung trotz vielfacher Behandlungen ( freiwillige Behandlungen stationär + ambulant ) eingetreten ist, sieht die Staatsanwaltschaft  keinen Anfangsverdacht. 

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Seit 20. Juli 2007 lautet § 463 (4) StPO ja

Der Sachverständige darf weder im Rahmen des Vollzugs der Unterbringung mit der Behandlung der untergebrachten Person befasst gewesen sein noch in dem psychiatrischen Krankenhaus arbeiten, in dem sich die untergebrachte Person befindet.

Leipziger hat doch über seinen "eigenen" "Patienten" Gutachten abgegeben, oder trügt mich meine Erinnerung?

Rechtsbeugung der Strafvollstreckungskammer Bayreuth oder Schlamperei?

Was bringt eine groß angekündigte Reform, wenn die Strafvollstreckungskammern sich einen Dreck um Recht und Gesetz scheren und doch machen, was sie wollen?

 

@Mein Name,

auf welches Gutachten beziehen Sie sich denn?

Das mir bekannte Mollath-Gutachten von Dr. Leipziger stammt aus dem Jahr 2005 (!) und war Ergebnis einer Beobachtungs-Unterbringung, die zum Zwecke der Gutachtenerstellung angeordnet wurde.

Es stört mich an der Debatte etwas, dass einige bereit sind, sehr schnell von Rechtsbeugung zu reden, bevor überhaupt die relevanten Fakten genannt werden.

Ich denke, man kann schon davon ausgehen, dass sich die StVK an die Vorgaben der (jeweils geltenden) StPO-Vorschriften halten, auch wenn das keine Garantie dafür ist, dass die Gutachten inhaltlich besser werden.

Besten Gruß

Henning Ernst Müller

 

Sehr geehrter Herr Professor Müller,

 

ich habe eine Frage zu einem Aspekt, der bisher noch gar nicht diskutiert wurde: Was halten Sie als Kriminologe denn von der beabsichtigten Neufassung des § 463 Abs. 4 StPO, in dem ohne Not aus dem sonst üblichen neutralen Begriff "Sachverständiger" der "ärztliche oder psychologische Sachverständige" gemacht wird?

Ich halte das nicht nur vor dem Hintergund "Mollath" für problematisch. Insbesondere besitzt meines Wissens weder die Psychiatrie noch die Psychologie eine originäre Zuständigkeit für die Kriminalprognostik. Wie bereits die hohe Prävalenz psychischer Störungen in der nicht-straffälligen sog. Normalbevölkerung zeigt, folgt aus einer solchen Erkrankung für die Kriminalprognose erst einmal nichts, sondern es kommt auch in diesen Fällen auf die Kriminovalenz des Verhaltens an. Die dafür erforderlichen kriminologischen Kenntnisse müssen sich auch forensische Psychologen und Psychiater erst in Weiterbildungen verschaffen (vgl. z.B. die auf S. 24 der Entwurfsbegründung genannten DGPPN-Zertifikate); Gegenstand ihrer Grundausbildung sind sie i.d.R. nicht. Deshalb hätte es m.E. vollkommen ausgereicht, wenn im neuen § 463 Abs. 4 StPO vom "Sachverständigen mit forensischer Sachkunde und Erfahrung" gesprochen würde. Einer sachfremden Verengung auf die Fachrichtung hätte es dagegen nicht bedurft.

 

Beste Grüße

Sebastian Sobota

Was dennoch fehlt ist die Vorschrift, dass nicht nur der Sachverständige, der nach 5 Jahren beurteilen soll, nichts mit der Unterbringungsklinik zu tun hat, sondern auch die Personen, die das Erst"gutachten" verfassen.

Sonst verstehen die Klinikchefs nämlich die Gerichte als Beschaffungsmarkt, wie bei Thomas Lindlmair:
Ließ den GV nicht rein zur Wohnungsräumung (irgendwie verständlich), Anklage wegen Widerstands gegen VB, Gutachten nach Aktenlage: gemeingefährlich - ausgestellt vom Chefarzt der Klinik, in der er danach 3 Jahre untergebracht war. Geschehen in Bayern, wenig verwunderlich. Da drängt sich der Verdacht der Organisierten Kriminalität - Freiheitsberaubung aus niederen Beweggründen, nämlich Geldgier - durchaus auf.

1. Bayerische Standards?

https://www.justiz.bayern.de/presse-und-medien/pressemitteilungen/archiv...

Kennt jemand die Anlage? Diesen Standardbogen für die Beurteilungen der weiteren Unterbringung?

 

2. Kampf der Disziplinen?

Ich finde es gut, dass ärztliche oder psychologischer Sachverstand gefordert wird. Psychologen verordnen in der Regel keine Medikamente ;-)

Die Ärzteschaft ist generell bei der Gesundheitsförderung/Behandlung zu mächtig. Es gibt viele andere Berufsgruppen, die auch Wissen haben, wie z. B. Logopädie, Physiotherapie, Hebammen u.s.w. . Selten wurden bisher Gutachten an Psychologen vergeben, wenn diese im Gesetz extra erwähnt sind, wird das vielleicht anders.

 

3. Wirklich eine Neuerung?

Ist die Neuformulierung wirklich eine Neuerung? Oder ist es lediglich eine Konkretisierung der bisherigen Norm mit Rücksicht auf die Entscheidungen des BVerfG?

Was wäre, wenn jetzt die Grundrechte der untergebrachten Personen schon beachtet werden würden?

 

4. Kunstfehler?

Wenn jemand - trotz behaupteter Gefährlichkeit - entlassen werden muss, so kann das doch nur ein Kunstfehler des Gerichts sein, welches eine mangelhafte Begründung geliefert hat. Oder ist es tatsächlich möglich, dass ein für die Allgemeinheit gefährlicher Mensch entlassen werden muss, weil ausreichend Zeit abgelaufen ist?

Ich dachte immer, die Unterbringung erfolgt zur Sicherung der Allgemeinheit? Je länger die Unterbringung dauert, desto genauer muss hingeschaut und begründet werden ...

 

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Die Frage ist natürlich, ob es überhaupt solche Menschen gibt, die wirklich weggesperrt werden müssen. Vermutlich gibt es bis auf wenige Einzelfälle immer mildere Maßnahmen, als den totalen Freiheitsentzug. Nur leider haben die Mitglieder einer Strafvollstreckungskammer selten umfassende Ahnung über die verschiedenen Angebote im sozialen Bereich.

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Sehr geehrter Herr Prof. Müller,

ist das hier auch das Diskussionsforum zum

"Gesetzentwurf der Staatsregierung über den Vollzug der Maßregeln der Besserung und Sicherung sowie der einstweiligen Unterbringung (Bayerisches Maßregelvollzugsgesetz – BayMRVG)."

oder ist dafür ein eigener Blog vorgesehen?

 

Sehr geehrter Herr Prof. Müller,

Sie kündigten am 3.6.  in den nächsten Tagen einen Blogbeitrag zum Maßregelvollzugsgesetz an. Habe ich den nicht gefunden oder ist der noch nicht platziert?

Beste Grüße

Rudolf Sponsel

Der Referententwurf liegt nun vor:

"Referentenentwurf
des Bundesministeriums der Justiz und für Verbrauche
rschutz Entwurf  eines  Gesetzes  zur  Novellierung  des  Rechts  der  Unterbrin-
gung in einem  psychiatrischen  Krankenhaus  gemäß § 63 des Strafgesetzbuches"

http://www.bmjv.de/SharedDocs/Downloads/DE/pdfs/Gesetze/RefE-StGB-Novell...

 

 

 

Entschuldigung, aber eine kritische Kontrolle innerhalb der Justiz wird wohl erst durch die praktische Möglichkeit der Ablehnung von Richtern, der Diszilinarverfahren bei Schlampigkeit oder Verstoss gegen Verfahrensrechte, weniger restriktive Abweisung von Rechtmitteln / Wiederaufnahmen und nicht zuletzt die Strafverfolgung wegen Rechtsbeugung und Beihilfe erreicht werden. Damit meine ich nicht die von Oben verordnete. Die funktioniert vermutlich viel zu gut. Es fehlt am Schutz für die in Verfahren auf sich Gestellten und in der Regel Machtlosen. Faktisch müssen diese eigentlich ja geltenden Kontrollfunktionen, deren Anwendung angeblich wegen der Sorge vor Ansehensverlusten der Justiz informell ausgeschlossen wurden, (wieder) aktiviert werden. Jedes aktive System benötigt eine tatsächlich wirksame Gegenkopplung und Kontrolle, damit eine stabile Funktion sichergestellt ist. Wer das ignoriert, will die behauptete Funktionalität des Systems gar nicht.

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Hallo Herr Lippke,

hier weise ich auch mal auf das Thema des Umgangs der Justiz mit einem Sicherungsverwahrten hin, der sich "passiv wehrte", welch schöne Wortkombination, die man sich langsam auf der Zunge zergehen lassen muß.

Ein Schelm ist, wer Böses dabei denkt ......

Thomas-Oliver Meyer-Falk schreibt dazu in der "community" hier, bereits gestern und auch heute wieder, denn "Am 16.07.2015 überschlugen sich die Ereignisse."

Der Titel ist: "Hungerstreik geht weiter - Droht Entmündigung?"

Ich wollte das schon gestern zitieren und auch verlinken und wurde gleich mehrfach (prompt?) damit blockiert.

Ein doppelter Schelm ist, wer auch da Böses dabei denkt ....

Sehr geehrter Herr Prof. Müller,

am 3.6. planten Sie einen Blogbeitrag zum Maßregelvollzugsgesetz in den nächsten Tagen. Am 6.7. teilten Sie mit, Sie arbeiten nach einer technischen Panne an einer neuen Version. Nun schreiben wir den 29.7. Und diese Woche läuft m.W. die Frist für Stellungnahmen der Verbände ab. Wollten Sie diesen Termin noch abwarten?

Mit freundlichen Grüßen

Rudolf Sponsel

 

Stellungnahmefrist für die Verbände zur 63er Reform läuft gegen Ende des Monats aus

Henning Ernst Müller schrieb:

Das MRVG ist bereits vom Landtag verabschiedet und tritt am 1. August in Kraft.

Vgl. hier:

http://www.stmas.bayern.de//presse/pm1507-154.php

Sehr geehrter Herr Prof. Müller,

ich nehme an, Sie wollen damit zum Ausdruck bringen, dass zum MRVG deshalb kein Diskussionsbedarf mehr besteht und deshalb auch ein gesonderter blog für Sie nicht mehr aktuell ist. Für Interessierte: Auf meinen Seiten wird das Gesetz weiter kritisch begleitet:

http://www.sgipt.org/forpsy/Reform/Bayern/eBM/eBM-ZAS.htm

Für den 63er Gesetzesentwurf endet m.W. die Stellungnahmefrist für die Verbände Ende des Monats. Sinnvoll schiene, die wichtigsten Stellungnahmen hier zu verlinken, um den Diskussionsprozess zum Finale fortzusetzen.

MfG R. Sponsel

 

 

Sehr geehrter Herr Sponsel,

nachdem das am 1. August in Kraft tretende Gesetz (BayMRVG) letzte Woche noch nicht verkündet war
(jetzt hier: https://www.verkuendung-bayern.de/files/gvbl/2015/08/gvbl-2015-08.pdf),

habe ich auf die offizielle Version gewartet, um nicht einen veralteten Entwurfswortlaut zu kommentieren. Aber das werde ich selbstverständlich zum Inkrafttreten des Gesetzes tun.

Unsere Demokratie ist so gestaltet, dass auch vernünftige Einwände im Gesetzgebungsprozess nur dann eine Chance haben, wenn sie von der mit absoluter Mehrheit regierenden Partei übernommen werden.

Besten Gruß

Henning Ernst Müller

 

Bloggeschichten - who is who?

Sehr geehrter Herr Prof. Müller,

Henning Ernst Müller schrieb:

Sehr geehrter Herr Sponsel,

nachdem das am 1. August in Kraft tretende Gesetz (BayMRVG) letzte Woche noch nicht verkündet war
(jetzt hier: https://www.verkuendung-bayern.de/files/gvbl/2015/08/gvbl-2015-08.pdf),

habe ich auf die offizielle Version gewartet, um nicht einen veralteten Entwurfswortlaut zu kommentieren. Aber das werde ich selbstverständlich zum Inkrafttreten des Gesetzes tun.

Unsere Demokratie ist so gestaltet, dass auch vernünftige Einwände im Gesetzgebungsprozess nur dann eine Chance haben, wenn sie von der mit absoluter Mehrheit regierenden Partei übernommen werden.

Besten Gruß

Henning Ernst Müller

Wenn ich das richtig sehe, befinden wir uns hier im Blog zur Reform des § 63 StGB. Dieses Gesetz ist ja noch nicht verabschiedet. Machen Sie nun noch einen blog zum schon verabschiedeten und inzwischen auch verkündeten BayMRVG auf oder nicht?

MfG R. Sponsel

 

 

 

 

 

Nach dieser Klärung können wir hier also mit der 63er Reform weitermachen

Henning Ernst Müller schrieb:

Siehe hier:

http://blog.beck.de/2015/08/06/fall-mollath-ein-jahr-nach-der-neuen-haup...

Sehr geehrter Herr Prof. Müller,

haben Sie die aktuelle und letzte Version des Referentenentwurfs

http://www.bmjv.de/SharedDocs/Downloads/DE/pdfs/Gesetze/RefE-StGB-Novell...

in Ihren Einstieg schon eingearbeitet?

MfG R. Sponsel

Sehr geehrter Herr Dipl.-Psych. Dr. Sponsel,

sehr geehrter Herr Prof. Dr. Müller,

 

sehe ich es richtig, daß hier nach wie vor eine Zwangsmedikation möglich sein soll, ob unter der Prämisse "Gefahr im Verzug", oder "Einsichtsunfähigkeit", selbst bei einer vorher errichteten und damit wirksamen Psychiatrischen Patientenverfügung?

Ebenso zum Zwecke einer "Medikamenten-Wirksamkeits-Studie"?

Dies allerdings wäre dann m.E. doch keine gezogene Lehre aus dem "Fall Mollath", auf die ja auch vielfach gehofft wurde.

 

Mit freundlichen Grüßen

Günter Rudolphi

Gesetz und Referenten Entwurf eines  Gesetzes zur Novellierung des § 63 StGB mit Vergleich bisheriger Fassungen

http://www.sgipt.org/forpsy/Reform/Re63/REF63-00.htm

Ich habe hier noch einmal die die geplanten Änderungen vergleichend gegenüber gestellt.

Anmerkung für Herrn Rudolphi #28

Das Thema Zwangsmedikation habe ich im Ref.Entwurf nicht gefunden. Wenn Sie über andere Informationen verfügen, wäre es nett, wenn Sie die entsprechenden Gesetzesstellen oder geplanten Veränderungen zitieren würden.

 

Kartell gegen den § 63 StGB gegründet

"Am 15. September 2015 hat sich das Kartell gegen § 63 gegründet.  
Alle, die sich in dem Kartell zusammengeschlossen haben, sind sich in Folgendem einig: 

Wir sind entschlossen, uns aktiv für die Abschaffung des § 63 StGB einzusetzen, weil er Unrecht ist. Am 24. November 1933 als Teil einer „als ob“ Version von Recht geschaffen ist die Willkür einer Diagnose von krankhafter Schuldunfähigkeit bei gleichzeitiger Gefährlichkeit offenkundig geworden, angefangen von Diagnosen als Todesurteilen von 1939-1948 über das Rosenhan Experiment, die von Armin Nack, dem Präsidenten des 5. BGH Strafgerichtshof als Richter hochgelobten Gutachten des Laiendarstellers Gert Postel, den gegensätzlichen Begutachtungsergebnissen von Frank Schmökel und Anders Behring Breivik, bis hin zu den aktuellen Skandalen um Gustl Mollath, Ilona Haslbauer, Ulvi Kulac. 

Zwei Merkmale des Vollzugs des § 63 in der forensischen Psychiatrie: 
• Willkürliche und regelmäßig längere Freiheitsberaubung als bei einem vergleichbaren Delikt im Regelvollzug 
• Erzwungene Körperverletzung durch psychiatrische Zwangsbehandlung.  
Der UN-Sonderberichterstatter über Folter und grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Juan Méndez, hat bereits seit 2013 einen „absolut Ban“ jeder Zwangsbehandlung legitimierenden Gesetzgebung gefordert. Staatlicher Zwang zu erduldender Körperverletzung per Gesetz steht vor der Todesstrafe als schärfste Sanktion des Strafrechts. 

Allen am Kartell Beteiligten ist bewusst, dass der § 63 bisher in der deutschen Rechtsdogmatik den Menschenrechten zuwider für ein ehernes Gesetz gehalten und vom BVerfG für verfassungskonform erachtet wird. Wir orientieren uns an der Behindertenrechtskonvention (BRK) und dem absoluten Folterverbot. Das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte hat stattdessen klargestellt, dass der § 63 mit der BRK als völkerrechtlichem Vertrag unvereinbar ist.1  Wir erinnern daran, dass Artikel 1 (2) GG die BRD auf die Einhaltung der BRK verpflichtet. 

Das Folterverbot ist Grund dafür, dass das BVerfG den § 81 StPO am 9.10.2001 für unzulässig erklärt hat. Alle am Kartell Beteiligten verfolgen deswegen in einem ersten Schritt das Ziel, dass der ähnliche § 126 a StPO vom BVerfG für unvereinbar mit dem GG erklärt wird.

Damit würde es jedem Beschuldigten möglich, eine Untersuchung auf Schuldunfähigkeit erfolgreich zu verweigern. Die Sichtweise, dass einem Beschuldigten in aller Regel dazu geraten werden sollte, diese Untersuchung zu verweigern, wird unseres Erachtens in der strafverteidigenden Anwaltschaft breite Unterstützung finden und sich dann auch in der Bevölkerung herumsprechen. Damit würde der § 63 so unterhöhlt, dass auch der Gesetzgeber nur noch die einzig richtige Konsequenz ziehen kann:  

                                   Die Abschaffung des § 63 StGB 
 

Um zu dokumentieren, dass wir mit den Organisationen der Betroffenen übereinstimmen, werden die Veröffentlichungen des Kartells von dem Bundesverband und der Bundesarbeitsgemeinschaft Psychiatrie-Erfahrener gemeinsam herausgegeben. Sie werden von deren Forensik-Beauftragten presserechtlich verantwortet. "

Quelle:

http://userpage.fu-berlin.de/narrwd/kartell.htm

 

 

Wo steht bitte in der Entscheidung, dass § 81 StPO unzulässig sei?

Wenn ein Mensch in einer Manie Straftaten begeht, im Ermittlungsverfahren gibt es ein Gutachten über die Schuldunfähigkeit und dann wird das Verfahren eingestellt, dann hat dieser Mensch eine Sorge weniger. Oft stehen die Menschen nach einer manischen Phase doch vor einem Scherbenhaufen, der wäre dann etwas kleiner.

 

Und als Bürger sage ich ganz klar: Menschen, die anderen Menschen gefährlich werden könnten, weil sie als einzige bestimmte Gefahren sehen und beseitigen wollen, gehören ganz besonders gut betreut. Da bin ich froh, wenn diese Menschen z. B. nur in behüteter Begleitung U-Bahn fahren. Natürlich braucht es keine jahrelange Unterbringung, wie es heute in so mancher Forensik praktiziert wird. Aber irgendeinen Schutz wünsche ich mir schon vor so manchen Menschen.

Ich meine, es muss etwas gegen die Art und Weise der angeblichen Therapie getan werden. Da sollten alle mal genau hinschauen, wie die Verwahrung in so mancher Anstalt aussieht.

 

Was soll mit Menschen passieren, die z. B. Stimmen hören, dass sie alle Menschen mit braunen Schuhen töten sollen?

 

 

 

 

 

0

Sehr geehrter Hr. Dr. Sponsel,

Sie schrieben:

"Das Thema Zwangsmedikation habe ich im Ref.Entwurf nicht gefunden."

Und das machte mich ja auch stutzig, denn einen klaren Ausschluß von Zwangsmedikationen konnte ich ebenfalls nirgends entdecken. Soll da also weiter eine Grauzone bestehen bleiben?

Mit freundlichen Grüßen

Günter Rudolphi

Sehr geehrte Kommentatoren,

dass das Thema Zwangsmedikation im Referentenentwurf zu den §§ 63 StGB nicht erwähnt wird, ist nicht verwunderlich. Die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen Untergebrachte im Maßregelvollzug medikamantös behandelt werden dürfen, ist keine strafrechtliche Frage. Sie liegt daher auch gar nicht in der Kompetenz des Bundesgesetzgebers. Es ist eine Frage des Vollzugs der Unterbringung und eine der Gesundheitsversorgung, beides sind Materien landesgesetzlicher Regelung.

Insofern ist es auch konsequent, dass die Behandlung - auch diejenige gegen den Willen des Untergebrachten -  z.B. in Art. 6 des  neuen Bay. Maßregelvollzugsgesetz (BayMRVG) geregelt ist.

Zu diesem Gesetz mein Beitrag vom August:

http://blog.beck.de/2015/08/06/fall-mollath-ein-jahr-nach-der-neuen-haup...

Mit bestem Gruß

Henning Ernst Müller

 

Sehr geehrter Hr. Prof. Dr. Müller,

Sie schrieben:

"Insofern ist es auch konsequent, dass die Behandlung - auch diejenige gegen den Willen des Untergebrachten -  z.B. in Art. 6 des  neuen Bay. Maßregelvollzugsgesetz (BayMRVG) geregelt ist."

Eine Behandlung gegen den Willen des Untergebrachten würde aber eine wirksame psychiatrische Patientenverfügung nach BGB § 1901a Abs. 1 verhindern können, denn darin kann jede ärztliche Behandlung im Sinne einer psychiatrischen Behandlung, inklusive jeder psychiatrischen Untersuchung, d.h. psychiatrische Anamnese, Diagnose und Therapie, also auch medikamentöse Therapie, ja definitiv ausgeschlossen werden.

Dazu ein Zitat aus dem BayMRVG Art. 6 Abs. 4 (Behandlung psychischer Erkrankungen):

"Eine wirksame Patientenverfügung der
untergebrachten Person nach § 1901a Abs. 1 des Bürgerlichen
Gesetzbuchs (BGB) ist zu beachten.
"

Aber was dann im Vollzug in Zukunft wirklich passiert (".... ist zu beachten."), das würde ich doch erst noch abwarten wollen, ob diese Patientenverfügung dann auch tatsächlich bindend und ausnahmslos beachtet wird.

Mit freundlichen Grüßen

Günter Rudolphi

@Günter Rudolphi

Eine Behandlung gegen den Willen des Untergebrachten würde aber eine wirksame psychiatrische Patientenverfügung nach BGB § 1901a Abs. 1 verhindern können, denn darin kann jede ärztliche Behandlung im Sinne einer psychiatrischen Behandlung, inklusive jeder psychiatrischen Untersuchung, d.h. psychiatrische Anamnese, Diagnose und Therapie, also auch medikamentöse Therapie, ja definitiv ausgeschlossen werden.

Das ist meiner Meinung nach nicht richtig. Das öffentliche Recht ist nicht akzessorisch zum bürgerlichen Recht (für das der Bundesgesetzgeber die Gesetzgebungskomptenz hat und hier wahrgenommen hat), sondern beide stehen selbstständig nebeneinander (wenn nicht sogar das ö.R. das bürgerliche Recht überwölbt). Der Landesgesetzgeber kann (wie hier) auf das BGB Bezug nehmen, muß es aber nicht.

3

@ OG

Gehen wir aber davon aus, der Untergebrachte wird als einwilligungsfähig angesehen, dann würden doch nach dem neuen BayMRVG folgende Bestimmungen des Art. 6 gelten (Zitat):

 

"(4) 1Willigt die untergebrachte Person in die Behandlung
nicht ein, hat die Maßregelvollzugseinrichtung
den Vorgang der nach §§ 110 und 138 Abs. 3
StVollzG zuständigen Strafvollstreckungskammer
vorzulegen. 2Für das gerichtliche Verfahren gelten
§§ 109 bis 121 StVollzG entsprechend, ohne dass es eines
Antrags der untergebrachten Person bedarf. 3Die
Maßnahme darf eine Behandlungsdauer von zwölf
Wochen nicht überschreiten. 4Für die Verlängerung
der Anordnung gelten die Vorschriften für die erstmalige
Anordnung entsprechend. 5Die Maßnahmen
sind durch einen Arzt oder eine Ärztin durchzuführen,
zu überwachen und in regelmäßigen Abständen auf
ihre Eignung, Notwendigkeit und Angemessenheit zu
überprüfen."

 

Das könnte dann m.E. aber auch die Zwangsbehandlung mit Zwangsmedikation bedeuten.

Vielleicht äußern sich aber auch noch andere Kommentatoren dazu.

Zum vielleicht besseren Verständnis des Kartells

Ich habe den Text des Kartells in meinem Umfeld verbreitet und die Kritik ein wenig gesammelt:

DieHauptkritik, die kommt, ist ungefähr: was passiert dann mit denen, die Straftaten aus psychischen Störungen heraus begehen? Man verweist einerseits auf das Ausland, wo es so etwas wie den 63er gibt, andererseits vermisst man Alternativen. Ganz normaler Strafvollzug als gäbe es die psychische Störung nicht?

Das Werner-Fuß-Zentrum (WFZ) hat hierzu wie folgt Stellung genommen:

Quote:

"Selbstverständlich Ja, weil nachträglich die Voraussetzung für die Bestrafung mit dem § 63, die Einsicht- und Steuerungsfähigkeit einer Person zur Zeit der Begehung einer Tat, nicht festgestellt werden können. Die vom Kartell erwähnten Beispiele der reinen Willkür psychiatrischen Diagnonsens sind evident. Im Gegenteil ist vielmehr davon auszugehen, dass es nachträglich gar keine Möglichkeit einer Verifizierbarkeit der Unterstellung von "Schuldunfähigkeit" gibt, denn es kann aus denselben Gründen das Verschiedenste getan werden, wie aus den verschiedensten Gründen das Gleiche getan werden kann. Es gibt also jenseits einer gewissen Plausibilität keine klare Zuordnung von Gründen zu Verhalten, keine sichere Herleitung von Gedanken aus Taten, genauso wenig wie umgekehrt. Diese Freiheit macht vielmehr den Kern menschlicher Freiheit und Würde aus. Eine rückwärtige Begutachtung von angeblicher "Schuldunfähigkeit" beruht nur auf Geständniszwang, in Wahrheit ist es ein willkürliches Stochern im Nebel unter Vortäuschung angeblicher "Wissenschaftlichkeit".

 

Ein anderes Beispiel bestätigt die praktische Unmöglichkeit solcher Rückwärtsbegutachtungen: Zu Recht kann nahezu kein Testament nach dem Tod des Erblassers noch wegen mangelnder Testierfähigkeit anfochten werden, denn Geisteszustände sind flüchtig, nur aktuell gegeben und plastisch; sie ändern sich oft diskontinuierlich, spontan, in Brüchen. Zwar kann Alkohol- oder Drogenkonsum im Blut gemessen werden, aber der damit verbundene Kontrollverlust kann Schuld nicht negieren, da er von der betroffenen Person ja wissentlich herbeigeführt wurde.

Ein schönes Beispiel für die Willkür des Diagnonsens und seiner Revision ist hier nachzulesen: http://www.tagesspiegel.de/berlin/nach-drei-jahren-in-der-psychiatrie-simulant-will-endlich-ins-gefaengnis/5928768.html

Im ganz normalen Strafvollzug kann dann, wenn der Verurteilte meint, angeblich oder tatsächlich "psychisch krank" zu sein, selbstverständlich einen Arzt/In bzw. Psychiater um eine Untersuchung und Diagnose bitten. Wenn der auch der Meinung ist, der Verurteilte sei geisteskrank, dann kann er (selbstverständlich nur mit informed Consent) im Strafvollzug seine Therapien anbieten (z.b. im Haftkrankenhaus). Wenn der Doktor dann vor dem Ende der Regelvollzugszeit zu der Überzeugung kommt, er habe diese Geisteskrankheit geheilt, dann kann er das Strafvollzugsgericht davon überzeugen, dass dieses vorzeitig entlassen kann/soll.

Wie der Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener in seinem Positionspapier richtig schreibt, Zitat: "Wenn Ärzte der Überzeugung sind, durch Therapien Kranken helfen zu können, können sie diese in den Krankenabteilungen der Haftanstalten anbieten. Falls dies Verkürzungen der Regelvollzugszeit zur Folge hat, dürfte die Nachfrage sehr groß sein." http://bpe-online.de/verband/vorstandsmitteilungen/stgb-63.pdf

Sehr geehrter Herr Sponsel,

wenn man Wert auf Wissenschaftlcihkeit legt, wie es das WFZ behauptet, dann sollte man sie auch in den eigenen Stellungnahmen beherzigen. Ich kann darin wenig mehr erkennen als ein auf plakativen Einzelfällen beruhendes Behaupten und Geraune. Eine solche schwachbrüstige Stellungnahme wird aus meiner Sicht dem ja durchaus bedenkenswerten Anliegen des "Kartells" (btw komischer Name) eher schaden als nützen.

Natürlich ist Schuldfähigkeit ein Konstrukt, dessen (positive wie negative) Nachweisbarkeit äußerst problematisch ist. Aber wer schon leugnet, dass es überhaupt Psychosen gibt, die die Kontrollierbarkeit des menschlichen Verhaltens betreffen können und sich dafür auf einen Einzelfall bezieht, bei dem ein "schlauer" Verbrecher die Symptome vortäuschte, der ist nah bei denen, die Krebs mit Globuli oder Vitamin C  behandeln wollen.

Entschuldigung, aber das kann doch alles nicht Ihr Ernst sein?

Mit besten Grüßen

Henning Ernst Müller

 

#38

Sehr geehrter Herr Müller,

zu den Fragen, welche konkreten Positionen in Sachen § 63 oder Krebs wissenschaftlich(er) sind, kann ich nicht so viel beitragen. Ich stelle mir nur gerade vor, dass die Erde nach herrschender Meinung eine Scheibe wäre und von offizieller Seite würde vor Reisen bis an den Horizont massiv gewarnt. Nun käme ein schwachbrüstiger Einzelfall - "Strolch" daher und behauptet, dass er ungefährdet von jenseits des Horizonts daherkommt und das mit der Sonnenlaufbahn auch irgendwie anders als offiziell verlautbart sei. Will sagen: Ob das, was historisch zur Auflösung des herrschenden Aberglaubens führte, alles streng wissenschaftlich war, weiß ich nicht. Streng wissenschaftlich in der Logik des Aberglaubens gewiss nicht. Zumindest schreckt uns heute der physikalische Horizont (Phänomen, Konstrukt) nicht mehr vom Reisen ab.

Es mag Ihnen als nicht wissenschaftlich und vor allem nicht durchgreifend erscheinen, was Sie da beim "Kartell" gelesen haben. Aber es genügte doch eigentlich bereits ein Strolch und das Unvermögen, das herrschende Konstrukt gegen dessen Einzelfall zu verteidigen. 

Mit freundlichen Grüßen

Lutz Lippke 

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Sehr geehrte Kommentatoren,

dazu will ich eine kürzlich selber beobachtete Verhandlung vor dem Amtsgericht beisteuern. Ein unauffälliger junger Mann, der in laufender psychiatrischer ambulanter Behandlung mit reiner Gesprächstherapie noch war, war einer gefährlichen Körperverletzung bei einem Streit angeklagt worden.

Vor Jahren war er auch in stationären Behandlungen gewesen, es gab da diverse Diagnosen, auch aus dem sog. "schizophrenen Formenkreis", d.h. auch mit psychotischen Zuständen. Aus den Zeugenaussagen bei der Hauptverhandlung ergaben sich jedoch keinerlei Hinweise auf eine eingeschränkte Steuerungsfähigkeit während der Tat, auch nicht aus dem Nachtatverhalten. Der psychiatrische Gutachter, der sogar noch einmal nachbegutachtet hatte, verneinte sowohl den §20, als auch den §21 StGB.

Der Verteidiger allerdings insistiert mehrfach und geradezu penetrant, ob der Gutachter denn ein psychotisches Verhalten zum Tatzeitpunkt "völlig ausschließen" könnte, seine leicht erkennbare Taktik waren Milderungsgründe.

Das ist aber doch grundsätzlich nicht möglich, etwas in dieser Richtung "völlig auszuschließen", denn hier zählen Wahrscheinlichkeiten, keine Absolutheiten, die es nicht geben kann. Um also für seinen eigenen Mandaten hier eine Milderung herauszuholen, hat er alle Menschen, die sich früher einmal stationär psychiatrisch behandeln ließen, als unsichere Kantonisten indirekt diskriminiert, denen man im Prinzip eigentlich alles zutrauen könnte, aber der Angeklagte hatte auch keinerlei Einträge im Bundeszentralregister gehabt.

Die noch junge Richterin hatte sich aber nicht darauf eingelassen, und das war auch m.E. sehr gut so, die Haftstrafe wurde sowieso zur Bewährung ausgesetzt.

Was im Kopf eines doch zum Tatzeitpunkt übereinstimmend als "unauffällig" beschriebenen Delinquenten wirklich und ganz genau vorgeht, kann auch ein Psychiater nicht Monate später durch Explorationen mit Bestimmtheit feststellen. Wer es anders sieht, der müßte ja ein Hellseher sein oder über andere übersinnliche Fähigkeiten verfügen.

Damit würde man dann aber auch im Fernsehen auftreten und sehr viel Geld verdienen können.

 

Mit freundlichen Grüßen

Günter Rudolphi

Der Verteidiger allerdings insistiert mehrfach und geradezu penetrant, ob der Gutachter denn ein psychotisches Verhalten zum Tatzeitpunkt "völlig ausschließen" könnte, seine leicht erkennbare Taktik waren Milderungsgründe.

Das ist aber doch grundsätzlich nicht möglich, etwas in dieser Richtung "völlig auszuschließen", denn hier zählen Wahrscheinlichkeiten, keine Absolutheiten, die es nicht geben kann. Um also für seinen eigenen Mandaten hier eine Milderung herauszuholen, hat er alle Menschen, die sich früher einmal stationär psychiatrisch behandeln ließen, als unsichere Kantonisten indirekt diskriminiert, denen man im Prinzip eigentlich alles zutrauen könnte, aber der Angeklagte hatte auch keinerlei Einträge im Bundeszentralregister gehabt.

Nach dem Maßstab der Kammer des LG Regensburg im Fall Mollath hätte hier wahrscheinlich nicht nur - in dubio pro reo - § 21 StGB, sondern sogar § 20 StGB angenommen werden müssen. Eine Unterbringung nach § 63 StGB wäre in diesem Fall selbstverständlich - mangels sicherer positiver Überzeugung - nicht in Frage gekommen, deshalb war der Anwalt auf der sicheren Seite.

Ich erwähne das nur, weil man an diesem Fall die Unvertretbarkeit der Regensburger Entscheidung - am Maßstab der sonstigen Praxis - demonstrieren kann.

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Sehr geehrter Herr Lippke,

ich habe mich mit meiner Kritik nicht auf das Kartell bezogen (bitte nochmal lesen!), sondern die von Herrn Sponsel angeführte Antwort/Stellungnahme des WFZ, die m.E. völlig ungeeignet ist und deshalb dem Anliegen eher schadet. Zu Ihren sonstigen Ausführungen mag ich mich auch gar nicht äußern.

 

 

Sehr geehrter Herr Rudolphi,

Sie schreiben:

Was im Kopf eines doch zum Tatzeitpunkt übereinstimmend als "unauffällig" beschriebenen Delinquenten wirklich und ganz genau vorgeht, kann auch ein Psychiater nicht Monate später durch Explorationen mit Bestimmtheit feststellen. Wer es anders sieht, der müßte ja ein Hellseher sein oder über andere übersinnliche Fähigkeiten verfügen.

Das sehe ich genauso und habe es zum Fall Mollath auch häufig hier mit diesen und anderen Worten geschrieben. Das gilt im Übrigen auch für einen Angeklagten, der vor Gericht "auffällig" ist.

Beste Grüße

Henning Ernst Müller

 

Wenn man über die Abschaffung des § 63 StGB nachdenkt sollte man m.E. einen Blick in Richtung USA werfen, wo psychisch kranke Straftäter in der großen Mehrzahl der Fälle im Gefängnis landen.

Quote:

A study of 132 suicide attempts in a county jail in Washington found that 77 percent of them had a “chronic psychiatric problem,” compared with 15 percent among the rest of the jail population.

In a country where the mentally ill are often incarcerated instead of treated, these kinds of incidents are far too common. According to a report by the Treatment Advocacy Center, which includes the anecdotes above, American prisons and jails housed an estimated 356,268 inmates with several mental illness in 2012—on par with the population of Anchorage, Alaska, or Trenton, New Jersey. That figure is more than 10 times the number of mentally ill patients in state psychiatric hospitals in the same year—about 35,000 people.

https://goo.gl/6T6zGw

Dem Problem der "Zwangspsychiatrisierung" auf der einen Seite steht also das Problem von "Wegsperren und Wegschauen" auf der anderen Seite gegenüber. Das sollte m.E. zu denken geben, ob man § 63 StGB ohne Weiteres abschaffen kann.

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MT schrieb:
Dem Problem der "Zwangspsychiatrisierung" auf der einen Seite steht also das Problem von "Wegsperren und Wegschauen" auf der anderen Seite gegenüber. Das sollte m.E. zu denken geben, ob man § 63 StGB ohne Weiteres abschaffen kann.

Dazu sollte man aber auch noch bedenken, daß es sehr häufig eine Verbindung von "psychischer Krankheit" und multiplen Drogenkonsum gibt. Auch die finanzielle Frage aller Therapien wäre zu berücksichtigen, denn richtige Therapien benötigen Personal und kosten viel Geld.

Auch beim §63 StGB und in der forensischen Psychiatrie heißt es daher oft:

"Mund auf, Psychopharmaka rein, abschlucken, Mund zu."

Das ist doch auch dort das Billigste, nennt sich "medikamentöse Therapie".

Die Insider werden das wissen.

 

Beste Grüße

Günter Rudolphi

 

 

@#42

Sehr geehrter Herr Müller,

ich nehme Ihre Kritik zur Oberflächlichkeit meines Lesens an und bin jetzt einsichtig. Vielleicht unterlag ich zum Tatzeitpunkt einer Schuldunfähigkeit.

Die zitierte Feststellung des WFZ:

"Es gibt also jenseits einer gewissen Plausibilität keine klare Zuordnung von Gründen zu Verhalten, keine sichere Herleitung von Gedanken aus Taten, genauso wenig wie umgekehrt."

erschien mir so grundlegend Stand der Wissenschaft zu sein, dass in Verbindung mit dem allgemeinen Wissen zur Untauglichkeit von Statistik für Einzelfallentscheidungen die weiteren Folgerungen des WFZ zwingend sein müssten. Es ist aber offensichtlich nur (m)eine Meinung.

Mit freundlichen Grüßen

Lutz Lippke   

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@ Günther Rudolphi #45

Ich bin sicher kein Insider, sehe aber auch nicht, wie die von Ihnen angesprochenen Missstände für eine Abschaffung des § 63 StGB sprechen könnten. Die Alternative lautet ja (ggf. Einzel-)Haft ohne jegliche medizinische Betreuung. Das kann nun auch nicht das Ende der Weisheit sein.

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MT schrieb:
@ Günther Rudolphi #45 Ich bin sicher kein Insider, sehe aber auch nicht, wie die von Ihnen angesprochenen Missstände für eine Abschaffung des § 63 StGB sprechen könnten. Die Alternative lautet ja (ggf. Einzel-)Haft ohne jegliche medizinische Betreuung. Das kann nun auch nicht das Ende der Weisheit sein.

Ich bin sehr für die Drogenfreiheit, dazu sollen auch ruhig die dazu notwendigen Kontrollen des Blutes gemacht werden können. Aber ich bin gegen den automatischen Zwang zu einer Psychopharmaka-Einnahme in der Forensik, da ja die angeblich "begründente Diagnostik" dies notwendig machen würde.

Unter den schwierigen Umständen einer Inhaftierung - oder einer Unterbringung - sollte man den Delinquenten auch einen eigenen Spielraum an "Stimmungsschwankungen" lassen, die ja jeder Mensch normalerweise auch hat.

Aber man will den "Pflegeleichten" ja dort haben, denn käme er auch ohne diese Psychopharmaka auf die Dauer aus, dann wäre ja die vorherige "begründente Diagnostik" mit ihren vielen Hypothesen in der Praxis - also empirisch - widerlegt worden.

Diese Widerlegungen aber fürchten die Psychiater wie der Teufel das Weihwasser, weil das ihre ganzen Theorien und Hypothesen zum Einsturz bringen würde, und auch die Pharmaindustrie würde doch damit um ein Milliardengeschäft gebracht werden, denn das Ziel ist ja fast immer die lebenslange Einnahme dieser Psychopharmaka, weil ja sonst angeblich die Botenstoffe im Gehirn außer Balance wären, denn das ist eine dieser Haupt-Hypothesen der Psychiatrie, auf die die "medikamentöse Therapie" aufbaut, und das wird dann mehr oder weniger undifferenziert den einzelnen Individuen übergestülpt. Das heißt dann speziell in der Forensik, wie beim "Erlkönig": "Bist du nicht willig, dann brauch` ich Gewalt"

 

Gehen Sie ruhig mal zu einem Psychiater und probieren es selber aus, wie schnell er zum Rezeptblock greift.

 

Günter Rudolphi

@MT

Ich verstehe Sie nicht ganz. Haft wäre doch keine Alternative. Streichung des 63 StGB ließe die Schuldunfähigkeit, den 20 StGB und den darauf gestützten Freispruch unberührt. 

Ich glaube, Sie hatten eher das Problem der Haftvollstreckung im Sinn. Möglicherweise ist die exzessive Anwendung von 20 und 63 StGB darauf ein Vorgriff. Ein psychisch Kranker kann durchaus verurteilt werden, wenn die Erkrankung eben zum Tatzeitpunkt nicht feststellbar ist. Die Haftstrafe kann aber wegen bestehender Geisteskrankheit und damit wegen Haftunfähigkeit nicht vollstreckt werden.

@ Waldemar Robert Kolos

Ich bin mal davon ausgegangen, dass niemand ernsthaft vertreten will, § 63 StGB abzuschaffen ohne irgendwie die Täter in Haft zu nehmen. Aber Sie haben natürlich Recht, allein die Abschaffung würde bedeuten den Täter freizusprechen und gehen zu lassen.

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Ist die Vorschrift wirklich so menschenverachtend?

Oder ist die Umsetzung der Vorschrift menschenverachtend?

Ist die Anwendung der Vorschrift heute gegen den Willen des Gesetzgebers von damals?

Hat sich die Gesellschaft anders entwickelt, als es damals geplant war?

Warum werden es immer mehr Menschen, die untergebracht sind?

Gibt es tatsächlich mehr Menschen, die angeblich schuldunfähig und allgemeingefährlich sind, oder ist der Anspruch der Gesellschaft an ein "Normverhalten" gestiegen - oder hat die Akzeptanz vor dem Anderssein nachgelassen?

 

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