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Der ‚Mangold’-Beschluss: Schont das BVerfG den EuGH?

kubiciel

2010-09-03 14:30

Gestern erreichte mich eine Email von Remo Caponi, Professor an der Universität Florenz. Angehängt war ein (in italienischer Sprache verfasster) Beitrag, dessen Inhalt Professor Caponi in der deutschen Betreffzeile zusammenfasste: „Nach dem ‚Mangold’-Beschluss bleibt vom ‚Lissabon’-Urteil nur noch die Europarechtsfreundlichkeit übrig“.

In den bisherigen, in Zeitungen wiedergegebenen Stellungnahmen ist die Entscheidung überwiegend so gedeutet worden, dass das BVerfG nach seinen starken Worten in der Lissabon-Entscheidung offenbar die Angst vor der eigenen Courage gepackt habe. Tatsächlich scheint es, als hätten die Karlsruher Richter nach der von ihrer „Lissabon“-Entscheidung ausgelösten Unruhe nicht sofort „nachlegen“ wollen. Das „Lissabon“-Urteil, so ließe sich sagen, soll zunächst als Warnschuss genügt haben und man wolle nun erst einmal abwarten, wie die Europäischen Institutionen mit ihren Kompetenzen verfahren.

 Insbesondere die strafrechtlichen Kompetenzvorschriften des AUEV sind vom BVerfG in der „Lissabon“-Entscheidung deutlich eingeschränkt worden. Es fragt sich also, ob diese Einschränkungen der strafrechtlichen Harmonisierungskomptenzen mit „Mangold“ hinfällig geworden sind. Ich möchte die Frage mit einem Nein beantworten.

 Im Kern besagt der „Mangold“-Beschluss, dass die Ultra-vires-Kontrolle – wie schon im Lissabon-Urteil festgestellt wurde – nur europarechtsfreundlich ausgeübt werden dürfe. Diese Kontrolle komme deshalb nur in Betracht, wenn ein Kompetenzverstoß der europäischen Organe und Einrichtungen „hinreichend qualifiziert“ sei. Dies setze voraus, dass das Handeln der Unionsgewalt „offensichtlich kompetenzwidrig“ sei und der angegriffene Akt im Kompetenzgefüge zwischen Mitgliedstaaten und Europäischer Union zu einer „strukturell bedeutsamen Verschiebung“ zulasten der Mitgliedstaaten führe (Rz. 67).

Diese Sätze sind, wie die meisten normativen Sätze, auslegungsfähig und auslegungsbedürftig. Was eine „bedeutsame Verschiebung“ ist und wann „offensichtlich kompetenzwidrig“ gehandelt wird, lässt sich weder aus dem GG noch aus dem AEUV eindeutig ableiten. Dass es sich beim Strafrecht um eine bedeutsame und für das Verhältnis zwischen Staat und Bürger schlechterdings existenzielle Materie handelt, hat das BVerfG in seiner Lissabon-Entscheidung deutlich gemacht. Eine Verlagerung der Strafrechtssetzungskompetenz von der staatlichen auf die überstaatliche Ebene ist daher nicht die Regel, sondern die Ausnahme. Daran ist nach dem „Mangold“-Beschluss nichts zurückzunehmen. Anders als eher technische Regeln des Gewerbe-, Umweltschutz-, Arbeits- und Wirtschaftsrechts berührt das Strafrecht das Kompetenzverhältnis zwischen Mitgliedsstaat und Europäischer Union also in einem „bedeutsamen“ Ausmaß. „Offensichtlich kompetenzwidrig“ ginge die Europäische Union meines Erachtens vor, wenn sie exzessiven Gebrauch von der Annexkompentenz machte, die das BVerfG ohnehin nur mit knapper Not für zulässig erachtet und unter sehr enge Anwendungsvoraussetzungen gestellt hat. Auch breitflächige Harmonisierungsmaßnahmen in den von Art. 83 I AEUV genannten Kriminalitätsfeldern ohne hinreichende Begründung ihrer tatsächlichen Notwendigkeit könnten einen solchen Verstoß begründen.

 Dem BVerfG ist also auch nach Mangold eine Zügelung der europäischen Institutionen möglich. Ob das BVerfG sich dieser Möglichkeit auch bedient, wird von der weiteren Arbeit der EU abhängen. Wenn in Brüssel die Signale aus Karlsruhe so verstanden würden, man könne „nach Mangold“ weiter in einem Umfang Kompetenzen an sich ziehen wie „vor Lissabon“, dürfte der nächste Warnschuss des BVerfG nicht lange auf sich warten lassen.

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