Tag sieben - Hauptverhandlung gegen Gustl Mollath
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Der gestrige Tag hatte – weit verbreitet – unter den Zuhörern und in der allgemeinen Öffentlichkeit für Irritationen gesorgt. Gustl Mollath, so hieß es, sei im Dezember 2013 mit einer Frau in Streit geraten, sei übergriffig geworden und verbal aggressiv, so jedenfalls die Darstellung, die dann in mollathkritischen Berichten verbreitet wurde. Natürlich war man heute gespannt, was die Recherche des Gerichts dazu ergeben hatte. In einem Wort: Nichts. Weder bei der Staatsanwaltschaft in Hannover noch bei der Polizei in Bad Pyrmont, wo sich der Vorfall auf einer Raststätte zugetragen haben soll, gab es Erkenntnisse oder Ermittlungen zu diesem (angeblichen) Vorfall. Etwas kleinlauter nun auch der Nebenklagevertreter: Er habe nicht behauptet, dass Straftaten begangen worden seien, er habe nur die Information in das Verfahren eingeben wollen. RA Strate sprach davon, dass mit dieser Information nicht einmal ein Strohfeuer entfacht worden sei.
Hauptthema der heutigen Hauptverhandlung war der Vorwurf, Mollath habe zwischen dem 31.12.2004 und dem 1.2.2005 an einer größeren Anzahl von Fahrzeugen und im Lager eines Gebrauchtwagenhandels Reifen zerstochen. Zum Hintergrund: Diese Reifenstechereien sollen damit einige Jahre nach den anderen Tatvorwürfen stattgefunden haben.
Für diese Taten war Gustl Mollath damals von der Polizei als Tatverdächtiger erfasst worden. Obwohl die Vorwürfe von der Staatsanwaltschaft zwischenzeitlich eingestellt worden waren (§ 154 StPO), erlangten sie im Nürnberger Verfahren 2006 zentrale Bedeutung. Der psychiatrische Gutachter hatte seinem Auftraggeber, dem RiAG E., signalisiert, dass die mittlerweile mehr als drei Jahre zurückliegenden Körperverletzungen gegen die Ehefrau nicht ausreichen würden, eine aktuelle Gefährlichkeitsprognose für Herrn Mollath zu erstellen. E. hatte daraufhin bei der Polizei angefragt, ob es weitere Vorwürfe gegen Gustl Mollath gebe und die polizeiliche Reifen-Akte gelangte zum Gutachter, der dann die Reifenstechereien als erwiesen und als Beleg für eine Allgemeingefährlichkeit Mollaths ansah.
Der damals mit der Aufklärung befasste Polizeibeamte G. wurde – wie schon 2006 in Nürnberg – heute in der Hauptverhandlung gehört. Reifenstechereien, so G. seien „tägliches Brot“. Meist blieben die Täter unbekannt. Auch die Reifenbeschädigungen in diesem Fall waren zunächst als „u. T.“ behandelt worden. Der entscheidende Hinweis kam dann von dem selbst betroffenen RA G. (inzwischen verstorben), der einen Brief von Mollath vorgelegt habe. In diesem Schreiben, heute in der Verhandlung verlesen, hatte Mollath Vorwürfe gegen eine Reihe von Personen erhoben, die mit seiner Frau bzw. mit dem von ihr betriebenen Scheidungsverfahren zu tun hatten. Die meisten dieser Personen wurden dann im Januar 2005 Opfer von Reifenstechereien. Dieser Zusammenhang erschien dem Polizeibeamten so naheliegend, dass er in der Folge von Mollath als Tatverdächtigem ausging. In der Tat kann man angesichts dieser Hinweise zu dem Verdacht kommen, Mollath habe die Reifen zerstochen. Um einen gerichtsfesten Fall zu bekommen, braucht man allerdings noch etwas mehr. Dieser Ansicht waren offenbar auch G. und sein Vorgesetzter W. Sie ließen deshalb eine Videokamera neben dem Anwesen eines betroffenen RA installieren. Und tatsächlich wurde in zwei Nächten ein Mann gefilmt, der sich in dunkler Kleidung an den Reifen eines Fahrzeugs zu schaffen machte. Eine Identifizierung war allerdings nicht möglich, auch wenn der Videofilm der Ex-Ehefrau Mollaths vorgeführt wurde. Bei einer Durchsuchung von Mollaths Haus fand man Kleidung (Mantel und Mütze), die der der Täterperson auf dem Video zumindest äußerlich entsprach.
Allerdings ergaben sich aus der weiteren Vernehmung des Polizeibeamten auch einige Fragwürdigkeiten in der Beweisführung: G. selbst hatte keinen der Reifen gesehen, denn zu ihm gelangten nur die bereits von Streifenpolizisten gefertigten Anzeigen. Wie die Beschädigungen ausgeführt wurden, ist heute nicht mehr ermittelbar: Offenbar wurden die Stiche mit unterschiedlichen Werkzeugen ausgeführt. Keiner der Reifen war asserviert worden, nicht einmal Fotos von den Beschädigungen wurden gemacht (die seien damals noch zu teuer gewesen, meinte G. – in offenkundiger Verkennung der Verbreitung der Digitalfotografie im Jahr 2005). Ob die Videosequenzen tatsächlich Reifenbeschädigungen zeigten, blieb offen: Wie ich hier schon zuvor berichtet habe, wurde das Video an einem Tag aufgenommen, an dem gar keine der angeklagten Taten stattfand. Das Video selbst ist heute nicht mehr vorhanden, lediglich ein paar Screenshots von mittelmäßiger Qualität wurden heute am Richtertisch mehrfach angeschaut. Ob die Person mit der linken oder rechten Hand zustach, und ob sie eine Brille trug, ist nicht zu erkennen.
Insgesamt wurde damit heute die Beweiswürdigung des LG Nürnberg im Urteil vom August 2006 geradezu vernichtet – kaum etwas von dem, was das Gericht damals ins Urteil schrieb, trifft nach der heutigen Beweisaufnahme zu. Die meisten Reifenschäden wurden vor der Fahrt von den Betroffenen entdeckt, nur bei drei der Vorfälle, sämtlich von RA G. erlebt, wurde der Druckverlust erst bei einer Autobahnfahrt entdeckt. Im Urteil steht, sie seien meist erst während der Fahrt entdeckt worden. Wie die Reifen beschädigt wurden, wurde in Nürnberg gar nicht aufgeklärt; bei vielen der Reifenschäden die von der Polizei beschrieben wurden, deutet sich als "Tatwaffe" eher ein Messer an. Im Nürnberger Urteil heißt es hingegen, sie seien alle in derselben Art und Weise und zwar in irgendeiner "sachverständigen" Form (vom ehemaligen Reifenhändler Mollath) mit einem dünnen spitzen Gegenstand beschädigt worden. Auch wurde in Nürnberg weder das Video gezeigt, noch wurde Frau M. dazu im Gerichtssaal vernommen (obwohl anwesend!).
Zweifel wurden zudem durch weitere freimütige und glaubhafte Mitteilungen des Polizeibeamten G. geweckt: Offenbar taten RA G. und der heutige Ehemann der Ex-Frau Mollaths einiges dafür, den Polizeibeamten auf die aus ihrer Sicht richtige Spur zu setzen und auch dort zu halten. „Herr RA G. hat gesagt, das könnte Mollath sein. Das war der erste Hinweis“; „Herr M. hat mich angerufen, er hat auf Mollath hingezielt“; „Herr RA G. wusste, dass wir die Videos machen“; „Die Geschädigten waren alle befreundet. Die kannten sich jedenfalls. Die haben sich untereinander abgesprochen“; „Frau M. und Herr M. waren zusammen auf der Dienststelle. Er hat schon einwirken wollen“; „Er war einige Male auf dem Revier, zweimal oder dreimal und hat sie begleitet. Er hat den Hinweis auf Lunkenbein gegeben.“
Weitere Zeugen am heutigen Tage konnten sich an ihre vor fast zehn Jahren zerstochenen Reifen kaum erinnern, zwei der unmittelbar ermittelnden Polizeibeamten ebenfalls nicht. Es ist ihnen nicht vorzuwerfen.
Ein anderer Polizeibeamter berichtete von der Festnahme Gustl Mollaths in dessen Haus im Februar 2005. Mollath sollte damals auf Anordnung des Richters E. zur Beobachtung untergebracht werden. Die Festnahmesituation wurde vom Polizeibeamten noch relativ gut erinnert. Zur „Eigensicherung“ auf der engen Treppe habe man Mollath, der laut geschimpft habe, in Handschellen vom Dachboden direkt in den Streifenwagen gebracht. Ebenfalls gut erinnern konnte sich Herr Mollath selbst an die von ihm demütigend empfundene Situation, wie sich aus seinen Fragen an den Beamten ergab. Dazu, ob ihm in der Haftzelle zunächst Wasser verweigert worden war, konnte der Beamte allerdings nichts sagen. Man spürte in dieser Befragung deutlich Mollaths emotionale Betroffenheit, auch wenn er seine Fragen – wie schon an den vergangenen Tagen – sachlich und besonnen vortrug.
Am morgigen Tag sollen noch mehr Betroffene und Polizeibeamte zu den Reifenstechereien gehört werden. Das Gericht hofft wohl weiter auf konkretere Erinnerungen.
PS.: Dies ist eine Zusammenfassung des siebten Tages nach meinen Eindrücken. Für weitere Details der Aussagen kann ich beispielsweise auf die Berichterstattung der Mittelbayerischen Zeitung verweisen.