Bundeskanzlerin Merkel hat sich nicht strafbar gemacht
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Mein Kollege Prof. Dr. Holm Putzke von der Uni Passau vertritt die Ansicht, die Bundeskanzlerin habe sich strafbar gemacht, als sie sich Anfang September mit Österreich darauf geeinigt habe, unter Umgehung des eigentlich vorgesehenen Grenzregimes in Europa/Schengenstaaten, Flüchtlinge in Deutschland in großer Zahl aufzunehmen. (Link: Holm Putzke, Ist die Bundeskanzlerin eine Schleuserin?)
Wie nicht anders zu erwarten hat er Beifall (teilweise von zweifelhafter Seite) und auch Kritik für seine Beurteilung geerntet.
Zwei Dinge vorangestellt:
1. Ich stimme Putzke zu, dass die Frage der Strafbarkeit nach §§ 95, 96 AufenthaltsG nur einhellig beantwortet werden kann: Nur wenn eine Person den Tatbestand der unerlaubten Einreise erfüllt, dann können diejenigen strafbar sein, die dieser Person bei der illegalen Einreise Hilfe leisten. Dies ist wohl auch die eigentliche Stoßrichtung der Analyse von Putzke: Er will klarstellen, dass es nicht angeht, immer noch "Schleuser" zu bestrafen (selbst solche, die dies aus rein humanitären Gründen tun), zugleich aber die Handlungen Merkels als strafrechtlich irrelevant anzusehen.
2. Ich stimme Putzkes Antwort, Frau Merkel habe sich wohl strafbar gemacht, nicht zu. Putzke hat das Pferd von der falschen Seite her aufgezäumt und dabei die Akzessorietätslehre missachtet. Die Strafbarkeit nach § 96 AufenthaltsG steht entgegen seiner Annahme in entscheidenden Punkten ("Passpflicht") eben doch zur Disposition der Exekutive, die von der Bundeskanzlerin angeführt wird. Um die Straflosigkeit zu begründen ist m.E. auch keine Änderung des AufenthaltsG erforderlich, wie Putzke annimmt.
Die Erfüllung des § 96 AufenthaltsG ist – wie ja auch Putzke betont – akzessorisch orientiert an der tatbestandlichen, vorsätzlichen und rechtswidrigen Erfüllung der „Haupttat“ des § 95 AufenthaltsG.
Dazu gehört die unerlaubte Einreise eines Ausländers nach § 14 Abs.1 Nr.1 AufenthaltsG. Dies setzt wiederum voraus, dass der Ausländer einen nach § 3 AufenthaltsG „erforderlichen Pass“ nicht besitzt.
Putzke prüft nicht, ob eine unerlaubte Einreise vorliegt – es genügt ihm vielmehr, dass Polizei und Staatsanwaltschaften einen Anfangsverdacht routinemäßig bejahen, ohne dass dabei die besondere Lage seit Anfang September überhaupt berückichtigt wird. Putzke verkennt dabei, dass das Aufenthaltsgesetz mit seiner Bestimmung der unerlaubten Einreise selbst wieder akzessorisch ist zu dem Pass- und Grenzregime, welches von der Exekutive gestaltet werden kann und wird.
Meines Erachtens spricht alles dafür, dass die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland infolge der von Merkel initiierten humanitären Handlungen gegenüber den in oder bei Ungarn bzw. auf dem Westbalkan feststeckenden Flüchtlingen schon objektiv tatbestandlich (ausnahmsweise) erlaubt war und ist. Aus dem Gesamtverhalten der Exekutive der Bundesrepublik ist erkennbar, dass in dieser gesonderten Situation auf Einreisedokumente verzichtet wurde, also § 3 AufenthaltsG („Passpflicht“) realiter ausgesetzt ist. Der objektive Tatbestand der unerlaubten Einreise hängt direkt an dieser Passpflicht. Diese ist etwa auch § 14 AufenthaltsVO ("Befreiung von der Passpflicht in Rettungsfällen") in Unglücks- und Katastrophenfällen ausgesetzt. Es handelt sich nach ganz verbreiteter Meinung derzeit in und um die Kriegsgebiete in Syrien, Irak und Afghanistan um Flüchtlingskatastrophen, die m. E. durchaus unter § 14 AufenthaltsVO subsumierbar sind, und bis an die deutsche Außengrenze reichen. Ob bei einer jedenfalls faktischen Aussetzung der Passpflicht die interpretatorischen Grenzen dieser Verordnung eingehalten wurden, kann einem Ausländer aber strafrechtlich ohnehin nicht vorgeworfen werden, wenn jedenfalls faktisch erkennbar beim Grenzübertritt seitens der deutschen Behörden auf Pässe bzw. andere Reisedokumente verzichtet wurde.
Zudem müssten, selbst wenn man annimmt, die unerlaubte Einreise bleibe unabhängig vom konkreten Verhalten der Exekutive objektiv unerlaubt, die vielfach von der Bahn im Auftrag der Bundes- bzw. Landesregierungen über die Grenze transportierten und willkommen geheißenen Flüchtlinge auch noch vorsätzlich und rechtswidrig unerlaubt eingereist sein. Nicht nur die objektiv tatbestandsmäßige, sondern auch die vorsätzliche Handlung ist Gegenstand der Akzessorietät.
Wer eingeladen ist, eine Wohnung zu betreten, der kann nicht wegen Hausfriedensbruch verfolgt werden. Wer vom deutschen Staat nicht nur eingeladen wird, sondern sogar von Personenbeförderungsunternehmen in dessen Auftrag über die Grenze transportiert wird, ohne dass ein Pass von ihm verlangt wird, der reist nicht unerlaubt ein, schon gar nicht tut er dies vorsätzlich. Strafanzeige und Strafverfolgung (auch wenn die Verfahren in den allermeisten Fällen ohne weiteren Ermittlungen eingestellt werden) stellen ein venire contra factum proprium dar.
Putzke prüft schließlich nicht, ob einreisende Flüchtlinge (wenn denn vorsätzlich unerlaubt) auch „rechtswidrig“ unerlaubt eingereist sind. Putzke spricht zwar § 34 StGB (Notstand) an, jedoch wendet er die Notstandsnorm nur auf das Verhalten der Bundeskanzlerin, nicht aber auf das Verhalten der Flüchtlinge selbst an. Bei diesen ist aber eine Rechtfertigung einer unerlaubten Einreise unter den im September und Oktober 2015 bestehenden Voraussetzungen sogar recht naheliegend, denn ihnen stand nicht zu Gebote, mit Ungarn oder anderen Drittstaaten Verhandlungen aufzunehmen.
Ergebnis: Beim Grenzübertritt der Flüchtlinge in Folge der derzeitigen Politik der Bundeskanzlerin handelt es sich nicht um unerlaubte Einreise im Sinne des § 14 AufenthaltsG. Es handelt sich in den meisten Fällen wohl weder um eine objektiv tatbestandsmäßige, noch um eine vorsätzliche, noch um eine rechtswidrige Handlung nach § 95 AufenthaltsG. Infolge dessen ist auch die Hilfe zu dieser Einreise kein tatbestandliches Handeln im Sinne des § 96 AufenthaltsG. Weder die Bundeskanzlerin noch andere, die Flüchtlingen bei Einreise und Aufenthalt behilflich sind, haben sich strafbar gemacht.
Ergänzung (13.10.2015, abends):
Holm Putzke hat reagiert auf seiner Website, hier.