OLG Naumburg: A l l u m f a s s e n d e Akteneinsicht!!!
Gespeichert von Carsten Krumm am
Überschlägt sich jetzt die Rechtsprechung zur Akteneinsicht? Das war mein erster Gedanke, als ich im Blog von Herrn Burhoff OLG Naumburg, Beschl. v. 05.11.2012 - 2 Ss (Bz) 100/12 fand. Auszugsweise lautet der Beschluss:
Die Rechtsbeschwerde hat mit der Verfahrensrüge Erfolg. Die Betroffene hat in ihrer Rechtsbeschwerde eine Versagung des rechtlichen Gehörs dargelegt (§ 79 Abs. 3 OWiG i.V.m. § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO). Dies führt zur Aufhebung der Entscheidung und Verweisung an eine andere Abteilung des Amtsgerichts. Der Senat will hiermit — entgegen seiner sonstigen Praxis — vermeiden, dass derselbe Amtsrichter noch einmal mit der Sache befasst ist (§ 79 Abs. 3, Abs. 6 OWiG i. V. m. § 354 Abs. 2 StPO).
Das Amtsgericht hat die Verteidigung der Betroffenen durch die Nichtbescheidung des Antrages des Verteidigers auf Aussetzung des Verfahrens (§ 228 Abs. 1 StPO) in einem für die Entscheidung wesentlichen Punkt unzulässig beschränkt (§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG 1. V. m. § 338 Nr. 8 StPO) und hiermit gleichzeitig das Recht auf ein faires Verfahren aus Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzt.
Der Verteidiger der Betroffenen hat in der mündlichen Verhandlung einen Antrag auf Aussetzung des Verfahrens gestellt, den er mit einer vorherigen unzureichenden Gewährung von Akteneinsicht (§ 147 Abs. 1 StPO) begründet hat. So sei ihm insbesondere keine ausreichende Einsicht in die Bedienungsanleitung des Geschwindigkeitsmessgerätes gewährt worden. Diesen Antrag hat der Richter im Bußgeldverfahren vor Urteilsverkündung nicht beschieden, was beim Einzelrichter einer Ablehnung durch Gerichtsbeschluss gleichzustellen ist (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 55. Auflage 2012, § 229 Rdn. 17 mit Hinweis auf § 338 Rdn. 60).
Die Betroffene hat mit ihrer Rechtsbeschwerdebegründung im Weiteren dargelegt, dass ihrem Verteidiger im gerichtlichen Verfahren (und auch im Verwaltungsverfahren vor der Bußgeldbehörde) keine ausreichende Einsicht in die Bedienungsanleitung des Geschwindigkeitsmessgerätes gewährt worden ist. Das Amtsgericht führt hierzu im Urteil aus: „Der Verteidiger hat im Bußgeldverfahren keinen Anspruch auf Einsicht in die Bedienungsanleitung (Amtsgericht Detmold, Beschluss vom 04.02.2012, Az.: 4 OWi 989/11). Die zahlreichen von dem Verteidiger dem Messbeamten gestellten Fragen zeigen im Übrigen, dass die Stellung sachgerechter Fragen auch ohne Kenntnis der Bedienungsanleitung möglich ist."
Dies ist nicht frei von Rechtsfehlern. Der Verteidiger hat im Rahmen eines Bußgeldverfahrens, das eine Geschwindigkeitsüberschreitung zum Gegenstand hat, das Recht auf Akteneinsicht in alle Unterlagen, die auch dem Sachverständigen zur Verfügung gestellt werden (vgl. LG Ellwangen, Beschl. v. 14.12.2009 — 1 Qs 166/09 —; AG Gelnhausen, Beschl. v. 14.09.2012 — 44 OWi 2945 Js 1351/10; AG Verden, Beschl. v. 23.08.2010 — 9 b OWi 764/10 — jeweils zitiert nach juris; eine Rechtsprechungsübersicht findet sich in Burhoff, Dauerbrenner: (Akten-)Einsicht in Messunterlagen im OWi-Verfahren in VRR, 250 f.). Dies folgt schon aus dem Gesichtspunkt der Gewährleistung eines fairen Verfahrens (Art. 6 EMRK), der Stellung des Rechtsanwalts als unabhängiges Organ der der Rechtspflege (§ 1 BRAO) und dem Grundsatz der Aktenvollständigkeit (vgl. LG Ellwangen, VRR 2011, 117). Nur wenn dem Verteidiger alle Unterlagen zur Verfügung stehen, die auch dem Sachverständigen zugänglich sind, ist es ihm möglich, das Sachverständigengutachten auf seine Richtigkeit zu überprüfen. Darüber hinaus wäre ohne Akteneinsicht im geschilderten Umfang zwischen Betroffenem und der Ermittlungsbehörde keine Waffengleichheit gegeben, wenn die Ermittlungsbehörde einen Wissensvorsprung dadurch erlangt, dass sie maßgebliche Unterlagen zurückhält und dem Betroffenen deren Kenntnisnahme verweigert. Es ist nicht ausreichend, den Verteidiger auf allgemein zugängliche Sekundärliteratur zu verweisen, in denen die Funktions- und Bedienweise von Geschwindigkeitsmessgeräten erklärt wird.
Die Betroffene hat durch die Rechtsbeschwerdebegründung im Weiteren hinreichend dargelegt, dass durch die nicht vollständig gewährte Akteneinsicht ihr Recht auf Verteidigung in unzulässiger Weise beschränkt worden ist (§ 338 Nr. 8 StPO).
Ihr Verteidiger führt hierzu zutreffend in der Rechtsbeschwerdebegründung aus: „Wenn das Gericht in seiner Urteilsbegründung ausführt, dass „die Stellung sachgerechter Fragen auch ohne Kenntnis der Bedienungsanleitung möglich ist", verkennt es, dass der Verteidiger und die Betroffene ohne Kenntnis der Bedienungsanleitung zum einen nicht überprüfen können, ob und inwieweit die Beantwortung zur Bedienungsanleitung und den technischen Grundlagen des Messgerätes gestellter Fragen zutreffend erfolgte. Zum anderen ergeben sich aus dem Inhalt der Bedienungsanleitung auch erst Fragen und Probleme, die es in der Hauptverhandlung oder ggf. durch ein Sachverständigengutachten zu klären gilt, von denen aber weder Verteidiger noch Beteiligter ohne gewährte Einsicht Kenntnis haben."
Ich bin ja eigentlich Freund weitgehender Akteneinsichtsrechte. Muss man aber nicht die Kirche im Dorf lassen? Warum tatsächlich in OWi-Sachen mit eingeschränkter Amtsermittlungspflicht die Akteneinsicht alle Unterlagen betreffen soll, die auch ein Sachverständiger bekommt, obwohl diese Unterlagen sich vielleicht noch nicht einmal bei der Verwaltungsbehörde befinden, ist mir nicht mehr ganz nachvollziehbar. Vielleicht will das OLG Naumburg aber auch gar nicht so weit gehen - es ging ja scheinbar vor allem um die Bedienungsanleitung als für die Verteidigung "maßgebliche Unterlage".
Man kann nur hoffen, dass andere OLGe jetzt auch dazu einmal ausführlich Stellung beziehen...