Der Einbürgerungstest – ist das alles so richtig?

von Prof. Dr. Thomas Hoeren, veröffentlicht am 27.09.2008

Als die Fragen für den Einbürgerungstest veröffentlicht wurden, hat es auch mich gereizt, die mehr als 300 Fragen einmal zu beantworten. Wäre ich eingebürgert worden? Wie groß ist mein Wissen über Deutschland? Also machte ich mich an die Arbeit. Zunächst schien vieles einfach, manchmal banal beantwortet werden zu können. Doch allmählich kam ich ins Grübeln.

Einzelne Fragen hatten es „in sich“, waren nicht mit einer einfachen Antwort zu klären. In den Fragen 6 und 11 wird eruiert, wie die deutsche Verfassung heiße. Richtige Antwort soll sein: Grundgesetz. Streng genommen hat Deutschland aber keine Verfassung. Dies ergibt sich sich aus Art. 146 GG, wonach das Grundgesetz mit dem Erlass einer Verfassung (eine vom Volk selbst gegebene verbindliche Grundordnung) außer Kraft tritt. Bedenklicher ist die Fragestellung 12: Hiernach soll die Pressefreiheit ein Grundrecht sein und deshalb nicht parlamentarisch nicht abgeschafft werden können. Diese Lösung beruht auf einer falschen Leseweise des Art. 79 Abs. 3 GG. Dieser erklärt Änderungen des Grundgesetzes u.a. für unzulässig, wenn die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden. Oft wird das „und“ zwischen Art. 1 und 20 als „bis“ gelesen, was die Artikel 1 bis 20 GG einer Änderung entziehen würde. Tatsächlich erstreckt sich die Ewigkeitsgarantie nur auf Art. 1 „und“ 20 GG. Zwar gibt es berechtigte Stimmen, die gerade Meinungs- und Pressefreiheit als „fundamentale Demokratienormen“ einer Änderung ausnehmen. Die pauschalierte Begründung, dass eine Änderung oder Abschaffung unmöglich ist, da die Pressefreiheit ein Grundrecht darstellt, ist aber nicht haltbar und schlicht falsch.

Ebenso fragwürdig ist Frage 42, wonach in Deutschland ein neues Gesetz nur das Parlament beschließen kann. In Bezug auf formelle Gesetze ist dies selbstredend auch die einzig richtige Antwort. Allerdings kann die Exekutive (z.B. die Regierung) Rechtsverordnungen (aufgrund von Ermächtigungsgesetzen nach Art. 80 GG) erlassen, welche begrifflich auch materielle Gesetze darstellen. Aber auch Frage 80 hat es in sich: „Welches Gericht in Deutschland ist zuständig für die Auslegung des Grundgesetzes?“ Die richtige Antwort soll wohl sein: Das Bundesverfassungsgericht. Aber auch das ist zumindest fragwürdig. Denn alle Gerichte sind gehalten, sich an der Auslegung des Grundgesetzes zu beteiligen, etwa im Rahmen der verfassungskonformen Auslegung oder bei der mittelbaren Drittwirkung von Grundrechten. Ferner obliegt den ordentlichen Gerichten im Rahmen von Art. 100 GG die konkrete Normenkontrolle, aufgrund derer sie ihrer Ansicht nach verfassungswidrige Gesetze dem Bundesverfassungsgericht zur Prüfung vorlegen. Art. 123 GG gibt den Fachgerichten auch die alleinige Zuständigkeit für die verfassungsrechtliche Überprüfung vorkonstitutionellem Rechts.

Andere Fragen waren schlichtweg falsch gestellt. Nehmen wir Frage 258: „Was darf das Jugendamt in Deutschland?“ Als richtige Antworten schieden aus: „Das Jugendamt entscheidet, welche Schule das Kind besucht.“ Oder „Das Jugendamt bezahlt das Kindergeld an die Eltern“. Offensichtlich als einzig richtige Antwort war gedacht: „Das Jugendamt kann ein Kind, das geschlagen wird oder hungern muss, aus der Familie nehmen.“ Das ist aber unzutreffend: Das Jugendamt hat nicht die Befugnis, ein Kind aus der Familie zu nehmen. Darüber entscheidet grundsätzlich nach § 1666 BGB das Familiengericht. Daneben kann sich das Jugendamt zwar noch auf § 42 SGB VIII und die dortigen Regeln zur Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen berufen. Nach § 42 Abs. 5 SGB VIII sind freiheitsentziehende Maßnahmen des Jugendamtes jedoch nur zulässig, wenn und soweit sie erforderlich sind, um eine Gefahr für Leib oder Leben des Kindes oder des Jugendlichen oder eine Gefahr für Leib oder Leben Dritter abzuwenden. Die Freiheitsentziehung ist nach dieser Vorschrift ohne gerichtliche Entscheidung spätestens mit Ablauf des Tages nach ihrem Beginn zu beenden. Denn das primäre Zugriffsrecht für solche Maßnahmen muß schon aus rechtsstaatlichen Gründen beim Familiengericht liegen. Irritierend ist, dass die Antwort d) nicht richtig sein soll. Die Verfasser des Einbürgerungstests gehen davon aus, dass das Jugendamt nicht den Kindergartenbesuch kontrolliert. In Deutschland gibt es zwar keine Kindergartenpflicht, so dass es dem Jugendamt nicht obliegt, zu kontrollieren, ob die Eltern ihr Kind in einen Kindergarten schicken. Es können sich aber Kontroll- und Eingriffsrechte des Jugendamtes ergeben, wenn aus dem Nichtbesuchen des Kindergartens eine Kindeswohlgefährdung durch Vernachlässigung oder stundenlanges Alleinlassen der Kinder erwächst.

Der Spitzenreiter bei den Fehlern findet sich in Frage 283: „Was tun Sie, wenn Sie eine falsche Rechnung von einer deutschen Behörde bekommen?“ Richtige Antwort nach Willen der Verfasser: „Ich lege Widerspruch bei der Behörde ein.“ In Nordrhein-Westfalen wurde durch das Bürokratieabbaugesetz II § 6 AG VwGO dahingehend geändert, dass ein Vorverfahren grundsätzlich nicht mehr erforderlich ist. Insofern gibt es gegen Kostenbescheide keine Möglichkeit eines Widerspruchs mehr. Hier muß man direkt per Anfechtungsklage vorgehen. Gerade die Tatsache, dass neben 30 aus den 300 Fragen beantwortet müssen und daneben noch landesspezifische Fragen zu beantworten sind, zeigt, dass diese landesspezifische Eigenheit bedeutsam ist. Die pauschale Begründung, dass ein Widerspruch erforderlich sei, ist auf jeden Fall unzutreffend.

Ermattet setzte ich mich im Stuhl zurück und dachte nach. Welches Bild will man hier eigentlich den Neubürgern über Deutschland vermitteln: Jugendämter, die ohne richterliche Kontrolle Kinder in Gewahrsam nehmen. Eine Verfassung, die eigentlich nur ein „Grundgesetz“ ist und über deren Reichweite nur das Bundesverfassungsgericht entscheidet. Ein Widerspruch bei Kostenbescheiden, den es in einzelnen Bundesländern nicht mehr gibt. Grundrechte, die man sämtlichst nie parlamentarisch aufheben darf. Was würde geschehen, wenn ein Neubürger tatsächlich ins Grübeln kommt und die Fragen „falsch“ =“richtig“ beantwortet? Müsste ihm anraten, nach dem Prinzip der Psychotests in Frauenzeitschriften nicht nach der Wahrheit zufragen, sondern sich vorstellen, was ein unwissender Ministerialer sich beim Abfassen des Einbürgerungstests als richtige Antwort gedacht haben mag? Und so jemanden lassen wir durchfallen?

(Langfassung eines Textes aus der FAZ vom 25. September 2008, Rubrik "Staat und Recht")

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12 Kommentare

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"Ebenso fragwürdig ist Frage 42, wonach in Deutschland ein neues Gesetz nur das Parlament beschließen kann. In Bezug auf formelle Gesetze ist dies selbstredend auch die einzig richtige Antwort. Allerdings kann die Exekutive (zB die Regierung) Rechtsverordnungen (aufgrund von Ermächtigungsgesetzen nach Art. 80 GG) erlassen, welche begrifflich auch materielle Gesetze darstellen."

Richtig. Aber auch das Grundgesetz ist im materiellen Sinne eine Verfassung, obgleich es nicht so heißt.

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Also werden sich nun RAe darauf spezialisieren, verpatzte Einbürgerungstests gerichtlich anzugreifen? Immerhin sind hier ja wirklich handfeste Fehler drin!

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Nach meiner Kenntnis wird heute das Grundgesetz als Verfassung der BRD angesehen. Mit Abschluss des Zwei-plus-Vier-Vertrages hat die BRD ihre Souveränität im notwendigen Umfang zurück erlangt, sich eine Verfassung zu geben. Man hat sich dann gegen eine neue Verfassung entschieden, so dass das GG nunmehr als deutsche Verfassung gilt.

Ich habe den Test vor längerer Zeit selbst einmal in Auszügen gemacht und auch mir sind mehrere Fehler und Doppeldeutigkeiten aufgefallen. Der Einbürgerungskandidat lernt, dass die Juristerei in Deutschland ein schwieriges Geschäft ist... ;)

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Zweifel am Verfassungscharakter des Grundgesetzes ist mir nur aus der ganz rechten Ecke bekannt, wo damit der Bundesrepublik Deutschland die staatliche Legitimität abgesprochen werden soll. Herr Hören, Sie sind da nicht in guter Gesellschaft.

Jeder Zweifel daran ist albern: "Verfassung" ist ein Begriff aus dem Staatsrecht, und bezeichnet die Norm in der die Staatsorgane, ihre Kompetenzen und ihr Zusammenspiel geregelt sind. Es ist unzweifelhaft, dass das Grundgesetz dies tut und daher die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland ist.

Die Verfassung trägt lediglich einen speziellen Namen: "Grundgesetz". Damit soll, so wollte es der parlamentatrische Rat, der provisorische Charakter verdeutlicht werden.

Art 146 GG normiert lediglich, dass diese Verfassung (mit dem Namen Grundgesetz) außer Kraft tritt, wenn eine neue Verfassung beschlossen wird. Das ist zwar selbstverständlich, sollte aber zur Abrundung noch mal ausdrücklich festgestellt werden.

Ergänzend sei darauf verwiesen, dass die Königreiche der Niederlande und Belgiens ihre Verfassung "Grondwet" nennen. Das bedeutet wörtlich übersetzt ebenfalls Grundgesetz.

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Ich persönlich fand die Frage schön, wen man auf Verlangen in die Wohnung lassen muss. Die richtige Antwort sollte wohl sein: Den Vermieter, da die anderen Antwortmöglichkeiten (Postbote, Arbeitgeber, Nachbarn) noch unsinniger waren. Die Frage suggeriert, dass der Vermieter die Wohnung jederzeit betreten darf. Da wird den potentiellen Neubürgern ja ein schönes Bild vermittelt...

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Frage 15 ist übrigens auch nett: Was verbietet das deutsche Grundgesetz?
Militärdienst, Zwangsarbeit, freie Berufswahl oder Arbeit im Ausland?
Die Frage kann ich wirklich nicht beantworten. Ich nehme mal an, mit "Militärdienst" ist die Mitgliedschaft in dem Verein gemeint, der sich Bundeswehr schimpft. Das ist ja anerkanntermaßen erlaubt. Freie Berufswahl und Arbeit im Ausland sind definitiv auch nicht verboten. Bliebe die Zwangsarbeit. Die ist aber gemäß Art. 12 III GG unter bestimmten Umständen ausdrücklich erlaubt.

Frage 40 behandelt die Frage, mit welchen Worten die deutsche Nationalhymne anfängt und macht den Vorschlag: "Einigkeit und Recht und Freiheit". Das ist umstritten, zwar wird bei offiziellen Anlässen nur die dritte Strophe gesungen, allerdings ist nicht ganz klar, ob nicht alle drei Strophen zur Hymne gehören (BVerfG 81, 298ff.).

Hmm... Langsam bekomme ich Spaß an dem Test ;)

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Ich denke die Fragen kann jeder Mensch mit durchschnittlichen Kenntnissen und einer allgemeiner Lebenserfahrung bezüglich der gesellschaftlichen Lebensverhältnisse in diesem Land sowie üblicher Lagen des Alltaglebens beantworten. Die Fragen sind auch so konzepiert. Es stimmt zwar, dass auch viele Deutsche Bürger mit den Fragen nichts anfangen können. Für die sind die Tests auch nicht gemacht worden. Insbesondere sind sie auch nicht aus der Sicht eines Juristen zu beantworten, weil bei den Juristen ist es ohnehin alles umstritten. Zwei Juristen - drei Meinungen! :-)

Dass, laut Test die richtige Antwort bezüglich der Befugnisse des Jugendamtes die Wegnahme des Kindes lautet, mag juristisch gesehen nicht ganz oder sogar falsch sein. Es ändert aber nichts daran, dass es aus der Leiensicht gerade der Fall ist und rechtlich gesehen ist es auch nicht verkehrt. Das Jugendamt ist dann auf jeden Fall die erste und die letzte Berührungsstelle für die betroffenen Bürger.

Bin selber ein Ausländer und mag die Idee des Tests und die Fragen an sich sehr. Dennoch vermisse ich bei den Tests Fragen über die deutsche Kultur und Traditionen. Für den Anfang auf jeden Fall eine sehr gute Idee.

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@A. Part:

Welchen Sinn hat ein Text, wenn er nur Antwortmöglichkeiten gibt, die objektiv gesehen falsch sind oder mehrere Anwortmöglichkeiten, die objektiv betrachtet richtig sind, aber jeweils eine Antwort (nicht mehr, nicht weniger) angekreuzt werden MUSS? Was der Laie sich denkt ist schlichtweg irrelevant, weil es auf die objektive Richtigkeit ankommt. Wenn ich jemanden frage, wann eine Tötung als "Mord" zu klassifizieren ist und drei total abwegige Lösungsvorschläge vorgebe sowie den Lösungsvorschlag "Wenn die Tötung geplant ist" ist das auch nicht richtig, nur weil sich diese Vorstellung beharrlich festgesetzt hat.

Wenn der Staat schon einen Test erstellt hat er gefälligst auch richtige Lösungen vorzugeben. Wenn er das nicht schafft soll er es bleiben lassen. Schließlich sollen mit dem Test keine falschen Vorstellungen verstärkt werden sondern es soll geprüft werden, ob der Einbürgerungswillige für die Einbürgerung ausreichende Kenntnisse über Deutschland besitzt.

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@McDough:

Ich bin mir Ihrer Aussage einverstanden! Im Ergebnis scheit es, dass von Einbürgerungswilligen etwas abverlangt wird, was man selber noch nicht richtig kann.

Grüße,

A. Part

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