Zurückhaltung bei der Anklageerhebung gegen Polizeibeamte - nicht nur in Ferguson, Missouri
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Die gravierenden Folgen der Entscheidung einer Grand Jury im Fall des von einem Polizisten erschossenen Michael Brown sind derzeit Medienevent Nr.1 in den USA. Nicht so sehr diese Ereignisse und auch nicht der konkrete Fall, sondern eine weiter gehende kriminologische Fragestellung, die auch für Deutschland Bedeutung hat, soll Gegenstand dieses Beitrags sein:
Das System der Strafverfolgung und Anklageerhebung in den USA unterscheidet sich gravierend vom deutschen Strafprozess und wird zudem noch von US-Bundesstaat zu Bundesstaat unterschiedlich gehandhabt. So wurde die Anklageerhebung in den USA einer Grand Jury überlassen, einer Laienjury, die nach Präsentation des Falls durch die Staatsanwaltschaft entscheidet – ein in Deutschland völlig unbekanntes Verfahren.
Schaut man die Statistik an, dann führt diese Verfahrensweise in fast allen Fällen zur Anklageerhebung – es ist statistisch äußerst selten, dass eine Grand Jury sich gegen die von der Staatsanwaltschaft präsentierte Anklage wendet und die gerichtliche Untersuchung eines Falls ablehnt. Grand Jurys auf Bundesebene klagen mit einer Wahrscheinlichkeit von 99,99 % an (Washington Post)
Es gibt offenbar eine große Ausnahme dieser Regelmäßigkeit: Dann, wenn Polizisten beschuldigt werden. Polizisten, die in Ausübung ihres Dienstes eine andere Person verletzt oder getötet haben, werden in den USA wesentlich seltener angeklagt als „Normalbürger“. (Houston Chronicle, Blog des Kriminologen Stinson)
Nun gibt es auch zu der Frage, warum diese (starke) Diskrepanz auftritt, zwischen der Anklagequote von „Normalbürgern“ und „Polizisten“ kriminologische Hypothesen.
Ben Casselman (Blog 538) meint:
Erstens könne es so sein, dass die Jury-Mitglieder mehr Vertrauen in die Polizei dahingehend haben, dass die Gewaltanwendung gerechtfertigt gewesen sei, sogar dann, wenn die Beweislage etwas anderes nahelegt. Zweitens könne eine staatsanwaltliche Befangenheit vorliegen, da Staatsanwälte auf gute Kooperation mit der Polizei angewiesen seien. Drittens könne es so sein, dass die Staatsanwaltschaft aufgrund des hohen Drucks in der Öffentlichkeit sich genötigt sehe, einen Fall vor die Grand Jury zu bringen, der eigentlich zu schwach für die Anklageerhebung sei.
Näheres über die Beweislage im Ferguson-Fall erfährt man hier in der New York Times
Wenn es um die Frage geht, ob Polizeibeamte, die wegen Körperverletzung im Amt beschuldigt werden, in der Strafverfolgung schonender behandelt werden, können ähnliche Vermutungen auch in Deutschland angeführt werden. Natürlich geht es in Deutschland anders als in den USA meist nicht um polizeilichen Schusswaffeneinsatz.
Vor einigen Jahren hatte ich schon einmal auf die statistische Diskrepanz hingewiesen zwischen der Strafverfolgung von Körperverletzungen von nicht beamteten Bürgern und von Körperverletzung im Amt.
Die Zahlen für 2008 hatte ich damals mitgeteilt.
Die Zahlen für 2012 sehen nicht viel anders aus:
Körperverletzung (§§ 223 – 231 StGB) 2012
464.000 Tatverdächtige nach PKS
ca. 118.000 Abgeurteilte nach StatBA (also ca. 25 % der TV)
ca. 80.000 Verurteilte nach StatBA (also ca. 67 % der Abgeurteilten)
ca. 7400 Freisprüche nach StatBA (also ca. 6,3 % der Abgeurteilten)
Körperverletzung im Amt (§ 340 StGB)
1992 Tatverdächtige nach PKS
67 Abgeurteilte (also ca. 3,4 % der TV)
25 Verurteilte (also ca. 37 % der Abgeurteilten)
14 Freisprüche (also ca. 21 % der Abgeurteilten)
Auch wenn man die vergleichsweise niedrige Anklagequote bei Beamten als Beschuldigte damit erklärt, dass es möglicherweise überproportional zu unberechtigten Anzeigen gegen Polizeibeamte kommt, dann bleibt die relativ niedrige Verurteilungsquote und die relativ hohe Freispruchquote erklärungsbedürftig; beide Werte beziehen sich ja auf Fälle, die die Staatsanwaltschaft für anklagerelevant gehalten hat.