Wenn der Staat zum Täter wird - Bemerkungen zur ARD-Reportage: "Unschuldig in Haft"
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Die eben gesendete Reportage (ARD-Mediathek) zu den beiden Fällen "Arnold" und "Montgazon" - beides Fälle von horrenden Justizirrtümern, hat außergewöhnlich beeindruckt durch ihr ruhiges und sachliches Format (ohne Hintergrundmusik, ohne dramatische Schnitte), da gerade damit der Schrecken präsent wird. Da ich die Fälle kannte (hier ein Beitrag zum Fall "Montagzon"), war mein Schrecken nicht mehr so sehr Reaktion auf die Information, dass diese Fälle passiert sind. Eher darüber, wie ungerührt die Justiz offenbar agiert und wie wenig man sich auch nach einem solchen Fall bemüht, die eigenen Fehler zu begreifen, um sie künftig zu vermeiden. Ein Fehlermanagement ist der Strafjustiz in Deutschland absolut fremd und deswegen kommt es immer wieder dazu, dass Unschuldige lange Zeit im Strafvollzug verbringen: Im Fall Arnold waren es fünf Jahre. Fehlurteile stellen natürlich nicht die Mehrheit der Urteile, aber sie kommen oft genug vor, um Fehlerdiskussionen und baldige Abhilfe zu motivieren.
Im Fall Arnold: Der ermittelnde Beamte wird nicht angehört? Dass keinerlei Indizien die Aussage der Anzeigeerstatterin stützen, macht nicht hellhörig?
Im Fall Montgazon: Das Gericht fragt nicht mal nach dem Motiv der Angeklagten? Glaubt der - wissenschaftlich fragwürdigen - Spiritusthese von LKA-Brandsachverständigen bei Nichtbeachtung von Gegengutachten. So kann das LKA-Berlin gleich mehrere Fehlurteile auslösen, bevor man an diesen Giutachtern zu zweifeln beginnt.
In anderen Fällen: Man stellt sich stur, solange bis der öffentliche Druck zu hoch ist, oder man per Zufall eine Leiche findet.
Was kann helfen gegen Justizirrtum? Die geschulte eigene Infragestellung? Das Nachfragen, Nachhaken, statt zu schnell der eigenen Überzeugung nachzugeben? Ist das nicht selbstverständlich in der Rolle eines Strafrichters? Einer ganzen Kammer von Strafrichtern?
Einige Vorschläge, die vielleicht nicht in diesen beiden Fällen, aber in vielen anderen Fehlurteile verhindert haben könnten, liegen seit Jahren auf dem Tisch: Tonbandaufnahmen von Vernehmungen, Wortprotokolle in der LG-Hauptverhandlung, die zweite Tatsacheninstanz auch (und gerade!) bei schweren Tatvorwürfen.
Oft würde es schon helfen, wenn sich die beteiligten Justizorgane (und manchmal auch die Verteidiger) ihrer Aufgaben besinnen würden: Das Verfahrensrecht einzuhalten. Und zwar umso minutiöser, je schwerer Tatvorwurf und mögliche Rechtsfolge wiegen.
Und das zweite Thema der Reportage - die geringe Haftentschädigung nach staatlicher Freiheitsberaubung - ist seit Jahren ein Skandal. Das Argument des hessischen Justizministers (immerhin mutig genug sich der Kamera zu stellen) ist einfach armselig: Weil man ohnehin die verlorene Zeit nicht "entschädigen" könne, sei eine Entschädigung von 25 Euro/Tag "symbolisch" OK. Symbol wofür? Dass es dem Staat ziemlich egal ist, was mit seinen Opfern passiert?