Langfristige Kriminalitätsentwicklung - seit 20 Jahren immer weniger Straftaten in Deutschland
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Schon im April hat der Hamburger Kriminologe Birger Antholz eine Untersuchung der Kriminalitätsentwicklung in Deutschland von 1835/82 bis 2014 im Hell- und Dunkelfeld vorgelegt (in: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, 97 (2014), S.115 ff.).
Darin zeigt er anhand von Hellfelddaten, dass seit mehr als 150 Jahren jährlich unter 1 % der Bevölkerung strafrechtlich verurteilt werden. Diese Werte sind beinahe konstant (abgesehen von Besonderheiten wie Krieg und nur auf Delikte außerhalb des Straßenverkehrs bezogen).
Ganz anders haben sich die polizeilichen Hellfelddaten entwickelt. Die Tatverdächtigenzahl (ermittelte Tatverdächtige je 100.000 Einwohner) ist seit Mitte der 1930er Jahre bis Mitte der 1990er Jahre fast kontinuierlich, zwischen 1960 und 1980 sehr stark, angestiegen. 1993 war diese Zahl fast 12mal so hoch wie die der Verurteilten im selben Jahr, es wurden 8337 je 100.000 Einwohner einer Straftat polizeilich verdächtigt, aber nur 700 je 100.000 Einwohner wurden im selben Jahr verurteilt. Die fast konstant gebliebene Verurteilungszahl bei ansteigenden Tatverdächtigenzahlen zeigt wohl, dass die Strafverfolgung ihre Kapazitätsgrenze erreicht hat. Die Rechtspflege reagiert auf die ansteigenden Verdächtigtenzahlen v.a. mit einer höheren Quote von Verfahrenseinstellungen (§§ 153 ff. StPO, §§ 45, 47 JGG).
Seit 1993, dem Höhepunkt der Fallzahlen und Tatverdächtigenzahlen im polizeilichen Hellfeld, weisen die Statistiken rückläufige Tendenz auf. Dass der Rückgang um 12 % in der Polizeistatistik einer tatsächlichen Tendenz zu weniger Straftaten entspricht, zeigen Dunkelfelddaten der letzten 20 Jahre, insbesondere langjährig gleichartig durchgeführte Opfer- und Täterbefragungen, die Antholz zitiert (S. 122 ff.): Auch im Dunkelfeld markiert das Jahr 1993 einen Höhepunkt der Gesamt-Kriminalitätsbelastung. Seither sind die Dunkelfeldzahlen noch weitaus stärker rückläufig als die polizeiliche Hellfeldstatistik ausweist: In den vergangenen 20 Jahren sollen danach die Straftatenbegehungen um über 40 % zurückgegangen sein.
Antholz konstatiert jedoch in seinem Fazit, „dass der starke Kriminalitätsrückgang sich in den letzten Jahren etwas abflacht, was auf einen degressiven Verlauf hindeutet“ (S. 128).
Dieser Überblick bezieht sich auf das Gesamtbild der Kriminalität, das nach wie vor von Diebstählen und anderen Vermögensdelikten dominiert wird. Schwere Delikte, insbesondere Gewaltdelikte, stellen zahlenmäßig nur einen geringen Anteil der Gesamtkriminalität, sind aber qualitativ für die Kriminalitätslage wesentlich wichtiger. Ihre Entwicklung könnte, ohne dass das Gesamtbild davon berührt wäre, anders verlaufen sein, da diesbezüglich Dunkelfelddaten unzuverlässig sind. Immerhin gibt es wichtige Anzeichen für eine rückläufige Tendenz auch der Jugendgewaltdelinquenz (siehe schon meinen Beitrag aus dem Jahr 2010). Die Raufunfallstatistik der Unfallversicherer z.B. zeigt, dass sowohl Häufigkeit als auch Schwere der Gewalt an Schulen seit ca. 20 Jahren abnimmt. Dass Jugendliche, wie einige meinen, „immer brutaler“ zuschlagen sollen, ist eine Aussage, die den objektiven Daten nicht entspricht.