Suizidprophylaxe oder Folter? Zum Fall Middelhoff
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Die Anwälte von Thomas Middelhoff haben vorgestern öffentlich beklagt, Herr Middelhoff sei als derzeitiger Untersuchungshäftling über mehrere Wochen hinweg mittels ständiger Sichtkontrollen tags und nachts am Schlaf gehindert worden und aufgrund dessen schwer erkrankt. (Bericht: Süddeutsche, Bericht Wirtschaftswoche vom Dezember 2014)
Die Vorsitzende des Rechtsausschusses des Bundestages, Renate Künast (Grüne), und andere Politiker haben bereits Stellung genommen. (Berliner Zeitung)
Die Praxis wird mit der Folter in Guantánamo und Abu Ghraib verglichen, oder mit Methoden der DDR-Staatssicherheit. In Law-Blogs ist ebenfalls von „Faktischer Folter“ die Rede. (law-blog) (blog der kanzlei hoenig)
Der Anstaltsleiter der JVA Essen, in der die Untersuchungshaft vollzogen wird, hat den Sachverhalt bestätigt: Herr Middelhoff sei als suizidgefährdet eingestuft worden, weshalb rund um die Uhr ca. alle 15 Minuten eine Kontrolle stattgefunden habe. Offenbar wurde dazu nachts auch das Licht eingeschaltet, um einen Suizidversuch Middelhoffs auszuschließen (Quelle: WDR)
Suizidprophylaxe ist in Haftanstalten, speziell bei erstmaliger Inhaftierung, unverzichtbar. Dazu gehört in der Praxis meist (auch in anderen Ländern) die besondere Überwachung von Gefangenen, bei denen anhand gewisser Merkmale ein erhöhtes Suizidrisiko angenommen wird (vgl. wikipedia: suicide watch). Diese Praxis – engmaschige zeitliche „Sichtkontrollen“ bzw. Lebendkontrollen“, nachts einhergehend mit Decken- oder Taschenlampenlicht – wird auch für andere Anstalten bestätigt. Auch Gustl Mollath hatte in der Unterbringung darunter zu leiden, dasselbe twittert Jörg Kachelmann von seiner U-Haft 2010 in Mannheim. Man geht davon aus, dass der Rückgang der Selbsttötungsrate in Vollzugsanstalten auch mit der systematischen Suizidprophylaxe zusammenhängt, die man in den vergangenen Jahrzehnten implementiert hat. Allerdings ist auch die Kritik an dem speziellen Überwachungsregime über (vermutet) Suizidgefährdete nicht abgerissen, denn diese Art Überwachung ist stark belastend (siehe auch schon mein früherer Beitrag zum Thema Suizid in der Haft).
Ein absichtliches viertelstündiges „Aufwecken“ des Überwachten ist für die Kontrolle nicht erforderlich und ist - schon nach wenigen Tagen - offensichtlich gesundheitsschädlich; solche Maßnahmen dürften eindeutig rechtswidrig sein. Dass dies im Fall Middelhoff geschehen sei, wird auch bestritten bzw. nicht bestätigt:
Berichte, wonach Beamte den Raum betreten hätten und Middelhoff während der Überwachung auch geweckt worden sei, wollte das Ministerium nicht bestätigen. Der Vorsitzende der Gewerkschaft Strafvollzug in NRW, Peter Brock, hält dies allerdings für so gut wie ausgeschlossen. "Um nachts eine Zelle zu öffnen, braucht man drei Justizbeamte, das ist Vorschrift. Der Aufwand ist viel zu groß." In einer Anstalt von der Größe der JVA Essen würden ständig zwischen 20 und 30 U-Häftlinge wegen Suizidgefahr überwacht. Middelhoff sei kein Ausnahmefall. In der Regel reiche auf Grund der Erfahrung der Beamten der Blick durch den Gucker in den erleuchteten Raum. (Quelle: Bericht in der "Welt")
Aber auch für jemanden, der bei solchen Kontrollen durch Licht oder Geräusche regelmäßig aufwacht, obwohl er nicht absichtlich geweckt wird, kann ein langfristiger gesundheitsschädlicher Schlafentzug die Folge sein, wie ihn jetzt die Verteidiger Middelhoffs beklagen. Zwar ist dies mit einem absichtlichen Schlafentzug als verbotene Vernehmungsmethode oder Folter nicht gleichzusetzen, kann aber auf den Betroffenen ganz entsprechende Auswirkungen haben.
Zudem wird von Insidern ein möglicher Missbrauch der Kategorisierung „suizidgefährdet“ zur Sanktionierung missliebiger Gefangener beklagt.
Es erscheint fraglich, ob eine effektive Überwachung nicht auch anders durchführbar ist. Denkbar wären modernere Überwachungstechniken (Kontrolle bei abgedimmtem Licht, Videoüberwachung, Kreislaufmonitor), die allerdings ihre eigenen Nachteile aufweisen können, vgl. Interview mit einem Gefängnispsychologen auf Zeit-Online.
Update (09.04.2015): Herr Garcia hat auf einen Artikel in der Zeit hingewiesen, demzufolge Frau Bennefeld-Kersten, eine ausgewiesene Expertin für Suizidprävention im Strafvollzug die Version der Anwälte in Frage stelle. Auch die Süddeutsche Zeitung meint jetzt, das Justizministerium widerspreche den Anwälten. Im Moment sehe ich keinen Anlass, aufgrund dieser Information meine Einschätzung des Falls zu ändern. Ich verweise auf meinen Kommentar unten (Kommentar #34).
Update (14.04.2015): Mich hat heute eine Presseerklärung der Verteidigung Herrn Middelhoffs (RAe Sven Thomas/Udo Wackernagel) erreicht. Der Sachverhalt wird darin so dargestellt:
Alle 15 Minuten sei bei jeder Kontrolle von Herrn Middelhoff ein Lebenszeichen erwartet worden ("Rufen", "Heben des Kopfes oder eines Armes"). In Einzelfällen sei der Haftraum betreten worden, wenn Herr Middelhoff kein Lebenszeichen gegeben habe. Im Regelfall sei er schon durch die ("taghelle") Neonbeleuchtung oder Geräusche beim Öffnen der Sichtluke geweckt worden. Der Mandant habe stundenlang wachgelegen oder sei in 15-minütigen Abständen geweckt worden. Man bleibe daher beim Vorwurf des massiven Schlafentzugs. Der Mandant habe keine Bemerkunegn gemacht, die auf eine Suizidgefahr hinwiesen, im Gegenteil habe er ausdrücklich darauf hingewiesen, dass man sich um ihn diesbezüglich keine Sorgen machen müsse. Die "angebliche" Erklärung von Frau Middelhoff datiere - "unabhängig davon, ob sie überhaupt erfolgte" - aus dem März 2015, sei also nicht Anlass für diese Maßnahmen gewesen.
Update (23.04.2015): Zum Fall Middelhoff ist nun eine Bericht des NRW-Justizministeriums veröffentlicht worden. Entscheidend für die Bewertung soll danach sein, dass weder Herr Middelhoff noch seine Verteidiger sich während der laufenden Maßnahme dagegen beschwert hätten. Im Übrigen entspreche die Maßnahme der Standard-Suizidprophylaxe, wie sie überall praktiziert werde und wogegen es - soweit dem Minister bekannt - bislang kaum Beschwerden gegeben habe.