"Unerhört" und "unsensibel"? - Urteil des LG Köln zur Beschneidung

von Prof. Dr. Henning Ernst Müller, veröffentlicht am 27.06.2012

Aufsehen erregte gestern das Urteil des LG Köln (Urt. v. 07.05.2012, Az. 151 Ns 169/11), das erstmals die Strafrechtswidrigkeit der religiös motivierten Beschneidung eines nicht einwilligungsfähigen männlichen Kleinkindes bejaht hat, aus den Gründen:

Jedenfalls zieht Artikel 2 Abs. 2 Satz 1 GG selbst den Grundrechten der Eltern eine verfassungsimmanente Grenze. Bei der Abstimmung der betroffenen Grundrechte ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten. Die in der Beschneidung zur religiösen Erziehung liegende Verletzung der körperlichen Unversehrtheit ist, wenn sie denn erforderlich sein sollte, jedenfalls unange-messen. Das folgt aus der Wertung des § 1631 Abs. 2 Satz 1 BGB. Zudem wird der Körper des Kindes durch die Beschneidung dauerhaft und irreparabel verändert. Diese Veränderung läuft dem Interesse des Kindes später selbst über seine Religionszugehörigkeit entscheiden zu können zuwider.

Umgekehrt wird das Erziehungsrecht der Eltern nicht unzumutbar beeinträchtigt, wenn sie gehalten sind abzuwarten, ob sich der Knabe später, wenn er mündig ist, selbst für die Beschneidung als sichtbares Zeichen der Zugehörigkeit zum Islam entscheidet.

Der die Zirkumzision durchführende Arzt wurde allerdings aufgrund § 17 StGB wegen nicht vermeidbaren Verbotsirrtums freigesprochen.

Mein Passauer Kollege Holm Putzke ist derjenige Strafrechtswissenschaftler in Deutschland, der dieses Thema am intensivsten bearbeitet hat und dessen Argumente sicher auch in das Kölner Urteil eingegangen sind - er selbst nimmt in LTO Stellung. Eine Literaturübersicht gibt er hier.

Natürlich sind die Religionsgemeinschaften, die die Zirkumzision zu ihren Traditionen zählen (insbesondere Islam und Judentum), ganz anderer Auffassung:

Der Zentralrat der Juden kritisierte das Urteil als "beispiellosen und dramatischen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften". Zentralratspräsident Dieter Graumann sagte: "Diese Rechtsprechung ist ein unerhörter und unsensibler Akt."(Quelle)

Auch Matthias Drobinski  widerspricht Putzke und dem LG Köln, und zwar in der Süddeutschen Zeitung. Säkularisierte Richter sollten sich aus religiösen Traditionen heraushalten, sich jedenfalls nicht über die Religion stellen:

Manchmal aber ist es überhaupt nicht gut, wenn sich Richter zu Schiedsrichtern der Religion machen, sich über sie stellen, einen Rechtspositivismus quasi zur Ersatzreligion machen. Wo diese Grenze zwischen legitimem Einspruch im Namen des Grundgesetzes und Grenzüberschreitung liegt, das werden in den kommenden Jahren viele Urteile von vielen Gerichten neu justieren müssen, bis hin zum Verfassungsgericht. Es spricht einiges dafür dass sich die Karlsruher Richter irgendwann mit der Beschneidung von Knaben aus religiösen Gründen werden beschäftigen müssen. Und dann der Auffassung des Zentralrats der Juden folgen, der im Kölner Urteil einen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften sieht.

Das AG hatte den Eingriff noch als gerechtfertigt angesehen:

Das Gericht entschied, der Eingriff sei zwar eine Körperverletzung, diese sei aber gerechtfertigt, weil sie sich "am Wohl des Kindes" ausrichte und eine Einwilligung der Eltern vorgelegen habe. Die Beschneidung diene als "traditionell-rituelle Handlungsweise zur Dokumentation der kulturellen und religiösen Zugehörigkeit zur muslimischen Lebensgemeinschaft". Durch sie werde einer drohenden Stigmatisierung des Kindes entgegengewirkt (Quelle)

Die Frage der Strafbarkeit der nicht medizinisch indizierten Zirkumzision wird schon seit einigen Jahren in Fachkreisen - von Medizinern und Strafrechtlern - diskutiert.  Die Entscheidung des LG Köln kommt also nicht ganz überraschend, zumal die Praxis der Beschneidung verbreitet ist. Dass die Gerichtsentscheidung "unerhört" sei oder dass das Bundesverfassungsgericht die Frage selbstverständlich anders beurteilen werde, ist nicht ausgemacht: Ob Art. 4 oder Art. 6  GG das Recht einschließt, nicht einwilligungsfähige Kleinkinder am Körper zu verletzen, erscheint höchst fraglich. 

Update: Link zum  Wortlaut der Entscheidung

Update (15.07.2012): Nachdem sich nun Bundesregierung und einige weitere Politiker dahingehend geäußert haben, die Beschneidung künftig gesetzlich zu regeln, habe ich einen neuen Beitrag verfasst. Die Kommentarfunktion ist gesperrt. Ich bitte, beim neuen Beitrag zu diskutieren.

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211 Kommentare

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Ich stimme dem LG absolut zu.

Keine Weltanschauungstheorie dieser Welt darf dazu führen, dass Menschen gegen ihren Willen oder ohne ihren Willen auf ihre körperliche Integrität oder Selbstbestimmung verzichten müssen. Wenn dem doch so ist, dann kreisen derartige Ideologien im gleichen Kosmus der Unmenschlichkeit wie der Nationalsozialismus oder der Stalinismus.

 

Die Argumente, die diesem Urteil entgegen gehalten werden klingen für mich wie der erste Schritt auf der Straße der Gesetzlosigkeit. Wie weit darf die "Selbstbestimmung der Religionsgemeinschaft" gehen? Wieviele individuelle Rechte dürfen missachtet und übergangen werden? Darf man Kinder versklaven, nur weil es der eigene Ethos so gebietet? Ich sage ganz entschieden nein. Unsere Verfassung ist auf den Schutz von Rechten begründet, nicht auf deren Ausverkauf.

 

lg

 

 

Manchmal wäre es auch im Strafprozess nicht verkehrt, von der in § 268 Abs. 3 StPO eingeräumten Möglichkeit, das bereits komplett schriftlich abgefasster Urteil in einem gesonderten Verkündungstermin zu verkünden, Gebrauch zu machen.

 

Die Tatsachenfeststellungen dürften in diesem Fall ja nicht zu komplex sein und es war für das Gericht völlig absehbar, dass das Verfahren zu einem ganz besonderen Medieninteresse führen würde. Insofern wäre es schön, wenn das Gericht gleich zur Verkündung die Urteilsgründe mitgeliefert hätte. Mit einer juristisch sauberen Aufarbeitung der Rechtslage hätte sich auch der erkennende Richter einen Gefallen getan und Spekulationen über die Urteilsbegründung den Wind aus den Segeln genommen. Stattdessen setzt das Gericht nun eine Diskussion in Gang und liefert die Begründung dann erst nach, wenn das Thema in der öffentlichen Wahrnehmung schon wieder verblasst ist.

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Wenn man diesem Urteil wirklich zustimmt - was ich nicht tue - dann sollte man vielleicht auch alle diejenigen Eltern strafrechtlich verfolgen, die ihren zweijährigen Kleinkindern Ohrlöcher stechen lassen. Unzweifelhaft liegt eine Körperverletzung vir; medizinisch indiziert ist sie sicher nicht; das Motiv der Eltern, einem Schönheitsideal zu genügen dürfte die Einwilligung wohl noch weniger tragen als ein religiöses.

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Sehr geehrte Frau Heyer,

Vergleiche mit anderen Verletzungen von Kleinkindern und Babys (in der einen Richtung die weibliche Genitalverstümmelung, in der anderen das Ohrlochstechen) können dazu dienen, das Urteil und den zugrundeliegenden Sachverhalt einzuordnen. Sie bieten aber meist keine sichere Entscheidungsgrundlage für eben diesen Fall:

Das Ohrlochstechen ist ebenfalls unzweifelhaft eine Körperverletzung, ja. Allerdings geschieht dies nicht an einer intimen sensiblen Stelle des Körpers, das Ohrloch beeinträchtigt nicht das spätere Leben und das Loch wächst auch wieder zu, wenn man keinen Ring trägt. Daher kann man durchaus der Ansicht sein, man könne hier differenzieren.

Besten Gruß

Henning Ernst Müller

Mir fällt zu der Entscheidung des LG Köln nur ein Wort ein: Hybris.
Die Beschneidung gab es schon Jahrtausende vor dem StGB und es wird sie auch noch geben, wenn wir nur noch eine Fußnote in den Geschichtsbüchern sind.

Das letzte Mal, als ein Staat seine Werte und Normen gegenüber einer Religion durchsetzen konnte war 186 v.Chr. beim Bacchus-Kult. Danach ist in den letzten 2000 Jahren bei jeder Konfrontation von Staat und Religion der Staat als Verlierer vom Platz gegangen.
Wo Marc Aurel, Diokletian, Robespierre, Napoleon, Lenin und Bismarck gescheitert sind, will jetzt das LG Köln antreten?
Lustig... :-)

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Sehr geehrter Herr Professor Müller,

 

ich stimme Ihnen zu, dass zwischen diesen Fällen differenziert werden muss. Sollte diese Differenzierung allerdings dogmatisch auf der Ebene der Rechtfertigung und da bei der Dispoistionsbefugnis der Eltern anhand der für sie bestimmenden Motive erfolgen, so wollte ich lediglich darauf hinweisen, dass kulturelle Gründe hier nicht per se ausscheiden. Auch ich würde vertreten, dass die weibliche Genitalverstümmelung eine andere Qualität hat, da sie - in der Regel - eine schwere Folge nach sich zieht, die mit dauerhaften Schmerzen bei jedem Uriniervorgang, Geschlechtsverkehr, usw. sowie insbesondere bei der Geburt sowie erheblichen gesundheitlichen Folgerisiken verbunden ist. Bei der männlichen Vorhautbeschneidung ist dies jedoch in aller Regel anders; Gesundheitsrisiken werden - statistisch gesehen - eher verringert. Dass es sich um einen Eingriff an einer intimen Körperstelle handelt, kann ich nicht als ausschlaggebend ansehen, da ein Intim- oder Schamgefühl ja erst anerzogen wird. Es bleibt also zugespitzt bei der Frage, ob die Dispositionsbefugnis alleine bei medizinsich indizierten Eingriffen bestehen soll - dann aber Ohrringe (-) oder ob jedenfalls auch kulturelle Erwägungen auf seiten der Eltern beachtlich sein können. Hier möchte ich anmerken, dass es nicht möglich sein dürfte, medizinische und kulturelle Erwägungen vollkommen zu trennen und die einen per se als beachtlich, die anderen per se als unbeachtlich anzusehen. Vielmehr sind auch die von uns als medizinische Indikation bezeichneten Erwägungen Ausdruck einer Kultur (unserer säkularen, auf naturwissenchaftliche und statistische Zusammenhänge fixierten Kultur). Der "medizinischen Indikation" geht ja immer eine Abwägung voraus, zwischen dem mit einem Eingriff verbundenen Risiko und dem potentiellen Nutzen. Schließlich kann es auch beim Impfungen im Kleinkindalter, die sicher aus den besten Motiven vorgenommen werden, zu schweren Schäden kommen; dieses Risiko wird in Kauf genommen. Ähnlich auch die (vorbeugende) Entfernung von Mandeln, Polypen, Blinddärmen, etc. Unsere kulturelle Sichtweise stütz sich dabei sehr auf den heutigen Erfahrungsschatz der Medizin - der sicherlich in ein paar Jahren überholt sein wird - aber auch auf einen starken Glauben an Prävention und in unser Gesundheitssystem, orientiert sich auch daran, welche Leistungen (hier: Eingriff) von der Krankenkasse übernommen werden und welche nicht, etc. - All dies um einen Schritt zurückzutreten und zu sagen, dass auch die anerkannten Einwilligungsgründe keine "absoluten", sondern von unserem Zeitgeist geprägten sind, die nicht jedes Mal von den einwilligenden Eltern neu erfunden werden im hehren Interesse der Gesundheit des Kindes, sondern die momentan bei uns zum "Mainstream" gehören. Und das caveat, diese Sichtweise nicht zu verabsolutieren, zumal im Kernbereich des Strafrechts. Andererseits kann ja auch zu einer von uns als "medizinisch" verstandenen Indikation das psychologische Wohlbefinden eines Kindes gehören. Wenn dieses auch dadurch bestimmt werden wird, ob es sich durch ein Ritual in seiner sozialen Umgebung integriert fühlt, dann dürfte das nciht völlig unbeachtlich sein. Zur Religionsfreiheit des Kindes: Bis das Kind 12 bzw. 14 Jahre alt ist, dürfen die Eltern über seine Religion bestimmen. Auch die Taufe ist in dem (gesitigen) Sinne ein unumkehrbares Ritual. Dem Kind steht also kein Abwehrrecht gegenüber den Elter zu, (zunächst) seine Religion zu bestimmen. Die Beschneidung ist zwar physisch unumkehrbar, aber kein ausschließliches Merkmal einer Religionszugehörigkeit (vielmehr ist sie üblich im Judentum, im Islam und aus sonstigen - ästhetischen, krankheitsvorbeugenden oder auch sexualtherapeutischen - Gründen), in dem Sinne - aus meiner Sicht - auch kein derart folgenschwerer Eingriff, als dass es den Eltern bei Strafdrohung (!) verwehrt sein sollte, ein religös und kulturell bedeutsames Ritual mit, im Regelfall, durchaus positiven medizinischen Nebenfolgen, aus diesen Gründen, die auch die psychische Integrität des Kindes schützen, von einem kompetenten Mediziner durchführen zu lassen.

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Antje Heyer schrieb:
Dass es sich um einen Eingriff an einer intimen Körperstelle handelt, kann ich nicht als ausschlaggebend ansehen, da ein Intim- oder Schamgefühl ja erst anerzogen wird.
Sie haben

1. keine Ahnung von der Sensibilität der männlichen Vorhaut (wie wäre es denn, wenn aus religiösen Gründen z.B. "nur" die inneren Schamlippen weggeschnitten würden?)

2. keine Ahnung von der frühkindlichen Entwicklung, was die Entwicklung des Schamgefühls angeht

Weiterhin ist das Recht auf körperliche Unversehrtheit nicht an ein bestimmtes Körperteil gebunden. Entscheidend ist, dass eine Zirkumzision schwerwiegend und irreversibel ist, im Gegensatz zum Ohrlochstechen.

Antje Heyer schrieb:
Die Beschneidung ist zwar physisch unumkehrbar, aber kein ausschließliches Merkmal einer Religionszugehörigkeit (vielmehr ist sie üblich im Judentum, im Islam und aus sonstigen - ästhetischen, krankheitsvorbeugenden oder auch sexualtherapeutischen - Gründen), in dem Sinne - aus meiner Sicht - auch kein derart folgenschwerer Eingriff, als dass es den Eltern bei Strafdrohung (!) verwehrt sein sollte, ein religös und kulturell bedeutsames Ritual mit, im Regelfall, durchaus positiven medizinischen Nebenfolgen, aus diesen Gründen, die auch die psychische Integrität des Kindes schützen, von einem kompetenten Mediziner durchführen zu lassen.

Die "positiven medizinischen Nebenfolgen" wurden lediglich in einer retrospektiven (!) Untersuchung vor ca. 30 Jahren im Kaschmir (!) beobachtet. Wenn Sie unter den gleichen hygienischen Verhältnissen leben, profitieren Sie vielleicht. Es gibt jedoch keine Studie, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügt und einen medizinischen Vorteil in einem entwickelten Land nachweist. Wenn Sie eine finden: bitte posten.

Selbst wenn es so wäre: der Eingriff ist - wie das Gericht korrekt festgestellt hat und wo Sie trotz Ihres Geschwurbels völlig falsch liegen - folgenschwer (s.o.) und irreversibel. Und mit dem "positiven medizinische Folgen"-Argument können Sie auch allen minderjährigen Mädchen die Brust und den Jungen die Prostata entfernen - dort ist das Krebsrisiko schließlich am höchsten.

Es ist ganz einfach: bei Körperverletzungen von Nicht Einwilligungsfähigen muss immer eine Güterabwägung vorgenommen werden, sei es nun eine medizinische Behandlung oder eine kulturell motivierte Modifikation. Diese Abwägung hat das Gericht vorgenommen und angesichts der schwerwiegenden Folgen das Recht des hier wehrlosen Kindes über das der Eltern gestellt. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

@Khorne Würden wir weiter die Menschenrechte und körperliche Unversertheit wie in archaischen Zeiten missachten, wird es vielleicht in Zukunft kein Leben auf dem Planeten geschweige Geschichtsbücher mehr geben, in denen wir eine Fussnote sein könnten. Höchste wissenschaftliche Sensibilität ist somit angebracht, das Urteil i.d.S. sehr interessant.

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Es hat schon etwas humoristisches, wenn jetzt plötzlich die Gerichte (vielleicht dereinst ja auch der BGH) zur Erkenntnis kommen: "Hoppla, das ist ja sittenwidrig und wir haben es all die Zeit nicht gemerkt" (vgl. § 228 StGB).

Da die Anschauungen von den guten Sitten zeitbedingt sind, fragt sich, an welchem Zeitgeist die Richter geschnuppert haben. Wo vor rund 140 Jahren die Katholikenverfolgung "en vogue" war und man aus diesem Anlaß neue Erkenntnisse sammelte, ist heute eben die Islamverfolgung "in". Daß es gleich noch mit gegen die Juden geht, ist für manche sicherlich bedauerlich, manchen aber sicherlich auch ganz recht.

Bekanntlich ist in den USA die selbe (Straf-)Tat ein Eingriff, der routinemäßig an fast allen männlichen Kindern durchgeführt wird - aus nichtreligiösen Gründen. Wenn sich auch in Deutschland eine entsprechende herrschende Lehre in der Medizin herausgebildet hätte, dann hätten die Kölner Richter sicher anders entschieden - die ideologische Luft wäre rausgewesen. So wie ja bei der häufig rein präventiv vorgenommenen Blinddarmentfernung keine Kulturkampfmusik spielt. Und die ist - bei Erwachsenen wie bei nicht einwilligungsfähigen Kindern - auch irreversibel.

Ich bin mir auch nicht sicher, ob das BVerfG der Meinung des LG Köln, sollte sie sich in der Rechtsprechung bis hin zum BGH durchsetzen, entgegentreten würde. Es wäre auch nicht optimal. Es ist ein Irrglaube, daß es sich hier um eine Wahrheit handelt, die man - hoppla - erkennen könnte. Richtigerweise ist es eine Frage, die der Gesetzgeber zu entscheiden hat. Und ich wage die Vorraussage, daß der Bundestag in das Strafgesetzbuch eine Ergänzung aufnimmt, die der Ansicht des LG Köln entgegensteht. Wenn er anderer Meinung ist, dann sollte er wenigstens die Meinung des LG Köln in die lex certa hineinschreiben.

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Sehr geehrter Herr Müller,

vorab möchte ich auf einen der wenigen relativ ausgewogenen Berichte in den Medien hinweisen und zur Lektüre empfehlen: http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/beschneidung-eine-dauerhafte-u...

Schließlich stellen sich mir folgende Fragen:

- Wie viele Beschnittene Männer (Prozentual) leiden tatsächlich im spätere Leben unter psychischen oder pysischen Schäden? Es ist medizinisch bewiesen, dass das Entfernen der Vorhaut gerade vor Schäden schützt! Schäden entstehen mit Verlaub erst dadurch, dass nicht beschnitten wird.  Auch kann man nicht behaupten, es würde einen nachhaltigen Makel darstellen, schließlich ist es keine exponierte Körperstelle. Kurz: Besteht überhau

- 70 % der Männer in den USA sind beschnitten, ein Drittel der männlichen Weltbevölkerung: Ist das LG Köln womöglich auf grund seiner fehlerhaften Rechtsüberzeugung ein Geisterfahrer oder sind all diese Ärzte und Eltern, die den Eingriff vornehmen und gestatten kriminelle Straftäter? Auf einer Stufe mit katholischen Priestern, die ihre Aufsichtspflicht verletzen?

- Wie steht dieses Urteil im Verhältnis zur Abtreibung, bei der ein Fötus tatsächlich getötet wird bar jeglicher medizinischer Indikation? Diese schwerwiegende Menschenrechtsverletzung und Missachtung der unantastbaren Menschenwürde (Art. 1 GG) ist sogar bei sozialer Indikation gerechtfertigt! Warum sollte die soziale Indikation eher noch als Rechtfertigung dienen, als die weitaus tiefgründigere, in Gottes Wort aufgetragene, religiöse Überzeugung und Verpflichtung? Nur weil das Negieren einer göttlichen Instanz, das Leugnen des Jenseits und der Verlust jeglicher Transzendenz "en vogue" ist, sollen religiöse Verpflichtungen jüdischer und muslimischer Minderheiten krirminalisiert werden? Damit wird die Religionsfreiheit faktisch abgeschafft, da ein gläubiger Jude oder Muslim nur unter Riskieren strafrechtlicher Verfolgung seinen religiösen Pflichten nachkommen kann.

- und schließlich: Was kommt als nächstes? Das Kriminalisieren des Fastens?

Ich und das Grundgesetz der BRD sind der Meinung, dass strengste Zurückhaltung des Staates und auch der Gerichte bei der Interpretation religiöser Vorschriften und Glaubensausübung geboten ist und dass eine Bevormundung der WELTReligionen reine hybris darstellt und ihrer Missachtung gleichkommt.

MfG

Jurist

 

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Jurist schrieb:
Es ist medizinisch bewiesen, dass das Entfernen der Vorhaut gerade vor Schäden schützt!
Bitte den "Beweis" posten.

Ihrer Logik nach müsste die Sterblichkeit in den USA (70% mit Zirkumzision) dann phantastisch unter der in Deutschland liegen ...

Jurist schrieb:
Ich und das Grundgesetz der BRD sind der Meinung

der Lacher des Tages ...

Das GG ist jedenfalls der Meinung: Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit - auch Jungen, egal ob sie acht Tage oder 4 Jahre alt sind.

Wenn die Beschneidung so tolle präventive Wirkung hat - warum gibt es dann keine große Aufklärungskampagne? Jeder kann sie vornehmen lassen, wenn er volljährig ist. Es kann jedenfalls kein Argument sein, wehrlose Babys oder Kleinkinder zu verstümmeln.

P.S.: Föten sind ungeborenes Leben, Babys und Kleinkinder sind auf der Welt. Zum Unterschied siehe z.B. § 1 BGB

Mein Name schrieb:

Wenn die Beschneidung so tolle präventive Wirkung hat - warum gibt es dann keine große Aufklärungskampagne?

P.S.: Föten sind ungeborenes Leben, Babys und Kleinkinder sind auf der Welt. Zum Unterschied siehe z.B. § 1 BGB

Das ist er wieder, der bequeme Michel! Immer auf Aufklärungskampagnen vom Staat warten und hoffen! Auch dass das Schwein nur schädlich für Geist und Körper ist (Trichinen, sagen Ihnen hoffentlich etwas, wenn nicht schnell googeln) ist wissenschaftlich unbestreitbar, trotzdem muss der deutsche Staat keine AUfklärungskampagnen starten! Er überlässt es gerne dem mündigen selbstverantwortlichen Verbraucher! Aber Selbstverantwortung hören Sie wohl nicht gern.

Ihr Post Scriptum ist keine Neuheit. Doch auch Föten genießen rechtlichen Schutz, sonst wäre § 218 StGB obsolet !! (Nachschauen, lohnt sich!=

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Herr Putzke gibt seinem LTO-Kommentar die Überschrift "LG Köln fällt wegweisendes Urteil" und beginnt ihn mit den Worten: "Das LG Köln hat jetzt rechtskräftig entschieden: Sie sind verboten."

Irreführender geht es kaum. Tragend für die Entscheidung des LG Köln ist die Annahme eines entschuldigenden Verbotsirrtums, denn hierauf beruht der Freispruch. Alles vorher ist ein "obiter dictum", eine Art wissenschaftliche Meinungsäußerung des Gerichts, die bei einem obersten Bundesgericht ihre Berechtigung haben mag, bei einem Instanzgericht aber schlicht belanglos ist.

Herr Putzke versucht hier die Meinungsbildung in seinem Sinne zu manipulieren, mehr nicht.

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Sehr geehrter Mein Name,

sie schreiben: "Die "positiven medizinischen Nebenfolgen" wurden lediglich in einer retrospektiven (!) Untersuchung vor ca. 30 Jahren im Kaschmir (!) beobachtet. Wenn Sie unter den gleichen hygienischen Verhältnissen leben, profitieren Sie vielleicht. Es gibt jedoch keine Studie, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügt und einen medizinischen Vorteil in einem entwickelten Land nachweist"

- ihrer Hypothese nach haben Amerikaner und Briten katastrophale Lebensverhältnisse, da können wir "sauberen Mitteleuropäer" nur die Nase rümpfen. Vielleicht ist es noch nicht bis zu Ihnen vorgedrungen, aber die Beschneidung schützt vor STDs, schädlichen Bakterien und Pilzerkrankungen und verhindert das Bilden eines üblen, unangenehmen Geruchs, der auf das erschwerte Reinigen bei nicht-Beschnittenen zurückzuführen ist. Sie haben also, mit Verlaub, keine Ahnung von Hygiene, so wie Mitteleuropa vor paar Hundert Jahren.

Schließlich werden Sie nicht müde zu repetieren, der EIngriff sei "folgenschwer (s.o.) und irreversibel" - Wenn Sie schon für die medizinische Indikation und den Nutzen einer BEschneidung den wissenschaftlichen Nachweis fordern, gilt dasselbe erst recht für Ihre Behauptung. Lediglich dem LG Köln nachzuahmen ist es jedenfalls nicht, denn das sind auch nur normale Juristen, keine Mediziner. Und ein LG ist für viele nicht die höchste Instanz, es gibt Juden und Muslime, und ein paar Christen, die glauben auch an ein "Jüngstes Gericht".

- Bei der Beschneidung handeln Eltern, die übrigens auch das Erziehungsrecht haben, im Sinne und zum Wohle ihres Kindes. Es ist allgemein bekannt, dass Familie im islamischen und jüdischen Kulturkreis einen sehr hohen Stellenwert einnimmt. Niemals würden muslimische Eltern ihr "wehrloses" Kind einer Misshandlung aussetzen. Ich verweise hier auf die tagespresse, oder haben Sie jemals von muslimischen Eltern gehört, die ihre Kinder einfriern, verspeisen, misshandeln, einsperren o.ä.? Es sind offensichtlich immer dieselben verwahrlosten Drogenabhängigen Häuser, die fern von Religion und Spiritualität sind.

- Reinheit ist im Islam schon "der halbe Glauben". Und zur Reinheit gehört auch die Reinheit des Glieds nach dem Urinieren. Und dessen hundertprozentige Reinheit ist nur erreichbar, wenn die Vorhaut (überflüssig übrigens wie die Hornhaut am Fuß) entsprechend entfernt wird.

- Allgemein: Die Beschneidung passt wohl nicht in das Bild der Islamophoben, nach denen doch eigentlich immer die Frau die leidende und unterdrückte sein muss. Tja, Religion ist eben Gerecht!

MfG

Jurist

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@ Jurist: wenn die US-Amerikaner zu 70% beschnitten sind, dann müssten sie ja - wenn die Zirkumzision so unbestritten nützlich wäre wie Sie behaupten - deutlich länger leben als die Mittel- und Nordeuropäer ... tun sie aber nicht. Die mir von Ihnen unterstellte Hypothese, die Amis seien Schmutzfinken und die Europäer reinlich, kann ich nur als armseligen Versuch werten, einen Vorteil zu suchen, wo keiner ist ("was nicht passt, wird passend gemacht"). Die unbeschnittenen Japaner leben sogar noch länger als die Amerikaner ... na sowas! Beweisen Sie doch mal Ihre abenteuerlichen Behauptungen, z.B. was STDs angeht.

Aber selbst wenn sich auf diesem Nebenkriegsschauplatz tatsächlich ein medizinischer Vorteil für die Zirkumzision herausstellen sollte, ist das noch lange kein Argument dafür, diesen Eingriff an Minderjährigen durchzuführen!

Es muss jeder frei entscheiden können, ob er eine möglicherweise nützliche Operation an sich vornehmen lässt oder nicht - so wie Frauen, die BRCA1/2-Mutationsträgerinnen sind, auch selbst entscheiden können, ob sie sich prophylaktisch die Brust und/oder Eierstöcke entfernen lassen.

Wollen Sie ernsthaft behaupten, eine Zirkumzision sei reversibel? Oder dass der Verlust der sensibelsten Haut, die es am ganzen Körper gibt, nicht schwerwiegend sei? Über so viel Ahnungslosigkeit kann man nur den Kopf schütteln ...

Sie stellen die Werte der Religion über das Recht des Einzelnen auf körperliche Unversehrtheit - das LG Köln hat entgegengesetzt entschieden, und das ist gut so. Folgt man Ihrer Argumentation, dann müsste ein Jude oder Moslem zwangsweise Zeit seines Lebens bei seiner Religion bleiben, denn er ist ja körperlich stigmatisiert. Dieses mittelalterliche Menschenbild ist zum Glück abgeschafft.

 

Mein Name schrieb:

Folgt man Ihrer Argumentation, dann müsste ein Jude oder Moslem zwangsweise Zeit seines Lebens bei seiner Religion bleiben, denn er ist ja körperlich stigmatisiert.

? Diese Behauptung erschließt sich mir nicht, inwiefern die Entscheidungsfreiheit dadurch beeinträchtigt werden soll? Oder wollen Sie etwa sagen, als Beschnittener dürfe man kein Buddhist, Atheist, Christ oder sonst was werden, weil diese es explizit untersagen?? Die freie Ablegung oder der Wechsel des GLaubens ist hier mE nicht berührt, auch wenn das LG Köln das anders sieht.

Schönen Tag noch und freundliche Grüße

Jurist

2

Einige (unsystematische) Anmerkungen:

1. Der Begriff der Verstümmelung, den Sie, sehr geehrter Herr Professor Müller, verwenden, scheint mit bereits eine parteiliche Wertung zu beinhalten. Befürworter der Beschneidung würden sicherlich nicht davon sprechen, dass Kinder "verstümmelt" werden. Das Gleiche gilt, wenn Putzke von "religiös motivierter Gewalt" spricht.

2. Mir leuchtet nicht ein, weshalb für die juristische Beurteilung nicht (auch) maßgeblich sein soll, dass die Beschneidung von Jungen eine uralte Tradition konstituiert, die - jedenfalls in der breiten Öffentlichkeit und im politischen Raum - bislang nie ernsthaft in Frage gestellt worden ist.  Bemerkenswert, dass in rund 60 Jahren unter der Geltung des Grundgesetzes offenbar kein Staatsanwalt auf die Idee gekommen ist, die Beschneidung könnte strafbar sein. Hier dürfte sich zumindest die Frage stellen, ob nicht ein Rechtfertigungsgrund aus Gewohnheitsrecht anzunehmen ist.

3. Nicht zutreffend sind m. E. Argumente gegen die Beschneidung wie "dann müsste man auch erlauben, Mädchen zu beschneiden" usw. Hier ist sicherlich nach der Schwere des Eingriffs zu differenzieren.

4. Was die mangelnde Irreversibilität des Eingriffs angeht: Vielleicht sollte man zur Kenntnis nehmen, dass Eltern ihr Kind auch durch Erziehung (oder Nicht-Erziehung) stets in starker und irreversibler Form prägen. Diese Prägung dürfte für den weiteren Lebensweg wohl weit entscheidender sein als ein geringfügiger körperlicher Eingriff. Putzke et al. scheint wohl so eine Art "neutrale" Erziehung vorzuschweben, bei der das Kind mit Eintritt der Volljährigkeit (bzw., was Fragen der Religion betrifft, mit Eintritt der Religionsmündigkeit) als eine Art "unbeschriebenes" Blatt ins Leben tritt. Solch ein Erziehungsbild entspricht aber m. E. weder der Lebensrealität, noch liegt es dem Elternrecht des Grundgesetzes zugrunde.

 

 

 

 

4

Sehr geehrter Herr Jurist,

danke für Ihren Link auf den FAZ-Artikel, den ich auch als sachlich ausgewogen empfinde. Aber in Ihren Ausführungen widersprechen Sie den Aussagen des Artikels doch ziemlich. Sie schreiben:

Es ist medizinisch bewiesen, dass das Entfernen der Vorhaut gerade vor Schäden schützt!

Im FAZ-Artikel heißt es:

Ein vom Gericht bestellter medizinischer Gutachter kam zu dem Schluss, es gebe „jedenfalls in Mitteleuropa keine Notwendigkeit, Beschneidungen vorbeugend zur Gesundheitsvorsorge vorzunehmen“.

Ich habe noch von keiner Studie gelesen, die klare medizinische Gründe für eine Beschneidung (im Kleinkindalter!) anführt. Und wenn Sie die rhetorische Frage stellen

Was kommt als nächstes? Das Kriminalisieren des Fastens?

dann entfernen Sie sich selbst von einer sachlichen Stellungnahme.

 

Sehr geehrte/r Herr/Frau Khorne,

Sie schreiben:

Die Beschneidung gab es schon Jahrtausende vor dem StGB und es wird sie auch noch geben, wenn wir nur noch eine Fußnote in den Geschichtsbüchern sind.

Wenn Sie schon so argumentieren, kann man entgegnen, dass es die männliche Vorhaut wohl schon mehrere zehntausend Jahre vor den Religionen gab, deren menschliche Schriftführer die Beschneidung anordneten. Möglicherweise machte ja auch die Beschneidung in der damaligen Zeit auch medizinisch Sinn, so dass die Religion zunächst zum Wohle der Betroffenen funktionalisiert wurde.

Allerdings wird man sich damit auseinandersetzen müssen, welche Folgen eine Prohibition dieses Verhaltens hätte. Es spricht viel dafür, dass sich viele Angehörige der betr. Religionen nicht davon abhalten lassen werden, ihre Kinder dennoch beschneiden zu lassen.  Dies geschieht dann möglicherweise unter Umständen, die ein medizinisches Problem darstellen. Solch ein Argument ist zwar nicht juristisch-dogmatisch begründet, sollte aber dennoch in der Kriminalpolitik eine Rolle spielen. Das  gilt ja im Übrigen auch für die Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch. Insofern kann man vielleicht OG folgen, der oben ein Eingreifen des Gesetzgebers anmahnt.

 

Beste Grüße

Henning Ernst Müller

 

 

 

Ich bitte alle Kommentatoren um sachliche Argumentation ohne persönliche Angriffe auf andere Diskussionsteilnehmer.

Danke!

Sehr geehrter Herr Müller,

ich habe auch an keiner Stelle angedeutet, mit dem Artikel hunderprozentig übereinzustimmen. Die von Ihnen zitierte Phrase finde ich selbst sehr problematisch. Schließlich impliziert eine solche Annahme, dass wir Mitteleuropäer irgendwie reiner wären als der Rest der Welt. Viele Krankheiten gibt es jedoch erst in der modernen Gesellschaft. Auch sind wir  noch sehr weit davon entfernt absolute hygienische Standards erreicht zu haben. Und schließlich setzt eine Beschneidung nicht die Kontamination mit Sand und Erde u.ä. voraus, nein, allein das Urinieren, das ja auch in Mitteleuropa noch praktiziert wird, soweit man keinen künstlichen Darmausgang hat, allein das Urinieren trägt dazu bei, dass sich unter Vorhaut Materie langsam eintrocknet und unbeobachtet zu wuchern o.ä. den Körper zu schädigen beginnt. Das ist m.E. nicht bei jedermann der Fall, genauso wie nicht jeder ohne Zähneputzen Karies bekommt. Trotzdem würde niemand der Zahnpasta ihren medizinischen Nutzen absprechen.

Und meine Frage, die Sie als unsachlich empfinden, wird wohl in ein paar Jahren ihre Legitimation finden. Es ist schon angebracht mal inne zuhalten und zurück zu blicken: Was hat der Staat bisher alles schon religiöses geregelt, was tut er gerade und dann den Blick nach vorne zu wagen und zu fragen: Quo vadis, Germania?

MfG

Jurist

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@ Gastmann: Die Beiträge auf LTO sind fast alle extrem einseitig. Darum betrachte ich die Seite auch eher als BILD-Zeitung für Juristen.

@ Prof. Dr. Müller: Der Gedanke, Religion zu funktionalisieren ist areligiös. Die religiöse Vorgabe zu erfüllen ist der Selbstzweck. Wenn ich Jude oder Moslem wäre, würde ich meinen Sohn doch nicht aus Nützlichkeitserwägungen beschneiden lassen. Schon der Gedanke an einen "Nutzen" wäre/ist mir fremd...

2

Sehr geehrte/r MK,

Sie schreiben:

Der Begriff der Verstümmelung, den Sie, sehr geehrter Herr Professor Müller, verwenden, scheint mit bereits eine parteiliche Wertung zu beinhalten.

Ich habe den Begriff "Verstümmelung" für die weibliche Beschneidung gebraucht, nicht für den Sachverhalt, den das LG Köln beruteilt hat. Hinsichtlich der Beschneidung der weiblichen Genitalien bekenne ich mich zu einer Parteilichkeit.

Dass es bei der Zirkumzision um etwas anderes geht, ist doch gerade Inhalt meiner obigen Kommentierung. Ich glaube nicht, dass ich mich da missverständlich ausgedrückt habe.

 

Besten Gruß

Henning Ernst Müller

@ 22: Sie haben sich nicht missverständlich ausgedrückt, vielmehr habe ich es zu oberflächlich gelesen. Ich bitte um Entschuldigung! (Was die Frage der weiblichen Verstümmelung angeht, ist der Begriff sicherlich passend.)

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@Jurist

"Herrschaft des Rechts" setzt voraus, dass sich alle Mitglieder der Gesellschaft gleichermaßen den gleichen abstrakten Rechtsregeln unterwerfen und diese nicht selektiv für sich oder ihre Teilgruppe außer Kraft setzen.

Das Strafrecht soll die Verletzung von Rechtsgütern verhindern. Die potenziellen Nutzeneffekte, die eine Beschneidung möglicherweise mit sich bringen, sind hier völlig uninteressant. Es geht hier um eine vorsätzliche Verletzung der körperlichen Unversehrtheit.

Ich sehe hier, im Gegensatz zu anderen, überhaupt keine Abwägungsfrage.

Wahrscheinlich wird man immer irgendwelche Nutzeneffekte für irgendwelche Eingriffe finden, wenn man danach sucht. Die Prügelstrafe, die sich gegen Kinder richtete (und leider manchmal heute immer noch richtet) -auch zu ahnden als Körperverletzung- sollte ja auch deren "Charakter festigen, sie hart machen" usw.  Auch für sie könnte man kulturelle Gründe anführen, und, wenn man sie passend konstruiert, psychologische Nutzeneffekte oder Harmlosigkeit "herausmessen."

Das Strafrecht nimmt für sich ja viel weitergehende Verbots-Eingriffe in Anspruch, indem es sogar Verhalten unter Strafe stellt, bei dem es nicht mal faktisch ein Opfer gibt (abstrakte Gefährdungsdelikte).  Und im vorliegenden Fall soll der Eingriff so um-interpretiert werden, dass die Nutzeneffekte auf der einen Seite die Eingriffsintensität auf dern anderen Seite auf Null mindern und damit garkeine Verletzung des Körpers vorliegt?

Auf die Herrschaft des Rechts müssen wir, wenn wir es ernst nehmen wollen, weiterhin pochen. Und, auch wenn es traurig ist, es zu sagen, gegenüber hier lebenden Religionsgruppen. Ein Polizist berichtete mal in einem TV-Bericht, er habe einen muslimischen Vater gefragt, ob denn hier in Deutschland nun das Grundgesetz gelte oder nicht. Und er habe darauf nur ein Schulterzucken geerntet.

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Joachim schrieb:

Und im vorliegenden Fall soll der Eingriff so um-interpretiert werden, dass die Nutzeneffekte auf der einen Seite die Eingriffsintensität auf dern anderen Seite auf Null mindern und damit garkeine Verletzung des Körpers vorliegt?

(Hervorhebung von mir)

Es wird immer überall vorschnell der Eingriff (Strafrechtlich gemeint ist wohl die Tatbestandsmäßigkeit) bejaht. Dabei ist schon fraglich, ob eine gelungene, de lege artis ausgeführte medizinische Heilbehandlung überhaupt tatbestandlich eine Körperverletzung ist. Dies sieht offensichtlich die herrschende Lehre nicht so. Zitat: "Ist der Eingriff von Heilungstendenz getragen und kunstgerecht durchgeführt, so sei er selbst bei Misslingen tatbestandsmäßig keine Körperverletzung (so insbes. Engisch aaO 20, ZStW 58, 5, Gallas Niederschr. VII 197, Eb. Schmidt, Arzt 69 ff., Welzel 289 sowie Fischer 13; iglS wohl Hirsch Zipf-GedS 355, wenn er bei gelungenem Heileingriff bereits den objektiven, bei kunstgerecht durchgeführten aber misslungenem Eingriff zumindest den subjektiven Tatbestand verneint)."(aus: Eser/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, § 223 StGB, Rn. 30)

Ich denke nicht, dass das LG Köln hier (inhaltlich) das letzte Wort gesprochen hat.

MfG

Jurist

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@ Joachim (#24)

So einfach kann man es sich m. E. nicht machen. Medizinische Eingriffe beispielsweise, die ja tatbestandsmäßig eine Körperverletzung darstellen, sind gerechtfertigt, wenn sie medizinisch indiziert sind (und der Betreffende eingewilligt hat). Und worauf beruht eine medizinische Indikation, wenn nicht auf einer Abwägung von Nutzen und Risiken?

Es geht daher auch nicht um eine "Uminterpretation" eines Eingriffs, sondern um die Frage, ob der zweifellos gegebene Eingriff nicht ausnahmsweise (bei der Beschneidung von nicht einwilligungsfähigen Kindern) aus religiösen Gründen gerechtfertigt sein kann. Man mag dies mit guten Gründen verneinen. Ich frage mich aber, ob ein Strafrecht, dass schematisch dem Klipp-Klapp des Straftatsystems folgt und für gelebte Traditionen blind ist, seine Steuerungsfunktion nicht vielleicht schlechter ausfüllt, als wenn es Rücksicht nimmt und bestimmte Entscheidungen der Gesellschaft (hier: den Eltern) überlässt. Das mögliche Ausweichen ins Ausland oder in die Illegalität wurde ja hier schon angesprochen.

4

@#27 Jurist: es geht hier nicht um eine "Heilbehandlung"

@#28 Jurist: erkundigen Sie sich, was "stigmatisiert" bedeutet

Ich kenne Deutsche Eltern, die vorher Türken waren und mit ihren Jungen in die Türkei fuhren zwecks einer Beschneidung, da der "familiäre Religionsdruck" sehr groß war.

Das  wurde als Fest gefeiert. Für mich als Christ sehr fremdartig.

Ich denke eine Beschneidung ist nur gerechtfertigt bei einer Phimose.

Ich denke die Politik und die Justiz sollte mehr die sehr fremdartigen Kulthandlungen betrachten als bisher, dann würden auch Sekten und Psychogruppen belangbar sein, die ihre Mitglieder sehr einengen.

 

 

4

Hier noch ein sehr interesanter Artikel zu "ästhetisch indizierten" Operationen bei Kindern unter 15 Jahren - hier ist das psychologische "Normal aussehen wollen" anscheinend eine anerkannte "medizinische" Indikation. (http://www.haunerjournal-lmu.de/prae_1/hj2_06/einzseit2_06/aestet.pdf) - Dann verschwimmen aber doch jeglich Grenzen zu einem religiös-kulturell begründeten, als Ritual für soziale Zugehörigkeit stehenden Eingriff.

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Antje Heyer schrieb:

 hier ist das psychologische "Normal aussehen wollen" anscheinend eine anerkannte "medizinische" Indikation.

Das haben Sie sich ja schön ausgedacht - in dem Artikel steht ausdrücklich:

Die Indikationsstellung durch den Chirurgen muss jedoch in dieser Situation streng medizinischen Regeln unterworfen sein und darf nicht als surgery on demand aufgefasst werden. Der Chirurg darf sich hier nicht von den Eltern bedrängen lassen

Es geht in dem Artikel auch nicht um das "Normal aussehen wollen", sondern um das "Nicht-entstellt-aussehen-dürfen", was ein riesiger Unterschied ist.

Ich bin doch sehr erstaunt über die emotional aufgeladene und unsachliche Diskussion, die das Kölner Urteil ausgelöst hat, welches religiöse (also medizinisch nicht notwendige) Bescheidungen bei Jungen (nicht erwachsene/ausgewachsene männliche Menschen) ab sofort als Straftat wider der körperlichen Unversehrheit und der Selbstbestimmung ansieht.

Deshalb erstmal die aus meiner Sicht sachlichen und wichtigen Fakten:

  

  1. Jede Operation und jeder medizinische Eingriff ist erst einmal im juristischen Sinne eine „Körperverletzung“ …. Die nur dann für den Arzt NICHT strafbar ist, wenn sie unter medizinisch notwendigen Aspekt und MIT Einwilligung geschieht.
  2. Das Grundgesetz schützt verschiedenste Grundrechte, die aber wiederrum manchmal im Konflikt miteinander stehen. In diesem Fall stehen das Grundrecht auf religiöse Freiheit mit dem auf Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit im Konflikt.
  3. Meiner Meinung nach in einem säkularen Staat sehr verständlich zweiteres als höher zu gewichten, da wir hier in keinem religiös geführtem Staat leben.

 

Nun weiter Fakten zu Vor- und Nachteilen einer Beschneidung bei Jungen, von denen vor allem die Nachteile gerne komplett verschwiegen oder ignoriert werden (wahrscheinlich auch mangels medizinischen Wissens):

 

Vorteile: (fällt mir schwierig welche zu finden)

  • Religiöses Zusammengehörigkeitsgefühl ….Verminderung der Gefahr einer möglichen Ausgrenzung (was allerdings traurig und zu bekämpfen wäre ….statt dessen eliminiert man lieber die Vorhaut)
  • Subjektives Ästhetisches Empfinden einzelner (Wer volljährig ist kann das gerne selbst entscheiden)
  • Erleichterung der Hygiene ….allerdings nur in Ländern OHNE hygienische Standarts
  • Sinnvoller wäre doch eine Erziehung zur Körperpflege allgemein, bei mir hat es jedenfalls funtioniert ;-)
  • Der vermeintliche Schutz gegen HIV ist auch ein Mythos, die Verringerung der Ansteckungsgefahr liegt nach neusten Studie im zu vernachlässigendem Bereich

Nachteile:

  • Verletzung des Selbstbestimmungsrechtes eines Kindes
  • Körperverletzung ohne medizinische Notwendigkeit
  • Gefahr von Komplikationen, die es immer wieder AUCH in den moderenen Industrienationen gibt (jeder Fall ist EINER zuviel)
  • Physische Nachteile beim Akt (können vor allem Jungs beurteilen die erst mit 14 oder später beschnitten wurden)
  • Verhornung der Eichel was einer Desensibilisierung gleichkommt …. Verlängert vielleicht den Akt wird aber auch als Qualitätsverlust des eigenen Gefühls beim eigenen Orgasmus beschrieben,! (Erstens durch die Verhornung der Eichel und bei manchen Beschneidungen durch das zusätzliche Entfernen des sehr sensiblen, mit zahlreichen Nerven durchsetztem Frenulums.
  •  Ich habe selbst einige Spätbeschnittene gehört, die nachher sehr unzufrieden waren! Sicher weiss ein als Baby beschnittener Junge den Unterscheid nicht, was aber KEIN Argument daf&uuminnvoller wäre doch eine Erziehung zur Körr speziellen Art der Beschneidung  verliert die Penisschafthaut (wir gestrafft und wieder angenäht) ihre natürlich Gleitfähigkeit (das ist von der Natur so gewollt) was die Reibung bei der Penetration für die penetrierte Person erhöht und durchaus nachteilhaft sein kann.
  • Die spontane sexuelle Entfaltung durch Masturbation mittels Vor und Zurückbewegen der Vorhaut wird eingeschränkt oder sogar völlig unmöglich …. Der dauerhaft Einsatz von Gleitmittel kann erforderlich werden
  • Die nicht zu leugnende Schutzfunktion der Vorhaut  
  • Beschneidungen bei der nur ein Teil der Vorhaut entfernt wird (in Europa so gängig) sind auch nicht wirklich ästhetisch, oft sieht das Ergebnis sehr unschön aus (Zum Nachdenken für die so Argumentierenden)

 

 

Nun noch Fakten zu mir:

  • Ich bin kein Jurist
  • Ich versuche trotzdem mich in meinem Land an ethischen Diskussionen zu beteiligen
  • Ich bin bisexuell und verfüge über genügend sexuelle Erfahrungen mit Männer und Frauen. Vor allem deshalb habe ich einige beschnittene Männer gesehen und mit ihnen auch darüber offen gesprochen!
  • Mein fester Freund ist beschnitten und Moslem ….er wurde mit 14 Jahren beschnitten und nahm 15 Kilo zu weil er monatelang mit starken Schmerzen seine Bescheidung verarbeiten musste. Trotzdem verteidigt auch er sie ….Vermutlich aussschließlich weil es ihm so beigebracht wurde!

 

 

Ich hoffe, dass ich mit meinem Beitrag zur Diskussion und zum Nachdenken beitragen kann!

 

LG Marco

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Am 1.10.2001 trat in Schweden ein neues Gesetz in Kraft, das Beschneidungen ohne medizinische Begründung bei Jungen, die älter als 2 Monate sind, generell verbietet. Beschneidungen an jüngeren Babies dürfen nur noch unter Betäubung vorgenommen werden.
Schweden ist damit das erste Land der Welt, das rituelle Beschneidungen, die ohne Zustimmung der Betroffenen vorgenommen werden, per Gesetz einschränkt.

In Schweden wurden bislang jährlich ca. 3000 Jungen beschnitten, meistens zu rituellen oder religiösen Zwecken.

Jeder nicht ernsthaft medizinisch begründete chirurgische Eingriff an den Genitalien von Minderjährigen ist eine Verletzung des Menschenrechts auf körperliche Unversehrtheit!  

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Enttäuscht von den Behörden schrieb:

Am 1.10.2001 trat in Schweden ein neues Gesetz in Kraft, das Beschneidungen ohne medizinische Begründung bei Jungen, die älter als 2 Monate sind, generell verbietet. ...
Schweden ist damit das erste Land der Welt, das rituelle Beschneidungen, die ohne Zustimmung der Betroffenen vorgenommen werden, per Gesetz einschränkt.
 

Das sieht mir eher nach einer Sondererlaubnis und einer Entrechtung für jüdische Knaben aus, die spätestens am 8. Tag nach der Geburt beschnitten werden "müssen".

Es gibt jedenfalls keinen sachlichen Grund für diese Zweimonatsgrenze.

Sehr geehrte Teilnehmer/innen an der Diskussion, 

der Beck-Blog ist ein juristisches Forum, in dem besonderer Wert auf eine sachliche Diskussion gelegt wird.  Die Möglichkeit, sich anonym an der Diskussion zu beteiligen, besteht für jeden ohne Registration; allerdings ist die Moderation strenger als in den meisten Internet-Meinungsforen. Persönliche Angriffe und themenferne Beiträge (Trollen, Spammen) werden nicht geduldet. Eine  Moderation erfolgt sowohl von Seiten des Beck-Verlags als auch meinerseits. Ich habe heute Nachmittag ab 14 Uhr nicht moderieren können und habe deshalb auch nichts gelöscht. Soweit Sie von Löschungen betroffen sind, darf ich Sie ermuntern, den sachlichen Gehalt Ihrer Kommentare zu dem Thema in angemessener Sprache erneut zu posten.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.

Mit besten Grüßen

Henning Ernst Müller

Zum Thema:

Ein Münsteraner Strafrechtler hat nun auch das Argument vorgebracht, das ich schon oben angesprochen habe: Bei Verbot der Beschneidung drohen Beschneidungstourismus und ggf. unprofessionelle Beschneidungen.

Nach Ansicht eines Strafrechtlers könnte das Kölner Urteil zu höheren medizinischen Risiken infolge von unprofessionellen Eingriffen führen. "Man müsste schon sehr naiv sein zu glauben, dass nun keine religiösen Beschneidungen in Deutschland mehr durchgeführt werden", sagte der Rechtswissenschaftler Bijan Fateh-Moghadam vom Exzellenzcluster "Religion und Politik" der Uni Münster.(Quelle)

Fateh-Moghadam argumentiert aber v.a. mit dem elterlichen Sorgerecht, ein längerer Beitrag findet sich hier.

 

Als Nichtjurist kann ich mir vielleicht eine Sichtweise bezüglich dieses Urteils erlauben, die sich von den speziellen Fakten dieses Falles befreit.

Diese "erweiterte" Sichtweise schenkt mir eine tiefe Befriedigung, basierend auf dem Umstand, dass DIESES Urteil ein weiterer, kleiner Meilenstein in der "Zivilisierung" unserer Gesellschaft sein könnte.

Nämlich in der Befreiung von dem Gedanken, dass Kinder unumschränktes Eigentum der Eltern sind, jeglicher Willkür jener Eltern und der sie umgebenden Strukturen ausgesetzt.

Strukturen, die gerne als vermeintlich positiven Faktor hunderte und tausende von Jahren Bestand aufführen und dies in unumstößliche  Rechte verankern wollen.

Wenn wir in einer aufgeklärten Gesellschaft leben möchten- und für mich persönlich würde ich dies eindeutig vorziehen- dann müssen wir dafür sorgen, dass die Empfängnis und die Erziehung eines Kindes eine VERANTWORTUNG darstellen- und zwar dem Kind gegenüber, einzig und allein dem Kind.

Der erste, folgerichtige Schritt war, den Einsatz von physischer Gewalt strafrechtlich aus der "Erziehung" eines Kindes zu verbannen.

Ein weiterer Schritt ist nun, diese religiöse Gewalt in die Schranken zu verweisen.

Weitere Schritte werden folgen müssen.

Am Ende dieses vermutlich langen und schweren Weges wird vielleicht und hoffentlich die Erkenntnis stehen, dass ein Kind kein Auto ist, welches ich beliebig benutzen kann, so wie es mir MEIN Empfinden, MEIN Lifestyle- Denken oder die religiöse Folklore meiner familiären Umgebung  es vielleicht gerne hätten.

Jeder Weg, diese uralten, patriarchalischen Strukturen, ausgehend von männlichem Machtgehabe über Frauen, über Kinder, über Schwächere, Andersdenkende etc.- gerne verkleidet in religiösem Gewand!- aufzubrechen und letztlich zu zerbrechen ist es wert, gegangen zu werden, erkämpft zu werden.

In diesem Urteil steckt meines Erachtens viel mehr als nur ein Zipfel Haut.

 

Gruß

mike

 

 

 

 

4

In der Tat ist es Zeit, mal wieder öffentlich Kinderrechte in den Fokus zu rücken und wegweisende Lösungen zu finden, das Urteil ist ein Anstoss.

4

Das elterliche Sorgerecht (das bis vor kurzem das elterliche Gewaltrecht war)  steht grundsätzlich im Interessenkonflikt mit den individuellen Grundrechten des Kindes! Sei es das Grundrecht auf Freizügigkeit vs. Aufenthaltsbestimmungsrecht, sei es das Recht auf freie Berufs- und Ausbildungswahl vs. Recht der Eltern, das Kind bei einer bestimmten Schule anzumelden ("du heiratest sowieso, da reicht die Hauptschule" - bayr. Redensart).

Insofern gibt es immer eine Güterabwägung bei diesem Interessenkonflikt - z.T. hat der Gesetzgeber entsprechende Regelungen getroffen, z.B. im BGB. Am §1631(2) lässt sich übrigens gut ablesen, wie Grundrechte der Kinder allmählich ihren Weg ins Gesetz gefunden haben:

- bis 1958: Der Vater kann kraft des Erziehungsrechts angemessene Zuchtmittel gegen das Kind anwenden

- ab 1980: Entwürdigende Erziehungsmaßnahmen sind unzulässig

- ab 1998: Entwürdigende Erziehungsmaßnahmen, insbesondere körperliche und seelische Mißhandlungen, sind unzulässig

- ab 2002: Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.

Auch die wirtschaftliche Gleichbeechtigung der Frau war - grundgesetzwidrig - bis 1958 nicht im BGB umgesetzt, sie durfte ohne Zustimmung kein eigenes Konto eröffnen. Und bis 2002 (!!!) stand noch in §1356 BGB: "Die Frau führt den Haushalt in eigener Verantwortung."

Zu den anderen Argumenten:

- medizinische Gründe wiegen nicht so schwer, dass die Zirkumzision zwingend im Knabenalter geschehen muss. Das kann und soll jeder selbst entscheiden, wenn er volljährig ist.

- Religionen haben keine Sonderrechte, die zur Einschränkung von Grundrechten ihrer Mitglieder ermächtigen.

- Tradition ist ebenfalls kein Argument: Folter gehört zur Menschheitsgeschichte ebenso wie Angriffskriege, beides ist heutzutage aus gutem Grund verboten - wenn auch erst seit kurzem (menschheitsgeschichtlich gesehen)

- das Abwandern in illegale oder verdeckte Praktiken zählt ebenfalls nicht: das war dem Staat bei §218 jahrzehntelang egal, wenn es um den Schutz von Embryonen ging - nun geht es um den Schutz von wehrlosen Menschen.

- zu jüdischen und muslimischen Vorschriften: das Schächten - zwingende religiöse Vorschrift - ist in Deutschland verboten. Sollen Tiere besser geschützt werden als Kleinkinder?

 

@ Entäuscht von den Behörden:

 

Und?

Was soll das den Juristen/ den Lesenden nun sagen?

Archaische Folklore, will auch niemand zerstören, es macht durchaus Sinn, gesellschaftliches Miteinander zu pflegen- keine Frage.

Aber warum geht das nicht auch mit der symbolischen Zerschneidung einer Gurke- sozusagen äquivalent zur Hostie?

Unsere Gesellschaft hat entschieden, welchen Weg sie gehen möchte. Sie hat sich entschieden für einen säkulären Staat mit gewissen Grundrechten, für die wir stehen möchten.

Diese stehen manchmal in Konflikt miteinander und es bedarf einer rechtlichen Abwägung der verschiedenen Interessen.

Das wurde getan!

Zu Gunsten der körperlichen Unversehrtheit des Kindes.

Niemand hindert irgend jemand daran, nun weiterhin seine gewohnten Feierlichkeiten zu begehen- nur das Opfer für diese ausgelassene Freude  darf jetzt kein Mensch mehr sein.

 

Gruß

Mike

5

Im Verfassungsblog hat sich Hans Michael Heinig, Prof. für Öffentliches Recht und Kirchenrecht geäußert. Er hält die Entscheidung für "juristisch und rechtsethisch fragwürdig". Zentrale Argumente: Man könne in der komplexen Gemengelage der kulturell-religiösen Traditionen nicht so einfach wie das LG Köln zwischen Elternrecht und Recht auf körperliche Unversehrtheit abwägen.

Das Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit ist zwar von hoher Bedeutung und der Staat tut gut daran, sich schützend davor zu stellen. Doch schließt das eine grundrechtliche Kollisionslage, die nach den üblichen Regeln des Rechtsgüterausgleichs aufzulösen ist, nicht per se aus. In der Abwägung der Rechtsgüter ist dann auch die relativ geringe Intensität der körperlichen Beeinträchtigung und die hohe Bedeutung für die religiöse Identitätsbegründung (zumindest im Judentum) in Rechnung zu stellen.

Aber auch das Argument, ein strafrechtliches Verbot dränge den Ritus in die (unkontrollierbare)  Illegalität wird von Heinig vorgebracht:

So stellt sich etwa die Frage, ob es sinnvoll ist, ausgerechnet den Arzt zu kriminalisieren, der die Beschneidung durchführt. Denn mit der Abdrängung solcher tradierten Praktiken in die Illegalität droht die Einschaltung von Pfuschern und damit sind echte Gesundheitsrisiken für die Kinder zu besorgen.

Man lese den ganzen Beitrag - hier.

 

Zu Hans Michael Heinig:

 

Die

"hohe Bedeutung für die religiöse Identitätsbegründung (zumindest im Judentum)"

ist ein interessanter Faktor. Hier fragt sich, ob man nun in der weiteren Rechtssprechung allein der tatsächlich tief in der jüdischen Religionszugehörigkeit verankerten Beschneidung Rechnung trägt

oder

auch mal nach Israel schaut, wie die dortige Gesellschaft mit der Frage umgeht:

Ronit Tamir glaubt, dass es in Israel schon Zehntausende „Rebellen“ gibt. Sie gehört zu den Gründerinnen von „Kahal“, einer israelischen Gruppe, die Eltern unterstützt, die sich mit dem Gedanken tragen, ihre Söhne nicht beschneiden zu lassen. Kahal wurde im Jahr 2000 gegründet und appelliert auf ihrer Internetseite an die Eltern: „Bildet euch selbst, bevor das Messer an eurem Kleinkind ansetzt!“ Alle zwei Monate treffen sich rund zwanzig Eltern. Wie sehr sie dabei an ein Tabu rühren, ist in der israelischen Presse zu beobachten. In einem ausführlicheren Artikel zu dem Thema wollten vor kurzem in der Zeitung „Haaretz“ die meisten Eltern nur mit ihrem Vornamen zitiert werden, um ihre Familien und ihre Söhne zu schützen. In Israel gibt es keine verlässlichen Zahlen, wie viele Juden sich zu diesem Schritt entschließen. Nach Schätzungen werden zwischen ein und zwei Prozent der Jungen nicht beschnitten. Eine informelle Umfrage des israelischen Elternportals „Mamy“ ergab im Jahr 2006, dass rund ein Drittel der Väter und Mütter am liebsten auf den Eingriff verzichten würden, sich aber – auch wegen des sozialen und familiären Drucks – letztlich dafür entschieden. Die israelische „Organisation gegen Genitalverstümmelung“ ging 1998 noch weiter als „Kahal“. Vergeblich versuchte sie, mit einer Petition vor dem Obersten Gericht, Beschneidungen für illegal erklären zu lassen. Nach Ansicht ihres Initiators handelt es sich dabei um eine Verletzung von Menschen- und Kinderrechten, die nicht weniger schlimm ist als die Genitalverstümmelung afrikanischer Mädchen.In Israel verfolgen nicht nur skeptische Eltern genau, was man im Ausland tut.

 

Entnommen der FAZ hier

5

@ Prof. Dr. Müller:

die "relativ geringe Intensität" der körperlichen "Beeinträchtigung" kennt Prof. Heinig bestimmt nicht aus eigener Erfahrung. Ansonsten würde er nicht so über das Abschneiden einer wesentlichen erogenen Zone urteilen. Würde er dasselbe auch über das Wegschneiden der kleinen Schamlippen von kleinen Mädchen sagen?

Die echten Gesundheitsrisiken haben in der Abtreibungsdiskussion  auch nie eine Rolle gespielt - jahrzehntelang wurde dieser Aspekt vernachlässigt, wenn es um die Gesundheit der Frauen in ihrer Notlage ging. Nun soll ausgerechnet dies als Argument herhalten? Das klingt wirklich extrem scheinheilig ...

Dazu kommt: das Urteil dient dazu, die "religiös-kulturelle Gemengelage" in den rechtsstatlichen Rahmen einzuordnen. Ein säkularer Rechtsstaat wie Deutschland muss wehrlose Individuen auch gegen die Grundrechte verletzende Traditionen schützen!

Von "geringe Intensität der körperlichen Beeinträchtigung" bei einem derart medizinisch nicht indizierten massiven körperlichen Eingriff kann nicht ersthaft die Rede sein und wäre wohl eher weltfremd, es handelt sich schliesslich nicht etwa um einen harmlosen kleinen Spritzeneinstich zur Gesundheitsvorsorge.

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Die Züchtigung von Kindern wurde in Deutschland und Europa auch jahrhundertelang aus u.a. "religiös motivierten Gründen" vorgenommen und mit "biblischen Geboten" untermauert. Gelegentlich wurde die Züchtigung auch mit  "psychologisch-hygienischen" Argumenten verteidigt.

Mit zunehmender Anerkennung der Kinderrechte als Menschenrechte hat man sich davon weitgehend abgewandt und hält die "gewaltfreie Erziehung" für allgemein möglich und geboten.

Ein nachfolgender "Züchtigungstourismus" von fundamental-christlichen Familien ist m.W. nicht bekannt geworden und war auch nicht Gegenstand einer kriminalpräventiven Erörterung.

Da die Züchtigung in der Regel (meist) keine dauerhaften körperlichen Folgen (aber schwerer justiziable seelische Folgen) hat, im Gegensatz zur Beschneidung eines wehrlosen Kleinkindes, ist es kaum verwunderlich wie das Gericht argumentiert - es ist eher verwunderlich, dass dies erst heute geschieht.

Letztlich zeigt sich im Urteil ein gewisser Optimismus, dass auch Religionen und Bräuche aus archaischen Weltbildern sich soweit transformieren können, dass ein Zusammenleben auf Grundlage unveräußerlicher Menschenrechte möglich ist - sogar für Kinder.

 

 

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Sehe ich es zu einfach? Die Religionsfreiheit aus Art. 4 I u. II. GG wird durch das Recht auf körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 II GG eingeschränkt, unabhängig vom Alter. Damit sollte doch alles gesagt sein.

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