Nettolohn von 3,25 Euro sittenwidrig
Gespeichert von Prof. Dr. Christian Rolfs am
Ein Nettolohn von 3,25 Euro kann sittenwidrig (§ 138 BGB) sein. Das hat der Fünfte Senat des BAG mit Urteil vom 22.4.2009 (5 AZR 436/08) entschieden. Geklagt hatte eine Frau, die seit 1992 in dem Gartenbaubetrieb des Beklagten bei Hamburg als ungelernte Hilfskraft beschäftigt war. Sie erhielt einen Stundenlohn von 6,00 DM netto, ab 1. Januar 2002 3,25 Euro netto. Die Parteien sind nicht tarifgebunden. Mit ihrer Klage verlangt die Klägerin für die Zeit von Dezember 1999 bis Mai 2002 unter dem Gesichtspunkt des Lohnwuchers eine Nachzahlung von knapp 37.000 Euro auf der Basis der tariflichen Vergütung. Der tarifliche Stundenlohn betrug insoweit zwischen 14,77 DM brutto und 7,84 Euro brutto. Die Klägerin arbeitete monatlich bis zu 352 Stunden.
Das Arbeits- und das Landesarbeitsgericht Hamburg hatten die Klage abgewiesen, weil der Klägerin neben dem Barlohn noch Sachbezüge gewährt worden waren. Unter Berücksichtigung des Werts dieser Sachbezüge sei die Vergütung nicht als sittenwidrig zu bezeichnen. Dem ist das BAG nicht gefolgt: Auch unter Einbeziehung der Sachbezüge betrug die gezahlte Stundenvergütung im Klagezeitraum weniger als 2/3 der tariflichen Stundenvergütung. Die Gesamtumstände, insbesondere die gesetzwidrig hohen und zudem unregelmäßigen Arbeitszeiten verdeutlichten die Ausbeutung der Klägerin. Allerdings hat das Landesarbeitsgericht weder die Üblichkeit des Lohns in den Gartenbaubetrieben der Region noch die Kenntnis des Beklagten vom Missverhältnis der beiderseitigen Leistungen ausdrücklich festgestellt. Das BAG hat das Urteil des LAG daher lediglich aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.
Das Urteil ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert:
Erstens stellt das BAG in seiner Pressemitteilung allein auf den Netto-, nicht aber den Bruttolohn ab. Wenn sich dies auch in den Entscheidungsgründen so wiederfände, wäre dies ein erheblicher Bruch mit der bisherigen Rechtsprechung, die - zutreffend - auf das Bruttoentgelt als die vom Arbeitgeber geschuldete Gegenleistung abgehoben hat. Die Entwicklung der Steuern und Sozialabgaben liegt demgegenüber außerhalb der Verantwortungssphäre der Parteien. Auf den Nettolohn kommt es daher für die Sittenwidrigkeit nicht an.
Zweitens legt sich das Gericht offenbar auf die sog. 2/3-Grenze fest. Eine Lohnabrede ist danach in der Regel sittenwidrig, wenn das Einkommen des Arbeitnehmers weniger als zwei Drittel des Tariflohns bzw. des ortsüblichen Entgelts für vergleichbare Beschäftigte beträgt. Dies entspricht einem Urteil des BGH in Strafsachen (Urt. vom 22. 4. 1997 - 1 StR 701/96, BGHSt 43, 53, 59 ff.). Eine bei Abschluss des Arbeitsvertrags nicht zu beanstandende Vergütung kann danach durch die Entwicklung des Tariflohns wucherisch werden. Allerdings hatte das BAG bislang betont, dass auch andere Grenzwerte zur Konkretisierung des § 138 BGB in Betracht gezogen werden müssten. Insbesondere hat das Gericht auf die Rechtsprechung des BGH zur Sittenwidrigkeit von Ratenkreditverträgen hingewiesen. Hier besteht ein auffälliges Missverhältnis dann, wenn der Vertragszins den Marktzins um das Doppelte oder mindestens 12 Prozentpunkte übersteigt. Bei Zugrundelegung dieser Maßstäbe wäre erst ein vereinbarter Arbeitslohn in Höhe von weniger als der Hälfte des Tariflohns als sittenwidrig zu beanstanden, wobei allerdings auch die absolute Höhe des Entgelts Berücksichtigung finden müsste (Urt. vom 24. 3. 2004 - 5 AZR 303/03, NZA 2004, 971, 972 f.).
Drittens weist der Fünfte Senat zu Recht darauf hin, dass für die Beurteilung der Sittenwidrigkeit - insbesondere im Rahmen von § 138 Abs. 2 BGB - auch die sonstigen Umstände des Arbeitsverhältnisses Berücksichtigung finden müssen. Namentlich der massive Verstoß gegen das Arbeitszeitrecht (Beschäftigung der Klägerin im Umfang von bis zu 352 Stunden im Monat = mehr als 80 Wochenstunden) spricht in Verbindung mit dem geringen Arbeitslohn für Wucher.