Kriminalstatistik als Argument gegen Vorratsdatenspeicherung? Ein glatter Fehlschlag!
Gespeichert von Prof. Dr. Henning Ernst Müller am
Die Frage, ob und inwieweit Internetsurfdaten auf Vorrat gespeichert werden dürfen, um ggf. später zur Aufklärung von Straftaten zu dienen, ist weiterhin auch innerhalb der Bundesregierung umstritten. Nun hat der AK Vorratsdatenspeicherung eine Untersuchung veröffentlicht, die an der polizeilichen Kriminalstatistik nachweisen soll, dass die Vorratsdatenspeicherung (VDS) nicht die von der Polizei behauptete positive Wirkung bei polizeilichen Ermittlungen habe; Zitat:
Eine heute vom Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung veröffentlichte Analyse der einschlägigen Tatbestände der polizeilichen Kriminalstatistik des Bundeskriminalamts offenbart nun, dass die Vorratsdatenspeicherung, solange sie in Kraft war, die Aufklärung schwerer Straftaten nicht verbesserte. So registrierte die Polizei in der Zeit der Vorratsdatenspeicherung mehr schwere Straftaten (2009: 1.422.968) als zuvor (2007: 1.359.102), die zudem seltener aufgeklärt wurden (2009: 76.3%) als noch vor Beginn der anlasslosen Kommunikationsprotokollierung (2007: 77.6%). Als 2009 auch Internetdaten auf Vorrat gespeichert werden mussten, stieg die Zahl der registrierten Internetstraftaten von 167.451 im Jahr 2008 auf 206.909 im Jahr 2009 stark an, während die Aufklärungsrate bei Internetstraftaten von 79,8% im Jahr 2008 auf 75,7% im Jahr 2009 zurückging (Quelle).
Die Ergebnisse dieser Untersuchung sind hier veröffentlicht, die Details eigenartigerweise aber nur in englischer Fassung (hier). In der Szene (z. B. hier und hier und hier) werden die Ergebnisse als Argument gegen die VDS verbreitet.
Kernaussage ist also: Während der Zeit, in der die VDS in Deutschland existierte (2008 und 2009), lasse sich aus der Statistik weder ein Rückgang der Anzahl der betreffenden Delikte (gemeint ist der Katalog aus § 100a StPO, das sind die Tatbestände, bei denen die Überwachung der Telekommuniktaion zulässig ist) noch ein Ansteigen der Aufklärungsquote bei diesen Delikten ablesen. Das gleiche gelte auch für die Gruppe der Internetdelikte. Ergo: die VDS sei bestenfalls unnütz, möglicherweise sogar würden dadurch mehr Delikte begangen und weniger aufgeklärt.
Auch Befürworter der VDS führen die Kriminalstatistik gelegentlich ins Feld, um zu belegen, wie wichtig die VDS sei. Insofern ist verständlich, dass sich der AK VDS ebenfalls hier umschaut, um sozusagen die Polizei mit ihren eigenen Argumenten zu schlagen.
Indes: Man hätte seitens des AK VDS lieber die Finger davon gelassen, denn die Polizeiliche Kriminalstatistik ist erstens denkbar ungeeignet, Argumente für die eine oder andere Seite zu liefern und zweitens hat sich der AK VDS auch noch derart gravierende Fehler in seiner Untersuchung geleistet, dass er sich - wenn die fehlerhafte Darstellung nicht sogar Absicht gewesen ist - zumindest schämen sollte. Wer sich mit Kriminalstatistik auskennt, dem fällt zunächst die sehr hohe Anzahl von Delikten auf, die der AK VDS als angeblich "schwere Delikte" (= Katalogdelikte aus § 100a StPO) aufführt. 1,4 Millionen im Jahr 2009, das erschien mir auf den ersten Blick unrealistisch hoch (mehr dazu unten).
Warum ist die PKS keine gute Quelle für solche "Untersuchungen"?
1. Die Polizeiliche Kriminalstatistik gibt keineswegs "die wahre Deliktsanzahl" wieder. Sie ist in den allermeisten Fäleln eine Anzeigestatistik, d.h. in ihr werden zu ca. 90 % Delikte gezählt, die Bürger angezeigt haben. daneben gibt es ein sowohl jährlich als auch von Delikt zu Delikt stark schwankendes Dunkelfeld, also Delikte, die der Polizei nicht bekannt werden. Die Gründe, weshalb die Deliktsanzahl in der PKS steigt oder fällt, sind vielfältig, sie hängen nur zu einem geringeren Anteil damit zusammen, wie viele Delikte tatsächlich begangen werden (siehe schon hier). Die VDS hat mit diesem Auf und Ab so gut wie nichts zu tun; sie ist - mit großer Sicherheit - nur ein sehr kleiner Faktor.
2. Eine über mehrere ganz unterschiedliche Deliktsgruppen gemittelte Aufklärungsquote ist so gut wie aussagefrei. Warum? Weil bei einigen Delikten regelmäßig der Tatverdächtige bei Anzeigeerstattung mitgeliefert wird, d.h. das Delikt wird überhaupt nur der Polizei bekannt, wenn der Anzeigeerstatter auch einen Tatverdächtigen kennt. Andere Delikte werden typischerweise auch angezeigt, wenn kein Tatverdächtiger bekannt ist. Mittelt man nun die Anzeigequote, profitiert die Aufklärungsquote insgesamt von der Anzahl der Delikte, in denen der Tatverdächtige bei Anzeigeerstattung bereits feststeht. Dies sind oft Delikte mit hohem Dunkelfeld. Steigt die Aufklärungsquote gewinnt der Bürger dadurch den Eindruck, die Polizei mache bessere Arbeit, aber in Wirklichkeit ist vielleicht nur der Anteil einer bestimmten Deliktsgruppe gestiegen. Ob die Aufklärungsquote steigt oder nicht, sagt deshalb über die Effizienz der Ermittlungstätigkeit der Polizei wenig, über die Effizienz der VDS überhaupt nichts aus. Man wird weder anhand dieser Quote sagen können, die VDS sei gut noch kann man sie deswegen als ineffizient verwerfen.
3. Die Effizienz der VDS könnte man nur messen, wenn man in einen Vergleich ausschließlich solche Delikte einbezieht, bei denen die VDS überhaupt theoretisch eine Rolle spielen kann, also Delikte, bei denen der Täter der Aufklärung dienende "Spuren" im Internet hinterlassen hat bzw. haben könnte. Das sind wahrscheinlich von der Anzahl her (noch) nicht sehr viel Delikte. Andererseits bedeutet dies nicht, dass man ohne VDS solche Straftaten gar nicht aufklären kann. Die Polizei wird argumentieren, dass jede Ermittlungserleichterung ihren Wert haben kann. Und auch schwere Einzeldelikte spielen eine große Rolle. Solche Daten sind in der PKS nicht enthalten. Um die Effizienz oder Ineffizienz der VDS zu erforschen, bedürfte es einer eigenen kriminologischen Untersuchung.
Leider sind dem AK Vorratsdatenspeicherung auch noch schwerwiegende und vermeidbare Fehler bei der Aufbereitung der Statistik unterlaufen:
1. Beim größten Posten, nämlich dem Betrug (in der Statistik des AK VDS sind das allein 2/3 der Fälle!), werden schlicht alle Betrugstaten mitgezählt, nämlich über 950.000 im Jahr 2009 - darunter über 200.000 Leistungserschleichungen!, also Schwarzfahrten. Der Katalog von § 100a StPO erlaubt den Zugriff auf Telekommunikationsdaten aber nur bei qualifizierten - also schweren - Betrugsfällen, die nur eine kleine Minderheit aller anzeigten Betrugsdelikte darstellen.
2. Beim zweitgrößten Posten, den Freiheitsdelikten (203.000 Delikte in 2009!), enthält der Katalog in § 100a StPO ebenfalls nur einige schwere Tatbestände. Der AK VDS hat hier einfach sämtliche einfache Nötigungen und Bedrohungen (nach §§ 240, 241 StGB) zusätzlich mitgezählt. Diese beiden Normen machen dann 80 % der Gesamtanzahl dieser Deliktsgruppe aus! (166.000 von 203.000 in 2009)
3. Beim drittgrößten Posten, nämlich dem Bandendiebstahl, hat der AK VDS statt den Absätzen 1 und 2 des § 244 StGB (bei denen nach § 100a StPO die Überwachung erlaubt ist), den Abs.3 herangezogen - das ist der Wohnungseinbruchsdiebstahl! Dieser macht 113.000 Fälle/2009 aus.
Allein durch diese gravierenden Fehler ist die Zahl der vom AK VDS einbezogenen Delikte mit 1,4 Millionen sehr viel höher als die Zahl der Delikte, in der der Polizei ein Zugriff auf gespeicherte Daten erlaubt wäre.
Mein Fazit: Hier haben sich Leute mit der Kriminalstatistik beschäftigt, die leider weder über hinreichende Erfahrung noch über Sachverstand verfügen, um eine solche Untersuchung durchzuführen.
Ich bin kein Befürworter der VDS, doch sollte man sich hüten, fehlerhafte Argumente in dieser Debatte anzuführen. Das kann nach hinten losgehen, weil man sich unglaubwürdig macht.
Bei der VDS-Debatte sollten vielmehr andere Argumente im Vordergrund stehen (vgl. z.B. hier).