Der Innenminister und die Videoüberwachung
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Eigentlich war es um das das Thema "Videoüberwachung im öffentlichen Raum" ruhig geworden. Einerseits ist die Verbreitung privat betriebener Videoüberwachung ohnehin so weit fortgeschritten, dass ein weiterer Ausbau kaum ins Gewicht fällt, andererseits hat das BVerfG gesetzliche Grundlagen gefordert und damit zumindest vor eine flächendeckende öffentliche Überwachung gewisse Hürden gestellt (BVerfG vom 23.02.2007- 1 BvR 2368/06 -).
Bundesinnenminister Friedrich hat nun den Anschlag auf den Bostoner Marathon zum Anlass genommen, einen weiteren Ausbau der öffentlichen Videoüberwachung zu fordern. Etwas näher begründet hat er dies in einem Interview mit Spiegel Online. Auch in den USA wird diese Debatte geführt:
Ich hatte mich aus kriminologischer Sicht vor elf Jahren geäußert, also zu einem Zeitpunkt, an dem schon viele Erfahrungen und Evaluationsstudien aus Großbritannien vorlagen, in Deutschland aber erst einige Pilotprojekte in Gang gesetzt worden waren („Zur Kriminologie der Videoüberwachung" in der Monatsschrift für Kriminologie 2002, S. 33 ff.). Damals – mein Aufsatz war schon vor den Anschlägen vom 11. September geschrieben – konzentrierte sich die Betrachtung auf Straßenkriminalität (Diebstahl, Raub, Körperverletzungen, KfZ-bezogene Delinquenz). Die kriminologische Bilanz der Wirkungen – einmal abgesehen von den schwierigen methodischen Fragen der Wirkungsmessung – fiel nicht besonders positiv aus: Wegen der rationalen Ausweichmöglichkeiten und der geringen Erfolgsträchtigkeit nachgelagerter Aufklärung verspricht Videoüberwachung eher nur magere Präventions- und Repressionseffekte, auch eine Steigerung des Sicherheitsgefühls der Bevölkerung ist nicht nachhaltig zu erzielen. Mein Fazit war daher, dass Videoüberwachung aus kriminologischer Sicht nur Sinn macht an Plätzen mit ortsfesten Deliktsgelegenheiten – etwa Parkplätze, Fußgängertunnels, Verbindungswege bei öffentlichen Verkehrsmitteln etc. mit messbar erhöhter Straftatenbegehungfrequenz.
Muss man aus kriminologischer Sicht die obigen Erkenntnisse nun revidieren?
Im Interview mit Spiegel Online sagt Innenminister Friedrich (in Kursivschrift, darunter jeweils mein Kommentar):
Die Attentäter in Boston sind über die Videoaufnahmen relativ schnell entdeckt worden.
Das lässt sich nicht bestreiten. Doch ob es öffentliche oder private Kameras waren, deren Aufzeichnungen dann verbreitet wurden, um die Täter zu identifizieren, ist mir nicht bekannt..
Bilder und Videosequenzen sind also hierbei entscheidend.
Sie „waren“ tatsächlich entscheidend in diesem Fall, um die Täter relativ schnell zu identifizieren.
Das können Bilder von Überwachungskameras oder Handy-Videos und Aufnahmen von Bürgern am Tatort sein. Nur wenn wir diese Elemente schnell miteinander verknüpfen, werden wir Täter erkennen und - wie in Boston geschehen - von weiteren Taten abhalten.
Die Kameras haben den Anschlag selbst nicht verhindern können und auch nicht, dass ein Polizist zwei Tage später erschossen wurde. Aber wenn man davon ausgeht, dass die Täter weitere Anschläge planten, dann trifft diese Aussage zu.
Die Videoüberwachung ist also ein geeignetes Instrument zur Aufklärung und Verhinderung weiterer Anschläge. Deshalb sollten wir sie auch in Deutschland stärker einsetzen. Das basiert auf langjähriger polizeilicher Erfahrung und sollte eigentlich keine parteipolitische Frage mehr sein.
Worauf stützt sich die „langjährige polizeiliche Erfahrung“? Sie beruht sicherlich nicht auf Anschlägen vom Typ „Boston“, also begangen von nicht maskierten und zugleich nicht suizid-geneigten Tätern. Solche Anschläge hat es in Deutschland bislang nicht gegeben. Auch weltweit sind solche Anschläge, bei denen Videoüberwachung bei der Täteridentifizierung helfen würde, bislang sehr selten. Der Innenminister schließt hier vom Einzelfall, in dem die Überwachung geeignet war, auf eine generelle Geeignetheit und Erforderlichkeit der öffentlichen Videoüberwachung.
Wenn wir zum Beispiel den Täter nach dem ersten Mal verhaften, kann er kein zweites oder drittes Mal zuschlagen. Allein das ist schon ein Erfolg.
Das ist richtig, aber wie oft ist mit solchen Fällen zu rechnen?
Zudem können wir Planungen für Anschläge durch Kameras im Vorfeld aufklären.
Ich frage mich, in welchen Fällen das geht.
Ich bleibe dabei: Die Videoüberwachung, wohlgemerkt als Teil einer komplexen Sicherheitsstrategie, ist ein wichtiges Mittel für uns.
Dass die Polizei, wenn Kameras (nahezu) überall im öffentlichen Raum installiert sind, in vielen Fällen Ansatzpunkte für Ermittlungen bei allen möglichen Straftaten findet, trifft wohl zu. Diese Wirkung setzt voraus, dass die Gesellschaft akzeptiert, dass weite Teile des öffentlichen Raums überwacht werden und die Aufzeichnungen für eine gewisse Zeit auf Vorrat gespeichert bleiben. Dann wird die polizeiliche Ermittlungstätigkeit - in vielen Deliktsbereichen - unterstützt. Ob unsere Gesellschaft dieses Modell - man nenne es einmal das "englische Modell" - will, ist eine politische Frage. Eine Prävention gerade terroristischer Anschläge wird allerdings wohl auf Einzelfälle beschränkt bleiben. Boston ist ein eher untypischer Fall von Terrorismus.